Im September 2015 schrieb ich zum ersten Mal in der Graswurzelrevolution über die Situation von Geflüchteten in Ungarn. Ich habe die Tage rund um die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für Geflüchtete beschrieben. Skizziert habe ich auch die bevorstehende Schliessung des Zauns, die Kriminalisierung des Grenzübertritts durch Gesetzesänderungen und die Scheinheiligkeit von österreichischer und deutscher Kritik, welche die EU-Gesetzeslage als Mitschuldige der Situation in Ungarn ausblendet. [1]
Der offene Rassismus wurde damals sichtbar beispielsweise durch das Racial Profiling bei Grenzkontrollen und die absichtlich irreführenden Informationen und menschenverachtenden Bedingungen in den improvisierten Camps. Das schien kaum noch überbietbar zu sein.
Status Quo: Gefängnisse und Folter
Im Sommer 2017 ist die die Situation eine andere. Anstatt tausender Menschen, welche am Weiterreisen gehindert und auf Bahnhöfen und in Camps in der Schwebe gehalten werden, sind nun kaum Geflüchtete im Land.Die ungefähr 420 Personen [2], die sich zurzeit im Asylverfahren befinden, sind alle in geschlossenen Container-Lagern an der Grenze eingesperrt. [3] Es herrschen Gefängniszustände. Menschenunwürdige Behandlung durch Angestellte und Polizei sind an der Tagesordnung. In überhitzten Containern, umringt von Stacheldrahtzäunen mit minimalen Schotteraussenbereichen, werden Menschen auf unbestimmte Zeit mit zu wenig Nahrung für Kinder, fehlender medizinischer Betreuung, ohne Internet und Besuchsrechte und unter konstanter psychologischer Erniedrigung eingesperrt.
Die Wartezeiten, um überhaupt Zutritt in das gefängnisgleiche Asylverfahren durch die Transitzone zu bekommen, liegen bei bis zu einem Jahr, da nur fünf Personen am Tag und nur von serbischer Seite eingelassen werden. Die Grenze ist mit zwei Zäunen, High-Tech-Ausrüstung und einer eigenen Polizeieinheit den "Border Hunters" (ja, das ist der offizielle Name!) abgeschottet. Personen, welche versuchen eigenmächtig den Zaun zu überqueren, werden von Polizeieinheiten systematisch auf brutale Art und Weise geschlagen, erniedrigt, bestohlen und auf die serbische Seite des Zauns "rückgeführt". [4]
Und für all jene Personen, die die Tortur des Grenzregimes und die Transitzone überstanden haben, in dem Moment, in dem sie den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen, werden sie zwar in das Land eingelassen, haben jedoch keine Unterstützung mit Geld, Unterkunft, Arbeit oder dem Erlernen von Sprachkenntnissen. Bürgermeister*innen wollen ihnen mittlerweile sogar das Urlauben am Balaton, dem grössten See und Naherholungsgebiet verbieten. [5]
Wie kam es zu alldem und wie war der zeitliche Ablauf? Ungarische Asylpolitik Schritt für Schritt. Das ist in den letzten zwei Jahre passiert:
2015
Sommer: Tausende Menschen stecken in Parks an Bahnhöfen und in überfüllten Lagern fest. Das Asylsystem funktioniert zu dieser Zeit bereits schlecht: Die Bedingungen in Lagern sind zum Teil schrecklich, viele Menschen werden in geschlossenen Lagern gehalten, wenige Personen erhalten Asyl. 4. September: Protestmärsche ("Marches of Hope") ziehen von Budapest und Bicske Richtung österreichischer Grenze, bis schliesslich Regierungen nachgeben und Geflüchtete auf der Balkanroute sich für kurze Zeit freier bewegen können.
15. September: Gewaltvolle Schliessung des ungarisch-serbischen Grenzzauns. Gesetzesänderungen, die den Grenzübertritt kriminalisieren und die Transitzonen mit limitiertem Zugang zum einzig möglichen Zutritt für Geflüchtete machen.
16. Dezember: Schliessung des offenen Camps in Debrecen. Das Camp war zentral gelegen, bot Zugang zu Sozialarbeiter*innen, Freiwilligen und Rechtshilfe. 2016
15. März: Nach sukzessiven Reiseeinschränkungen (basierend auf Nationalität, etc.) offizielle "Schliessung" der Balkanroute durch multilaterale Abkommen initiiert durch die österreichische Regierung - tausende Menschen stehen vor militarisierten Grenzanlagen, nicht nur an der ungarisch-serbischen Grenze, sondern auch an den Grenzen zu Mazedonien, Kroatien, Österreich, etc.
19. März: Der EU-Türkei-Deal wird beschlossen: Externalisierung von Grenzen in eine Autokratie, die wider besseres Wissen als "sicheres Drittland" deklariert wird.
16. Mai: Eröffnung des Zeltcamps in Körmend an der Grenze zu Österreich mit extrem schlechten Bedingungen (Zelte, mangelnde Infrastruktur, sehr abgelegen) und steigende Zahlen an Menschen, die in ihrem Asylverfahren dort untergebracht werden.
1. Juni: Gesetzesänderungen, welche den Integrationsvertrag und alle anderen Unterstützungen für Personen mit anerkanntem Flüchtlingsstatus abschaffen: Personen, mit anerkanntem Flüchtlingsstatus werden ohne finanzielle Unterstützung, ohne Unterstützung für Wohnungs- oder Jobsuche obdachlos und gezwungen das Land zu verlassen. Einführung der Reevaluierung von gewährtem Flüchtlingsstatus alle drei Jahre.
Ende Juni: Verabschiedung des sogenannten 8km-Novelle, welche das gewaltvolle "Zurückführen" von Geflüchteten, welche den Zaun irregulär überwunden haben, zur serbischen Seite des Zauns durch Polizeieinheiten innerhalb von acht Kilometern des Zauns legalisiert. Ab Juli: Berichterstattungen über Gewalt gegen Geflüchtete an der Grenze mehren sich.
1. Juli: In Schauprozessen, bekannt als Röszke-Prozesse, werden zehn Personen für ihre Anwesenheit bei Protesten während der Grenzschliessung im September 2015 wegen angeblichem "Massenaufstand" und "illegalem Grenzübertritt" zu ein bis drei Jahren Haft verurteilt. [6]
16. Juli: Der Vorschlag der Europäischen Kommission über ein neues EU-weites harmonisiertes Asylsystem werden erstmals veröffentlicht: Standards für Personen im und nach dem Asylverfahren werden stark gesenkt. In Ungarn bereits Umgesetztes wird schliesslich auf EU-Ebene im Februar 2017 übernommen, wie zum Beispiel die Möglichkeit von Haft, Erschwerung von Bewegung innerhalb Europas und regelmässige Überprüfung des Asylstatus..
2. Oktober: Landesweites Referendum, das Ungar*innen zwischen zwei Übeln wählen lässt: dem bisherigen Kurs ungarischer Abgrenzungspolitik und einem ebenso menschenverachtenden EU-Quotensystem: Migration wird in einer riesigen Propagandawelle von der Regierung verwendet um EU-weite und interne politische Ziele zu verfolgen. [7]
8. Oktober: Schliessung der kritischen unabhängigen Zeitschrift "Népszabadság": Sie wurde nach Besitzübernahme abrupt und ohne vorhergehende Informierung der angestellten Journalist*innen geschlossen. Die Zeitung war eine der wenigen letzten unabhängigen Medien, nachdem in den vorangegangenen Wochen und Monaten regierungskritische Medien schrittweise aufgekauft oder aufgelöst wurden.
30. November 2016: Verurteilung von Ahmed H. zu einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren, begründet mit "Terrorismus", für die Teilnahme an dem Protest gegen die Grenzschliessung September 2015. 2017
1. Januar: Schliessung des offenen Camps Bicske: Das letzte Camp, das sich in der Nähe einer grösseren Stadt befand und mit guter Infrastruktur versehen war. Menschen werden in weit entfernte Camps (unter anderem das Zeltcamp Körmend) und in Gefangenenlager transportiert. Personen, die in Körmend untergebracht sind, veröffentlichen ein Statement, dass die Bedingungen scharf verurteilt. [8]
Mitte Januar: Die Anwerbung der Polizeispezialeinheit mit dem offiziellen Namen "Border Hunters" schreitet voran. Personen werden in Einkaufszentren, Schulen und mit Hilfe von Plakaten in der ganzen Stadt angeworben. Das Training dauert nur drei Monate, nach Vervollständigung werden die "Border Hunters" mit Waffen und einem vergleichsweise hohen Gehalt an die Grenze geschickt.
Mehr und mehr schockierende Zeug*innenberichte von Gewalt durch Polizeieinheiten an der Grenze werden bekannt: Menschen werden brutal geschlagen und in eisiger Kälte systematisch gefoltert [9]
8. März: Verabschiedung einer neuen Novelle des Asylgesetzes: Während des gesamten Asylverfahrens können Personen ihre Unterkunft nicht verlassen. [10]
Der einzige Unterbringungsort sind geschlossene Container-Lager an den Grenzübergängen Röszke und Tompa ohne Internetzugang und ohne Besuchsrechte. Rechtshilfeorganisationen und Sozialarbeiter*innen von den meisten NGOs haben ohne Einladung keinen Zugang in die Lager.
Zusätzlich wird die "Rückführung" aller (sic!) innerhalb Ungarns aufgegriffen Geflüchteten ohne legalen Status zur serbischen Seite des Zauns legalisiert.
18. März: Gefangene im geschlossenen Asyllager Bekescsaba gehen für einen Tag in den Hungerstreik und veröffentlichen eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die schlechten Bedingungen beschreiben und national und international um Solidarität und Hilfe bitten. [11]
4. April: Das sogenannte CEU-Gesetz (Lex CEU) wird verabschiedet, das unter dem Vorwand von Gleichbehandlung ungarischer und internationaler Universitäten, die Central European University mit Schliessung bedroht. Eine Welle von Protesten (mit Demonstrationen von bis zu 80.000 Menschen) gegen das Gesetz, die Einschränkung von akademischer Freiheit und die Fidesz-Regierung generell startet. Die Proteste stehen stark unter einer Pro-EU-Flagge, Asylpolitik wird in den Protesten kaum thematisiert.
April: Sukzessive Schliessung aller offenen Camps und Asyl-Haftzentren bis hin zum alleinigen Weiterbestehen der Transitzonen-Containerlager.
Mai: Berichte über äusserst schlechte Zustände in den Transitzonen-Gefängnislagern mehren sich: u.a. Gefängnisbedingungen, Mangel an Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung selbst für Säuglinge, psychologische Gewalt durch Angestellte, keine Klimaanlagen, kein Schatten bei 40°C. [12]
11. Juni: Verabschiedung der Anti-NGO-Gesetzgebung, welche Nichtregierungsorganisationen dazu zwingt, sich als ausländische Agenten zu deklarieren, sofern sie Gelder aus dem Ausland beziehen. Betroffen sind vor allem NGOs, welche in den Bereichen Flucht, Menschenrechte und Minderheitenschutz arbeiten,
15. Juni: Ahmed H.s Gerichtsprozess in zweiter Instanz: grundsätzliche Bestätigung des Terrorismusvorwurfes durch die zweite Instanz, jedoch Zurückweisung des Prozesses wegen Beweisführungsmängel zur ersten Instanz. Für die rechtliche Unterstützung werden dringend Spenden benötigt. [13]
August: Vorschlag einer neuen Gesetzesänderung, mit der die rechtliche Unterstützung im Asylverfahren für Rechtsberater*innen erschwert werden soll. Wie ist das möglich? - Medienkontrolle, Einschüchterung und Verschwörungstheorien
Die Liste der Veränderungen und besonders die persönlichen Berichte von Personen, welche an der Grenze gefoltert wurden oder festgehalten werden, [14], lesen sich wie ein Albtraum. Im September 2015 erregten die Bilder der rassistischen Journalistin, die vor laufender Kamera Geflüchtete trat [15] noch national und international Aufmerksamkeit. Wie kann es sein, dass heute dagegen die staatliche Folter an den Grenzen kaum thematisiert und in Frage gestellt wird?
Rückblickend wirken die schrittweisen Änderungen als seien sie alle Teil eines durchdachten Plans, welcher im Einklang mit EU-weiten Änderungen und einem EU-weiten Schweigen steht. In kleinen Schritten und in engem Zusammenhang mit Kontrolle von Medien und NGOs wurde schrittweise normalisiert, was eigentlich massive Empörung hervorrufen sollte.
Vorbereitend und begleitend zu den legalen Änderungen waren breit aufgestellte rassistische, antisemitische und verschwörungstheoretische Kampagnen, in welchen Städte mit Plakaten und Medien mit Slogans zugepflastert wurden. Neben Migrant*innen standen zivilgesellschaftliche Akteur*innen, insbesondere NGOs, welche im Bereich Flucht und/oder Minderheitenschutz arbeiten, im Fokus dieser Kampagnen.
Gesetzliche Veränderungen gab es ebenfalls nicht nur im Bereich Asyl und Migration, sondern auch gegenüber NGOs, welche im Bereich Minderheitenschutz arbeiten. Diese NGOs, sowie linke politische Gruppen wurden mithilfe der neuen Gesetzgebung und Orbáns offiziell ausgerufenem "Krieg gegen die Zivilgesellschaft" eingeschüchtert, in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt und konstant als Teil einer "ausländisch gelenkten Verschwörung zur Vernichtung Ungarns" bezeichnet, meist in antisemitischer Weise als Soros-Komplott. [16]
In nationalistischer Weise wird versucht, ihre Legitimität für ungarische politische Arbeit zu nehmen. Systematisch wurden dadurch Solidaridätssysteme ausgehölt, was den Widerstand gegenüber asylpolitischen Veränderungen stark schwächte.
Eine solche umfassende Propaganda, welche Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus zusammenbringt, wurde möglich in einem Kontext, in dem Medienfreiheit schrittweise durch Aufkaufen und Schliessen von unabhängigen linken und regierungskritischen Medien abgeschafft wird. Einzig die Kombination von starkem Medienmonopol durch die Regierung und den Millionen, welche (auf Kosten des leidenden Gesundheits- und Bildungssystems) in Plakate investiert wurden, ermöglicht eine solche Durchdringlichkeit der Regierungsbotschaften.
Der Erfolg der Medienkontrolle und des Kampfes gegen die Zivilgesellschaft zeigt sich in der stark abnehmenden Kritik an dem Grenzzaun und den gefängnisgleichen Lagern: Nach zwei Jahren sprechen sich kaum mehr Oppositionsparteien gegen den Status Quo der Migrationspolitik aus, in den Diskussionen um Grenzgewalt wird die Notwendigkeit des Zauns oft nicht mehr angefochten. Dass Personen während des Asylverfahrens in Wohnungen wohnen könnten, scheint in einer Debatte zwischen Asyllager und Container-Gefängnissen vergessen zu sein.
Fazit für die EU
Die ungarische Asylpolitik und alle ihre Änderungen der letzten zwei Jahre vor Augen, hat die EU erst 2017 ein Vorstossverfahren gegen Ungarn eingeleitet, in dem sie Ungarns Verstösse gegenüber EU-Recht untersuchen will. In der Zwischenzeit wurden von fast allen Mitgliedsstaaten Dublin-Rückführungen nach Ungarn durchgeführt und stillschweigend der Effekt des Zauns genossen. Abgesehen von der schwer zu übersehenden Präsenz von mehreren Wellen an Orbáns "Anti-Brüssel-Plakaten", welche in den breiten Protesten in der Bevölkerung darauffolgend mit leeren Pro-EU'-Floskeln beantwortet wurden, kann nicht von einem starken Einfluss der EU gesprochen werden. Von den Auswirkungen des Vorstossverfahrens ist in Ungarn im Bezug aus Asylpolitik jetzt noch nichts zu spüren.Ungarns Politik, wenn auch in ungeschönter, brutaler Ausführung, ist das, was auf EU-Ebene nicht nur toleriert wird, sondern wohin ein Netzwerk aus EU-Türkei- und weiteren Abkommen, harmonisiertem EU-weitem Asylsystem und "Grenzschutz", Dublin-Regulierung und Abschiebemaschinerie ebenso zeigt. Wenn wir nach Ungarn schauen, sehen wir den Kern der EU-Migrationspolitik, egal ob die Einheiten "Border Hunters" oder Frontex heissen.