Eine aufgemöbelte Willkommenskultur Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik

Politik

Für den neuen Frontstaat Ukraine denkt Deutschland um bzw. bleibt sich treu: Hoch die nationale Solidarität!

Flüchtlinge aus der Ukraine in Krakau, März 2022.
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Flüchtlinge aus der Ukraine in Krakau, März 2022. Foto: Silar (CC BY-SA 4.0 cropped)

4. Mai 2022
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Russlands Krieg in der Ukraine geht in den dritten Monat. Was 20 Jahre Afghanistan-Krieg unter US-Führung, der rotgrün mitgetragene Überfall auf Serbien 1999 und dauerhafte Kriegseinsätze der NATO-Staaten - mal mit, mal ohne völkerrechtliche Legitimation - nicht schafften, hat jetzt Putin in kurzer Frist zustande gebracht: Die deutsche Öffentlichkeit ist bis zum höchsten Grade in Militärdingen alarmiert, sie wird tagtäglich über die Gefährdung des Weltfriedens (des-)informiert und zeigt, mit und ohne Ansage von oben, eine ganz neue Empathie mit den Opfern des imperialistischen Staatenverkehrs.

„Wir“ und das russische „Böse“

„Imperialismus“ darf, ja soll man sogar wieder sagen, wenn man damit die russische Politik meint, die „auf die Wiederherstellung des verlorenen Imperiums“ zielt (FAZ, 16.4.22). Wenn man also das Böse brandmarkt (FAZ: „Putin ist der Satan“) und Putin als den neuen Hitler entlarvt. Natürlich darf von da aus nicht - wie von Politik und Presse bei einigen Ostermarsch-Auftritten bemängelt - der Blick auf die amerikanische Suprematie gerichtet werden, die sich mit ihrem konsequenten geopolitischen Revisionismus seit Ende des Ostblocks und des Warschauer Pakts bis an die Grenzen des russischen Rest-Reichs vorgearbeitet und ihm eine multiple Kriegsdrohung mit einem neuen - zu einer Art Amoklauf bereiten - ukrainischen Frontstaat präsentiert hat.

Die imperialen Ansprüche des Westens werden in dem Fall vielmehr als die reinste Verteidigungshaltung verkauft. Vom ersten Tag des Kriegs an sah sich die ganze „freie Welt“ mit angegriffen und versuchte dem Rest des Globus dies als verbindliche Sichtweise vorzuschreiben. Hier gibt es noch den einen oder anderen Querschläger, im Innern dagegen ist die Front begradigt: Massendemonstrationen, auch nach Gewerkschaftsaufrufen, treten lautstark wie mittlerweile bei fast jeder grossen oder kleinen „Antikriegs“-Veranstaltung mit der Losung „#StandWithUkraine“ an. Pazifismus ist im Moment eher „zynisch“ (Kanzler Scholz) oder bestenfalls, so der Grüne Habeck, „ein ferner Traum“, den man sich zur realpolitischen Kriegstreiberei dazudenken, aber nicht dagegen in Stellung bringen darf. Sonst entlarvt man sich gleich als „fünfte Kolonne Putins“ (so der FDP-Politiker Graf Lambsdorff).

Bei den Veranstaltungen zum 1. Mai gab es ein paar gewerkschaftliche Mahnungen, die Bundesregierung solle es mit ihrem Aufrüstungskurs nicht übertreiben. Von der essentielle Aufgabe der Gewerkschaften, den Schaden ihrer Klientel – durch die gewaltigen Preiserhöhungen der Energie- und Handelskonzerne, durch geplante Steuerbelastungen oder Sparmassnahmen - abzuwehren, ist aber weit und breit nichts zu sehen. Das Solidaritätsprinzip einer Kampforganisation, die gegen die Herren über die gesellschaftliche Arbeit antrat, hat sich eben in der BRD von Beginn an der „Sozialpartnerschafts“-Ideologie angeschlossen, es geht selbstverständlich mit Verzicht und Opferbereitschaft einher. Jetzt erfährt man auf allen Ebenen die militaristische Zuspitzung – hin zu einer „Solidarität, die nicht mehr nur helfen will, sondern zum Waffengang ruft“.

Die Heimatfront der - noch - nicht direkt mit eigenem Militär beteiligten BRD ist also zu fast 100 Prozent geschlossen. Dazu gehören Standig ovations im Parlament, als die ersten millionenschweren Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen wurden oder als der Regierungschef Selenskyj in bester faschistischer Tradition das ruhmreiche Erbe seines Landes beschwor.

Überall gibt es nur noch Bekundungen „für Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit“! Die Friedenstaube prangt auf Plakaten, die „Stand by Ukraine!“ fordern, womit als selbstverständlich gilt, dass der Krieg verschärft und verlängert wird. Dagegen, wie gesagt, keine Massendemonstrationen oder Generalstreiks zur Verhinderung harter und immer härterer Zeiten. Diese werden ja offiziell angekündigt, „viele Härten liegen erst noch vor uns“, so Bundespräsident Steinmeier am 27.3.22. Im NRW-Wahlkampf plakatieren z.B. die Grünen allen Ernstes die Losung „Damit nach der Miete noch was bleibt“!

Die veröffentlichte Meinung hat sich in einer Weise gleichgeschaltet, wie es autokratische Direktiven von oben kaum zustandegebracht hätten. Unvorstellbar, dass in einer deutschen Tagesschau ein Schild mit dem Protest gegen Kriegsvorbereitung und Feindbildpflege hochgehalten würde! Stattdessen wird der „Feindsender“ RT abgeschaltet. Widerspruch beschränkt sich im Grunde auf eine klar abgezirkelte Gegenöffentlichkeit, auf Internetportale wie Telepolis, Scharf-Links und Krass & Konkret oder auf eine Tageszeitung wie die Junge Welt, die - nicht zuletzt deswegen - unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. Die öffentlich bekannt gemachte Observierung der JW wird übrigens, wie jüngst ein deutsches Gericht für rechtens befand, gezielt praktiziert, und zwar um dem Blatt „den Nährboden zu entziehen“, es also wirtschaftlich möglichst zu ruinieren.

Natürlich hält, nomen est omen, die marxistische Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt dagegen und analysiert unnachgiebig die neuesten Produkte der Symbiose von Geschäft und Gewalt. Ansonsten aber sind die Reihen von demokratischer Führung und einschlägigem Expertentum weitgehend geschlossen - und das auch da, wo es früher um linke, kritische, vielleicht auch nur nachdenkliche Theoriebildung ging. Die Blätter für deutsche und internationale Politik fordern eine „grundlegende Debatte über unsere Wehrhaftigkeit“, die Zeitschrift Sozialismus wartet in einen Beitrag gleich mit der NATO-Falschmeldung „Der Krieg ist zurück in Europa“ auf etc. pp.

Erinnerung an eine Vorgeschichte

Dass der Krieg eine Vorgeschichte hat, dass er nicht aus heiterem Himmel durch einen „wahnsinnigen“ Putin zurück nach Europa gebracht wurde, dass ihm die - dezidierte, offen angesagte - Missachtung östlicher Sicherheitsbedürfnisse zu Grunde liegt, erfährt man aus der hiesigen Öffentlichkeit nicht. Alles wird auf die Kindergarten- oder Grundschulfrage reduziert: Wer hat angefangen? Der objektive Gegensatz selber ist ausgeblendet. „Eine Anerkennung der russischen Sicherheitsinteressen ist für Amerika kategorisch ausgeschlossen; die würde ja auf die Annullierung all der strategischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte hinauslaufen, die den mächtigen Rivalen so erfolgreich in Bedrängnis gebracht haben.“ (Peter Decker.

Nur zur Erinnerung, worum es bei diesen strategischen Fortschritten ging: Deutschland, dem durch die USA sehr schnell nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Rolle des Frontstaates zugeteilt wurde, fand nach 1990 einen würdigen Nachfolger in der Ukraine, d.h. in einem Land, wo sich ein kampfbereiter, prowestlicher Nationalismus, auch noch mit faschistischer Tradition verstärkt, zum Tod fürs Vaterland (und zu dessen Säuberung von den verbliebenen prorussischen Elementen) bereit erklärte. Hier hatte man das neue - Zug um Zug - ausgebaute Bollwerk gegen den zum Feind erklärten „russischen Bären“ zur Hand. Und damit auch Material für eine Feindbildpflege nach dem Muster des Kalten Kriegs, die dann vor allem seit dem Frühjahr 2021 hochgefahren wurde.

Jetzt herrscht heisser Krieg, er richtet sich von russischer Seite gegen das weitere Vorankommen der Einkreisungspolitik der NATO mit ihren mittlerweile 30 Mitgliedern, „von denen neun dem früheren Warschauer Pakt angehörten“. Das grösste Kriegsbündnis aller Zeiten, der Schutzpatron für diese Länder nach ihrer Abkehr vom Realen Sozialismus und ihrer Hinwendung zur Marktwirtschaft, bekennt sich in ideologischer Sprachregelung zur „Partnership for Peace“. Die NATO-Friedenspartner - die wie Putin ihre Kriege gerne als Operationen eines „peacekeeping“ u. Ä. ankündigen - sind seit der Gründung des Bündnisses mit wenigen Ausnahmen im Kriegseinsatz, meistens unter Umgehung des viel gepriesenen Völkerrechts.

Das ganze Kriegs- bzw. Friedensengagement läuft auf Ansage der Führungsmacht USA, die im Alleingang oder mit einer „Koalition der Willigen“ tätig wird, gerne auch - was Deutschland jetzt, bislang jedenfalls, am Fall der Ukraine praktiziert - in Form eines „leading from behind“. Im Blick auf die neue Ostfront seien hier nur noch ein paar Merkpunkte genannt: Die USA kündigten den ABM-Vertrag sowie das Verbot der Stationierung von Mittelstreckenraketen, in Rumänien wurden „NATO-Abwehrraketen“ installiert, Polen beantragte Nuklearwaffen, die Ukraine positionierte sich auf der Münchner Siko 2022 in ähnlicher Weise, Bulgarien setzt sich für die „Stärkung der Nato-Flanke im Osten“ (SZ, 29.3.22) ein ... Das logische Resultat: Russland sieht sich in seiner „Behauptung als strategische Macht“ (www.gegenstandpunkt.com) und damit in seiner staatlichen Selbstbehauptung gefährdet.

Laut und deutlich hat es – nach üblicher imperialistischer Manier – seit Jahren seine roten Linien benannt und sie in der letzten Eskalationsphase seit dem Frühjahr 2021 als Forderungskatalog (kein NATO-Beitritt der Ukraine, atomare Deeskalation auf dem osteuropäischen Glacis, Rückkehr zum Prinzip „unteilbarer Sicherheit“) auf den Tisch gelegt. Danach erfolgte genau das, was angekündigt war und was die USA (sogar mit Datumsangabe) als russische Reaktion voraussahen. Nämlich, der russische Beweis, dass man auch anders kann, und zwar mit einer „robusten“ Mission, eben Krieg, zuschlagen kann - ganz nach der bekannten Devise: Angriff ist die beste Verteidigung.



Und Deutschland?

Mit der von Kanzler Scholz angesagten „Zeitenwende“ ist nun klar, dass Deutschland nicht beiseite stehen darf, sondern ganz vorne mitmischen muss. Die neue Linie, deren „strategischen Kompass“ die grüne Aussenministerin formuliert, setzt ganz selbstbewusst auf einen Militarismus, der nach dem Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht nun auch die Frage nach dem Gewaltbedarf klären soll. Das Land muss mit Milliarden (mit dem drittgrössten Militärhaushalt der Welt) aufgerüstet und zu einer auf der Weltbühne massgeblichen Nation aufgebaut werden, zu einer Macht, die auch der Atommacht Russland Paroli bieten kann.

Dazu kommt nicht nur ein Wirtschaftskrieg in Form eines Sanktionsregimes, das „Russland ruinieren“ (Baerbock) soll, sondern auch - Überraschung! - eine 180 Grad-Wende in der Flüchtlingspolitik. Aber leider nicht für alle! Diesen Zusatz muss man beachten, da man sonst an der neuen europäischen Flüchtlingspolitik irre werden könnte. Denn hier ist ja ebenfalls an eine Vorgeschichte zu erinnern: Bis zum Winter 2021, ja bis in die Weihnachtstage und den Jahresanfang 2022 hinein war in Europa absolut klar, dass kein einziger Flüchtling mehr reinpasst; dass vielmehr der - von Belarus tolerierte - Versuch einiger tausend Elendsgestalten, die polnische Grenze zu überschreiten, eine Art „hybrider Krieg“ des Ostens gegen „uns“ darstellt! Fast hätte hier schon Polen die Rolle des Frontstaats übernommen, wenn nicht die NATO-, sprich die US-Verantwortlichen auf das Heldentum der Ukraine gesetzt hätten.

Kaum zu glauben, aber wahr, jetzt gibt es Platz für Millionen Geflüchtete. Prompt hat Deutschland neben Waffenlieferungen, Finanzhilfe und antirussischen Sanktionen eine weitere Solidaritäts-Initiative aufgelegt. Wie schon 2015 mit grosser zivilgesellschaftlicher Bereitschaft bzw. mit bravem staatsbürgerlichem Gehorsam mitgetragen, gibt es wieder die Ansage „Wir schaffen das!“, die Kanzlerin Merkel damals ausgab. Dazu hier ein Hinweis auf ein Interview, das Ende März 2022 vom Podcast „99 zu eins“ veröffentlicht wurde (nachzuhören u.a. auf YouTube.

Das Interview wurde von „99 zu eins“ mit dem Erziehungswissenschaftler Freerk Huisken zum Thema „Neue deutsche Flüchtlingspolitik“ geführt. Es stand unter der Überschrift „Flüchtlingspolitik als Kriegsbeteiligung“ und unterzog im Sinne dieser programmatischen Ansage die neue deutsche Solidarität mit Flüchtenden aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten einer vernichtenden Kritik.

Huisken, der bis 2006 an der Universität Bremen zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors forschte, ist ein Kenner der Materie. Er hat zum Thema Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren zwei Bücher veröffentlicht. 2016 erschien seine Flugschrift „Abgehauen“; 2020 folgten die „Flüchtlingsgespräche 2015ff.“, die sich als Argumentationshilfe zum Streit mit den „Ja-aber-Deutschen“ verstanden, also als Angriff auf die verbreitete, auch demokratisch anerkannte Ausländerfeindlichkeit, und die auf Gespräche und Wortwechsel z.B. aus Huiskens zahlreichen, bundesweiten Diskussions- und Vortragsveranstaltungen zurückgingen (Näheres dazu auf der Homepage: www.fhuisken.de).

Huisken verweist in dem neuen Interview gleich auf die bis zum 24. Februar geltende europäische Ab- und Ausgrenzungspolitik der herrschenden „Ausländerfeinde in Amt und Würden“. Den Politikern, die zeitgleich Frontex und andere Abschottungsmassnahmen aufrecht erhalten, sei „keine moralische Heuchelei zu schade, um sich und die Bürger zu Hilfeleistungen zu verpflichten“. Journalisten fielen die Widersprüche natürlich auf, aber sie nähmen dies nicht als Anlass zur Aufklärung, sondern als Auftrag, um besorgt zu fragen, inwieweit das nicht der deutsch-europäischen Glaubwürdigkeit schade. Als Beispiel nannte Huisken die Süddeutsche Zeitung vom 21.3.22. Zitat: „Es geht nicht darum, das Leid der Geflüchteten gegeneinander auszuspielen, es geht um die europäische Glaubwürdigkeit, die auf dem Spiel steht.“

Huisken kommentiert: „Das ist also die Sorge, die diese Presse, die zu den liberalen Organen gehört, umtreibt: zweierlei Mass und Doppelmoral! Da kennt sich der Bürger am Ende vielleicht gar nicht mehr aus. Da gibt es vielleicht eine Differenz zwischen Bürger und Führung. Und das darf nicht sein! Gegen diese mögliche Unglaubwürdigkeit empfiehlt der Artikel natürlich nicht das, was man eigentlich, wenn man die Sache logisch nimmt, folgern könnte. Sie empfiehlt weder die europäischen Aussengrenzen für die Flüchtlinge, die sich in Lagern stauen, zu öffnen oder umgekehrt - alles im Sinne der Logik der Glaubwürdigkeit - Europa auch gegen die Ukraine abzuschotten. Das wären die beiden Varianten, die aus Glaubwürdigkeit - nähme man das mal ernst - folgen würden.“

All das unterbleibt in der hiesigen Öffentlichkeit, mit deren Analyse Huiskens Interview beginnt. Bei dem SZ-Kommentar hat man das, was eingangs als systematische Desinformation angesprochen wurde, in einem bezeichnenden Beispiel vor sich: Journalisten melden sich zu Wort, damit sie von der Politik gute Gründe geliefert bekommen, die für alle Bürger glaubwürdig begründen, warum mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine so ganz anders verfahren wird als mit denen aus Syrien, Afghanistan usw.

Das ist - so Huisken - der Imperativ der gegenwärtigen Lage: „Gerade im Krieg müssen alle verlogenen Begründungen der Politiker glaubwürdig rüberkommen. Gerade im Krieg darf zwischen Volk und nationaler Führung kein Blatt passen. Das ist im Krieg die Notwendigkeit, die neue Variante ... von Loyalität.“ Und das ist, wie das Flüchtlingsthema paradigmatisch kenntlich macht, die wirkliche Sorge, die die Verantwortlichen für die nationale Öffentlichkeit umtreibt: dass durch die Unglaubwürdigkeit der Oberen der Zusammenschluss von Volk und Führung leiden könnte.

Und ausgerechnet diese „freie Presse“ beklagt, dass in Russland die unfreien Medien getreulich den Standpunkt der Regierenden wiedergeben statt die Regierten zu Widersetzlichkeit aufzurufen!

Frank Bernhardt