Eine sozialistische Perspektive auf die Präsidenten- und Parlamentswahlen am 14. Mai Wahlen in der Türkei

Politik

Am 14. Mai 2023 werden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden.

Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu vom Oppositionsblock Millet Alliance an einer Pressekonferenz am 11. März 2023.
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Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu vom Oppositionsblock Millet Alliance an einer Pressekonferenz am 11. März 2023. Foto: Orhan Erkılıç (VOA) (PD)

9. Mai 2023
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Ob die 20-jährige Herrschaft der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) zu Ende gehen wird, ist schwer vorherzusagen. Obwohl Umfragen darauf hindeuten, dass der Oppositionsblock Millet Alliance und ihr Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu vorne liegen, ist dies kein unüberbrückbarer Abstand. Einigen Umfragen zufolge wird keiner der beiden Kandidaten 50 Prozent erreichen und die Präsidentschaftswahlen werden in eine zweite Runde gehen. Diese würde am 28. Mai durchgeführt werden.

Das Regime in der Türkei wird in der Politikwissenschaft zumeist als ein „kompetitives autoritäres Regime“ beschrieben. Das bedeutet: Es wird angenommen, dass noch die Möglichkeit besteht, mit Wahlen die Regierung abzulösen – wenn auch unter sehr schwierigen Bedingungen. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage ist die Hoffnung vieler Menschen in der Türkei gross, dass die kommenden Wahlen eine Veränderung bringen werden. Die meisten Oppositionellen in der Türkei begreifen diese Wahlen als den letzten Ausweg oder sogar als einen Kampf um Leben und Tod. Die Sozialisten hingegen beteiligen sich aus einem anderen Blickwinkel an den Wahldebatten. Für sie sind die Wahlen am 14. Mai weder die letzte Chance noch ist das Parlament die letzte Bastion der Demokratie. Werfen wir einen Blick darauf, welche Art von Debatten ausserhalb des politischen Mainstreams geführt werden.

DER EINFLUSS DER „DEMOKRATISCHEN PARTEI DER VÖLKER“ (HDP)

Selahattin Demirtaş, der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, befindet sich seit November 2016 im Gefängnis. Die kurdische Bewegung spricht davon, dass er als Geisel festgehalten wird. Er hielt vor den Parlamentswahlen 2015 die folgende, als historisch angesehene Rede, welche auch heute noch grossen Einfluss hat:

„Herr Recep Tayyip Erdoğan, solange die HDP existiert, solange HDP-Mitglieder in diesem Land atmen, werden Sie nicht Präsident werden. Herr Recep Tayyip Erdoğan, wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen. Wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen. Wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen.“

Selahattin Demirtaş' Versprechen „Wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen“ konnte zunächst erreicht werden: Die AKP erhielt bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 nur 40,7 Prozent der Stimmen und erreichte damit nicht die 276 Sitze, die für eine Regierungsbildung im Alleingang erforderlich gewesen wären. Dieser Sieg wäre für die AKP von entscheidender Bedeutung gewesen, um ihren Plan zur Einführung eines Präsidialsystems, das das Parlament weitgehend aushebelt, durchzusetzen.

Das Linksbündnis, das sich unter dem Dach der HDP zusammengeschlossen hatte, erzielte einen bedeutenden Erfolg. Mit 13,1 Prozent der Stimmen wurde die 10-Prozent-Hürde locker übersprungen. Die HDP bediente sich einer inklusiven Sprache, die viele verschiedene Positionen und Identitäten in ihren Wahlkampf einbezog. Obwohl die HDP wiederholt Angriffen von rechts ausgesetzt war, hielt die Partei an einer sehr erfolgreichen positiven, friedlichen und optimistischen Kampagne fest. Darüber hinaus konnte die HDP von den Nachwirkungen des Gezi-Widerstandes im Jahr 2013 profitieren: Die Praktiken des sozialen Kampfes, die in verschiedenen Formen bis 2016 fortgesetzt wurden, hatten die Legitimität der Regierung tief erschüttert und dazu beigetragen, dass junge Wähler zur Linken wechselten.

Heute ist die HDP die drittgrösste politische Partei im Parlament und organisiert eine sehr starke Opposition zur AKP. Sie hat angekündigt, den Präsidentschaftskandidaten Kılıçdaroğlu der CHP zu unterstützen und hat selbst keinen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt. Sie tritt für die Parlamentswahlen auf der Liste der „Grünen-Linken“ an, um einem etwaigen Verbot der HDP durch das Verfassungsgericht zu entgehen. Die HDP und andere linke und sozialistische Gruppen haben sich zum „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ zusammengeschlossen.

VON DER ZUSTIMMUNG ZUM ZWANG: WAHLEN IM SCHATTEN DER STAATLICHEN GEWALT

Als diejenige politische Partei, die am stärksten aus den Wahlen hervorgegangen war, versuchte die AKP, eine Regierung zu bilden, doch die Koalitionsgespräche scheiterten. Daraufhin beschloss Präsident Erdoğan, am 1. November 2015 Neuwahlen abzuhalten. Bei diesen Wahlen errang die AKP mit 317 Parlamentssitze die absolute Mehrheit und konnte ohne Koalitionspartner eine Regierung bilden. Der Stimmenanteil der HDP sank auf 10,7 Prozent. Der AKP gelang es, Stimmen von MHP, CHP und von kurdischen Wählern zurückzugewinnen, die an die HDP gegangen waren. Die Frage, wie es dazu kam, ist auch eine wichtige Frage für die Wahlen am 14. Mai.

Die AKP war entschlossen, den linken Aufwind im Lande zu zerstören, um die verlorenen Stimmen zurückzugewinnen. Der Druck auf linke Organisationen und die HDP wurde von staatlicher Seite verstärkt und die Situation im Land war zunehmend von Gewalt geprägt. Die Türkei erlebte in dieser Zeit zwei der grössten Massaker ihrer Geschichte. Am 20. Juli 2015 wurden bei einem Bombenanschlag auf eine Demonstration im Bezirk Suruç in Urfa, nahe der syrischen Grenze, 33 junge Menschen getötet, von denen die meisten Mitglieder der Föderation der sozialistischen Jugendverbände (SGDF) waren. Es ist bekannt, dass der Anschlag vom „Islamischen Staat“ (IS) verübt wurde, doch die genaueren Umstände sind bis heute nicht geklärt.

Während noch immer darüber diskutiert wurde, wie der IS so leicht Anschläge innerhalb der Grenzen der Türkei verüben kann und wieso der staatliche Geheimdienst dies nicht verhindern konnte, fand am 10. Oktober 2015 ein weiterer Bombenanschlag statt. Diesmal traf es eine Friedensdemonstration in Ankara. Bei diesem Anschlag, der erneut vom IS, diesmal gar in der türkischen Hauptstadt, verübt wurde, verloren 109 Menschen ihr Leben. An der sehr gut besuchten Demonstration hatten viele Gewerkschaften und linke Organisationen teilgenommen. Infolge dieser Ereignisse wurde die Gesellschaft eingeschüchtert und unterdrückt. Diese beiden blutigen Vorfälle spielten eine wichtige Rolle für den Aufstieg der AKP bei den Wahlen im November 2015.

DIE PARLAMENTSWAHLEN AM 24. JUNI 2018

Nach dem versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 wurde in der Türkei der Ausnahmezustand verhängt. Dieser wurde immer wieder verlängert und diente der Unterdrückung der sozialen Opposition, der Arbeiterbewegung, der kurdischen Bewegung, der Frauenbewegung und der Umweltbewegung.

In diesem politischen Klima konnte die AKP am 16. April 2017 ihr langes angestrebtes Ziel erreichen: Das Referendum zum Umbau des Staates zu einem Präsidialsystem wurde mit 51,41 Prozent der Stimmen angenommen. Dies bedeutete, dass der Präsident nun über weitreichendere exekutive Befugnisse verfügte und das Parlament geschwächt wurde. Zudem wurde das Wahlrecht dahingehend verändert, dass nun schon vor den Wahlen Bündnisse zwischen Parteien möglich waren. Das Ziel für die AKP war, damit eine starke rechte Front aufbauen zu können. Dieser Plan ging zunächst auf: Bei den Wahlen 2018 bildete die AKP ein Wahlbündnis mit der ultranationalistischen „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) und dieses Bündnis gewann die während des Ausnahmezustands abgehaltenen Wahlen mit 42,56 Prozent der Stimmen. Doch bei der aktuellen Wahl könnte sich diese Möglichkeit von Wahlbündnissen auch gegen die AKP richten, denn auch die Opposition hat Wahlbündnisse geschmiedet.

KÖNNEN DIE AKTUELLEN WAHLEN DIE KORRUPTE ORDNUNG ÜBERWINDEN?

Viele der sozialistischen Organisationen, die die gewaltsame Repression des Staates am eigenen Leib erfahren haben, sind der Ansicht, dass den Wahlen zu viel Bedeutung beigemessen wird. Für die HDP gestaltet sich die Situation etwas anders: Die HDP ist ein Teil der sehr grossen kurdischen Revolte, in diesem Sinne geht ihre Macht nicht nur vom Parlament aus. Es handelt sich um eine breite Volksbewegung, die mit dem Staat verhandeln und sich der Staatsmacht widersetzen kann. In diesem Sinne stellen die Wahlen nur ein Standbein der kurdischen Bewegung dar. Die türkische Linke versucht, in Solidarität mit der kurdischen Bewegung einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre eigene Position einbringen kann – mit dem Ziel, durch gemeinsame soziale Kämpfe einen Teil des Weges zum Sozialismus zu gehen.

Der oben beschriebene Übergang von einem parlamentarischen zu einem präsidialen System im Jahr 2018 markierte den offiziellen Beginn eines autoritären Regimes. Viele Politiker, Akademiker, Journalisten und Studenten befinden sich im Gefängnis, was eine Schande für die Demokratie ist. Gesetze werden über Nacht verabschiedet, um gezielt Personen verfolgen zu können. Gewählte Bürgermeister werden entlassen und mit Marionetten ersetzt oder mit verschiedenen Sanktionen bedroht. Den Arbeitern ist es de-facto untersagt, zu streiken und ihre Rechte einzufordern.

Die Vertreter aller Institutionen, vom Universitätsrektor bis zu den Mitgliedern des Verfassungsgerichts, werden vom Präsidenten ernannt. Alle staatlichen Institutionen sind der Initiative einer einzigen Person unterworfen. In dieser Situation ist es für Sozialisten nicht realistisch, sich auf Wahlen und das Parlament als das letzte verbliebene Schwert der Demokratie zu verlassen. Denn selbst wenn die AKP und Erdoğan bei den Wahlen verlieren sollten, gibt es ernsthafte Zweifel daran, dass sie dieses Ergebnis akzeptieren würden: Vor kurzem bezeichnete der türkische Innenminister die Wahlen vom 14. Mai als „politischen Putschversuch“. Diese Untergrabung der Legitimität der Wahlen durch die AKP, noch bevor diese überhaupt stattgefunden haben, zeigen, dass sie bereits jetzt versucht, ein mögliches Chaos nach der Wahl zu legitimieren.

Zudem: Mit der seit den letzten Jahren sich immer mehr zuspitzenden ökonomischen Krise wurde deutlich, dass der neoliberale Kapitalismus in der Türkei nicht funktioniert, nicht einmal für die Oligarchie selbst. Die unteren Klassen versinken in immer extremerer Armut. Es ist daher fraglich, ob eine andere Regierung, auch wenn sie eine Rückkehr zur Demokratie bedeuten würde, eine wesentliche Verbesserung der ökonomischen Situation erreichen könnte. Dennoch unterstützen die sozialistischen Gruppen die parlamentarische Demokratie gegen den autoritären Populismus. Doch ihre Strategie ist es, die unteren Schichten der Gesellschaft mit in den Umbau von Staat und Gesellschaft einzubeziehen. In anderen Worten: Es muss ein Druck aufgebaut werden, der von der Basis ausgeht, um das autoritäre Regime zu überwinden. Das Wählen selbst ist nur ein kleiner Teil dieses Prozesses. Nur eine solche Organisation von Unten könnte im Falle eines Verfassungsbruchs (wie z.B. der Nichtanerkennung der Wahlergebnisse) einen sozialen Kampf organisieren, um die Demokratie wiederherzustellen.

Um das Konzept des Kampfes von unten nach oben etwas näher zu erläutern: Die äusserst kritische und distanzierte Haltung eines grossen Teils der Sozialisten gegenüber den Wahlen hat ihren Ursprung in der Forderung, dass die Unterdrückten durch eine Reihe von Aktionen zu Akteuren werden, ihre eigene Wirkmächtigkeit entfalten. Um es mit Gramsci zu sagen: Es ist notwendig, heute die revolutionären Zellen von morgen zu schaffen; im Rahmen dieser Bemühungen ist es notwendig, Arbeiterräte in den Betrieben und Volksversammlungen in den Vierteln zu organisieren. Wenn dies verwirklicht ist, werden Wahlen nicht mehr als die einzige Rettung angesehen werden, sondern das Volk wird seine eigene Rettung durch seine eigenen demokratischen Organe schaffen. Mit dem allmählichen demokratischen Fortschritt wird die sozialistische Revolution als Moment und Prozess zugleich verwirklicht werden. Die Avantgardepartei wird in diesem Prozess von den Menschen selbst gebildet. Dieser Ansatz zielt darauf ab, Räume zu eröffnen, um die Hegemonie der wirtschaftlichen und politischen Macht in einer Praxis zu stürzen.

Um ein Beispiel aus der heutigen Situation zu geben: In den Erdbebengebieten waren die sozialistischen Organisationen vom ersten Tag an für die Bevölkerung zur Stelle, um mit aller Kraft solidarisch Hilfe zu organisieren. Der Staat hingegen war teilweise tagelang nicht vor Ort. Die Bevölkerung wurde sich selbst überlassen. Diese Praktiken der Solidarität, die sich in den Erdbebengebieten entwickelten, ist ein Ausgangspunkt für die Selbstorganisation der Menschen.

Sozialistische Organisationen aus der ganzen Türkei haben ihre Mitglieder in die betroffenen Regionen entsandt, um ihre Solidarität zu zeigen. Die staatlichen Kräfte versuchten nach einer Woche, die linken Organisationen mit Polizeikräften aus der Region zu vertreiben, doch die Bevölkerung verteidigte diese – weil sie ihnen in ihrer schwierigen Lage beigestanden sind. Sie entgegneten den Vertretern des Staates: „Wo wart ihr die letzten Tage, es waren Zehn Tage – diese Menschen waren mit uns seit dem Beginn!“ Auch jetzt noch sind die Sozialisten in der Region, in den Zeltstädten bauen sie gemeinsam mit den Bewohnern das soziale Leben wieder auf: Sie kochen zusammen, sie organisieren Aktivitäten für die Kinder, sie unterstützen sich mit Gesprächen usw.

EINIGE FRAGEN STATT EINER SCHLUSSFOLGERUNG

Die Sozialisten sehen die Wahl nicht als das Mittel, um die Emanzipation der unteren Klassen und unterdrückten Gruppen zu erreichen, begreifen die Wahl jedoch als Möglichkeit, einen demokratischen Fortschritt und einen Raum für den Kampf für den Sozialismus zu eröffnen.

Den Erklärungen der linken Organisationen nach zu urteilen, fokussieren sich die türkischen Sozialisten und die kurdische Bewegung vor allem auf die Frage, was nach den Wahlen zu tun sein wird. Falls der amtierende Präsident gewinnen würde, wie kann eine Front gegen das autoritäre und von faschistischen Elementen geprägte Regime gebildet werden? Umgekehrt, wenn die Opposition gewinnt und ein neuer, progressiverer Präsident regieren wird: Wie kann die Situation genutzt werden, um Räume für den Kampf für den Sozialismus zu eröffnen?

Wie können die Friedensverhandlungen zwischen der neuen Regierung und der kurdischen Bewegung gestalten werden? Wie kann der Rassismus gestoppt werden, der die letzten Jahre um sich gegriffen hat? Wie können Femizide verhindert und wie die Unterdrückung von LGBTQ+-Personen beendet werden? Wie kann die Welle von Selbstmorden aufgrund von Armut gestoppt werden? Wir brauchen einen umfassenden Prozess der Abrechnung mit dem geschehenen Unrecht, einen neuen gesellschaftlichen common-sense und eine gesellschaftliche Versöhnung. In all diesen Aspekten würde die sozialistische Bewegung eine entscheidende Rolle einnehmen.

Die Tatsache, dass der Staat die Menschen nach den Erdbeben im Februar dieses Jahres im Stich gelassen hat, hat die staatlichen Institutionen das letzte Vertrauen in der Bevölkerung gekostet. Die Menschen sind sich nicht sicher, ob die Wahlen ruhig und geordnet ablaufen werden und sie haben mit ihrer Sorge nicht unrecht. Wird diese Regierung, die so viele Verbrechen gegen ihr Volk begangen hat, dass sie sich eine Niederlage nicht leisten kann, die Ergebnisse der Wahlen friedlich akzeptieren? Wenn nicht, wie werden sich die Kräfte des Volkes, die in den letzten zehn Jahren durch eine autoritäre und faschistisch orientierte politische Macht zunehmend desorganisiert und geschwächt wurden, gegen sie mobilisieren?

Die Wahlen erinnern uns an diese schwierigen Fragen und zwingen uns, nach Antworten zu suchen. Lasst uns mit Gramscis berühmten Satz schliessen: „Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens“.

Zeynep Oz & Jannis Oz