Dagegen ist die Rolle der Anarchisten in den Kämpfen in Sibirien und im Fernen Osten Russlands weit weniger bekannt. Sie wurde auch in den Werken exilierter Anarchisten wie Wsewolod Wolin (Volin) nicht gewürdigt. Wolins These, dass die Anarchisten in Russland 1917 „die Revolution und die Lösung ihrer Probleme ohne das Mittel der Politik und des Staates, sondern mit Hilfe einer natürlichen und freien ökonomischen und sozialen Aktivität der Assoziationen der Arbeiter selbst“ verwirklichen wollten, wird bis heute in anarchistischen Publikationen kaum hinterfragt.[2]
Dabei waren Anarchisten nicht selten Anführer grösserer Partisaneneinheiten, wie zum Beispiel Grigorij Rogow (1883-1920) und Iwan Nowosjelow (1885-1923?), die auf dem Gebiet der heutigen Region Kemerowo 1919 grössere Städte unter ihre Kontrolle brin-gen konnten,[3] Jakow Trjapizyn (1897-1920), der 1920 die Stadt Nikolajewsk am Amur niederbrannte,[4] Efim Pereschogin (1880?-1918), der im August 1918 die Staatliche Bank von Tschita ausraubte, oder Pjotr Lubkow (1883-1921), der erst gegen die Weisse Armee und später auch gegen die Rote in der Nähe von Tomsk einen Partisanenkampf führte.
Politische Anfänge in Transkaukasien
Die Biographie von Nestor Alexandrowitsch Kalandarischwili (1876-1922) ist schon deswegen beachtlich, weil dieser Anarchist zur Sowjetzeit als ein Held verehrt wurde, wobei seine politische Zugehörigkeit offen bekannt war. Der in dem im westlichen Georgien liegenden Dorf Kwiriketi geborene Sohn einer verarmten Adelsfamilie ging nach dem Abitur am Gymnasium in der Stadt Kutaisi zu einem Lehrerkolleg, doch sein Studium wurde durch den Armeedienst von 1895 bis 1897 unterbrochen. Nach seiner Rückkehr an die Lehranstalt begann Kalandarischwili, sich für Politik zu interessieren, und schloss sich 1900 der Partei der Sozialrevolutionäre an. 1905, zu Beginn der ersten Russischen Revolution, wechselte er zu der Revolutionären Partei der Sozialisten-Föderalisten Georgiens, nach anderen Angaben zu den georgischen Sozialdemokraten.[5]Zwar galten die Sozialföderalisten als gemässigtere Kraft, aber einer der Autoren ihres Programms und Mitglied des Zentralkomitees war Fürst Warlaam Tscherkesischwili (Tscherkesow, 1846-1925), langjähriger Freund und Mitstreiter von Pjotr Kropotkin.[6] Tscherkesischwili/ Tscherkesow war ein anarchistischer Autor von internationaler Bedeutung, seine These, bei den Theorien von Marx und Engels handele sich um ein Plagiat, hat unter anderem Pierre Ramus und wahrscheinlich auch Jan Wacław Machajski beeinflusst.[7] Diese Thesen wurden damals in den revolutionären Kreisen Georgiens intensiv diskutiert – einer der ersten veröffentlichten Texte von Iosif Dschugaschwili, der damals noch nicht das Pseudonym „Stalin" angenommen hatte, widmet sich der Kritik an Tscherkesow und Ramus.[8] Doch selbst wenn dies die ersten Begegnungen Kalandarischwilis mit dem Anarchismus waren, zeigte sich der angehende Lehrer wenig von ideologischen Richtungskämpfen beeinflusst. In der westgeorgischen Region Gurien tobten Bauernrevolten. Im Revolutionsjahr 1905 übernahmen die Bauern die Kontrolle über fast die gesamten 2033 km² der von ca. 100.000 Menschen bewohnten Region.[9] Die führende Rolle übernahmen die gemässigten georgischen Sozialdemokraten, die zuvor der Arbeit mit der Landbevölkerung wenig Bedeutung beimassen. Die so genannte „Gurische Republik“, die zwischen November 1905 und Januar 1906 bestand, war weltweit die erste Bauernbewegung, in der eine marxistische Organisation an der Spitze stand. Die staatlichen Organe wurden durch Dorfversammlungen sowie Demokratische Komitees der Bauern und Revolutionäre Komitees der Arbeiter ersetzt.[10]
Die „Roten Hundertschaften“, bewaffnete Gruppen der Aufständischen, überfielen Polizeistationen, befreiten Gefangene, vertrieben Grundbesitzer und führten „Expropriationen“ durch, auch in den Städten wurde bewaffnete Unterstützung für streikende Arbeiter organisiert.[11] Kalandarischwili, der sowohl an Waffentransporten als auch an den Überfällen beteiligt war, wurde mehrmals gefangen genommen, doch gelang ihm jedes Mal die Flucht. 1907, als der Aufstand bereits niedergeschlagen war, schloss er sich Anarchisten an. Der anarchistische Historiker Igor Podschiwalow merkt jedoch an, dass es keine Belege zum Interesse Kalandarischwilis an den politischen Richtungsdebatten gab, er stellte sein militärisches Können und Wissen in den Dienst aller revolutionären Fraktionen.[12]
Neubeginn in Irkutsk
Kalandarischwili lässt seine Ehefrau und zwei Töchter zurück und verlässt Georgien für immer. Auf der Flucht reist er durch ganz Russland nach Ostsibirien. Anscheinend war sein Plan, die Grenze zu überqueren, doch dann ereilt ihn die Nachricht, dass seine Mitgefährten durch Bestechung die Anklageakte der Gendarmerie entwenden konnten. Er lässt sich in Irkutsk unter seinem richtigen Namen nieder. Hier schlägt er sich als Photograph und Schauspieler durch. Auch wenn er in der hagiographischen Literatur als konsequenter Kämpfer gegen den „Zarismus“ dargestellt wurde, verweisen spätere Biographen darauf, dass er zwar 1910, 1911-1912 und 1913-1914 insgesamt zweieinhalb Jahre in Haft verbrachte, aber ausschliesslich wegen krimineller Delikte wie Geldfälschung und Betrug.[13] Von seiner Teilnahme an den Ereignissen der Februarrevolution 1917 ist nichts verzeichnet, dabei waren anarchistische Gruppen im Gouvernement Irkutsk durchaus aktiv.[14]Im Revolutionsjahr 1917 zählte die Bevölkerung der gleichnamigen Hauptstadt des Gouvernements Irkutsk ca. 90.000 Bewohner, von denen ca. 7.000 Industriearbeiter waren. In der Stadt waren vier Reserveregimenter stationiert, dazu je eine Division Kosaken und Artillerie, daneben befanden sich in der Stadt mehrere Lehranstalten für die Offiziere: eine Junkerschule und drei Fähnrichschulen. Entsprechend gross waren auch die Vorräte an Waffen und Munition.
Am 3. (16.) März 1917[15] wird in Irkutsk der erste Arbeitersowjet gewählt, am 5 (18.) März kam auch ein Sowjet der Militärdeputierten dazu. Im April kam der 1. Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten zusammen und wählte ein fünfzehnköpfiges Kreisbüro als exekutives Organ. Von den 152 Deputierten, welche die Gouvernements Irkutsk, Jenissej und das Transbaikalien-Gebiet repräsentierten, waren lediglich 15 Bolschewiki.[16] Die Mehrheit hatten die gemässigten Sozialisten: Partei der Sozialrevolutionäre (PSR). Die Sozialdemokraten in der Region waren Anfang 1917, im Unterschied zu Petrograd und Moskau, noch nicht gespalten in gemässigte Menschewiki und radikale Bolschewiki. Daneben existierte noch die im Sommer neugewählte Stadtduma, in der 11 Bolschewiki, 47 Sozialrevolutionäre, 12 Menschewiki und 11 liberale Konstitutionell-Demokraten (die sog. „Kadetten“) sassen.[17]
Insgesamt aber war die Basis für die radikalen Parteien in der Region dünn. In Sibirien gab es keine adeligen Grundbesitzer, alle Bauern waren frei und es herrschte kein Mangel an Boden. Sie unterstützten die Partei der Sozialrevolutionäre, was sich bei allen Wahlen deutlich zeigte. Unter den nationalen Minderheiten, wie den buddhistischen Burjaten oder den animistischen „Tungusen“ (damalige russische Bezeichnung für die Ewenken), waren politische Parteien wenig verankert. Entlang der Grenzen wohnten überwiegend Transbaikalien-Kosaken, die gegenüber Bauern und „Eingeborenen“ ständische Privilegien genossen. Allerdings waren im dünnbesiedelten Sibirien, das traditionell als Verbannungsort diente, aufgrund politischer und krimineller Delikte Verurteilte stark überrepräsentiert. In der Bergbauregion um die Stadt Tscheremchowo waren viele ehemalige Gefängnisinsassen und Verbannte beschäftigt.
Der Historiker Gennadi Chipchenow verweist darauf, dass in Ostsibirien die linksradikalen Kräfte (Bolschewiki, Menschewiki-Internationalisten, linke Sozialrevolutionäre, Anarchisten) sehr eng zusammenarbeiteten und dass sich in dieser Region die Bolschewiki verstärkt den marginalisierten Gruppen zuwendeten: Anarchisten, Verbannten, inhaftierten oder freigelassenen Kriminellen, Kriegsgefangenen der Mittelmächte aus den zahlreichen Gefangenenlagern sowie Parteimitgliedern, die erst nach Februar eingetreten waren.[18] Im Fernen Osten kamen häufig chinesische Arbeitsmigranten dazu. Die Radikalisierung der Sowjets speiste sich aus unterschiedlichen Quellen. In Tscheremchowo wurde der Anarchosyndikalist Alexei Bujskich (? – nach 1922) zum Anführer der Bergarbeiter. Der dortige Sowjet wurde von Anarchisten dominiert und forderte die Sozialisierung der Gruben. Bujskich führte auch die dortigen betrieblichen bewaffneten Strukturen, die Rote Garde, die unter dem Befehl des Sowjets stand, an.[19] In Krasnojarsk begannen die dortigen Bolschewiki, sich von den Menschewiki abzukapseln und damit den Druck auch auf ihre Mitstreiter in anderen Regionen Sibiriens zu erhöhen.
Nach Irkutsk wurden die erfahrenen Parteimitglieder Jakow Janson (Jēkabs Jansons) (1886-1938), Boris Schumjazki (1886-1938) und Nikolai Jakowlew (1886-1918) geschickt, welche die endgültige Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) forcierten. In Irkutsk selber sammelte Kalandarischwili, der sich nun offen als Anarcho-Kommunist bezeichnete, bewaffnete Anhänger um sich. Unter den Soldaten der Reserveregimenter stieg ebenfalls die Unzufriedenheit mit der Provisorischen Regierung in Petrograd, die den Krieg fortsetzte.
Im April 1917 wurde der 1. Kongress der Arbeiter-, Soldaten-, und Bauerndeputierten Ost-Sibiriens in Irkutsk abgehalten, an dem 132 Mandatsträger teilnahmen. Die Mehrheit hatten auch hier die gemässigten Sozialisten: Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) und Sozialdemokraten-Menschewiki. Noch im Sommer hatten sich die Irkutsker Bolschewiki nicht endgültig von den Menschewiki gelöst. Im Herbst eskalierte die Situation sichtbar. Im September riefen die Irkutsker Anarchisten zu einer Soldatenkundgebung auf, bei der die „Parteilose Union für die Gegenseitige Hilfe der Soldaten“ gegründet wurde. Zum Vorsitzenden wurde der Anhänger Kropotkins, Ilja Gejzman (1879-1938), gewählt.[20]
Die Organisation sprach sich für die Unterstützung des Kampfes zum „Schutz vor dem offiziellen [sic!] Deutschland“ und gegen die „innere Reaktion“ aus. Wenige Tage später kam es zur Meuterei der Soldaten, die zeitweilig den Kommandanten des Militärbezirkes, den Sozialrevolutionär Arkadi Krakowezki (1884-1937), festsetzten. Angeführt wurden die Soldaten vom Anarchisten Jefim Pereschogin, Infanterist eines der Reserveregimenter. Die Meuterei wurde von den Offiziersanwärtern niedergeschlagen. Pereschogin wurde als nicht zurechnungsfähig eingestuft und in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Seitdem betrachteten sich die Soldaten der Garnison und die „Junker“ als Feinde und versuchten die Entwaffnung der Gegenseite zu erzwingen.
Dass sich die Kräfteverhältnisse in den Sowjets auf verschiedenen Ebenen stark unterschieden, zeigten zwei fast parallel in Irkutsk stattfindende Kongresse. Der 2. Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten Ostsibiriens, der vom 11. (14.) bis zum 15. (18.) Oktober 1917 in Irkutsk tagte, sprach sich gegen die Machtübernahme durch die Sowjets und für die Unterstützung des gemässigten Kreisbüros aus. Doch seine Arbeit wurde unterbrochen, als die Delegierten aus den anderen Teilen Sibiriens in der Stadt eintrafen und ein neuer Kongress auf breiterer Basis begann.
Der 1. Gesamtsibirische Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-und Bauerndeputierten, der vom 16. (19.) bis zum 23. Oktober (5. November) 1917 in Irkutsk zusammentraf, umfasste auch die Deputierten aus der bolschewistischen Hochburg Krasnojarsk. Dieser Kongress mit 200 (nach den anderen Angaben: 184) Delegierten unter dem Vorsitz des Bolschewiken Alexei Okulow (1880-1939) kritisierte das sozialrevolutionär-menschewistisches Kreisbüro für die Unterstützung der Provisorischen Regierung und wählte am letzten Tag, einen Tag vor dem Beginn des Oktober-Umsturzes in Petrograd, das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets Sibiriens (Zentrosibir).[21]
Zentrosibir repräsentierte 70 Sowjets zwischen Tjumen und Wladiwostok, die zusammen die Sibirische Sowjetrepublik bilden sollten. Anfang November initiierten die Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre die Neuwahl der Sowjets in Irkutsk und Umgebung. Es wurde nach Petrograder Vorbild das Militärisch-Revolutionäre-Komitee (MRK) gegründet. Die Sowjets sollten zu den alleinigen Organen der Macht werden. Die Stadtduma und die Militärführung des Bezirkes gründeten ihrerseits das Komitee zum Schutz der Revolution. Beide Komitees beanspruchten die Kontrolle über die Verwaltungsorgane für sich.[22]
Der Versuch, die radikalisierten Regimenter zu entwaffnen und zu demobilisieren, gab das Fanal für ein bewaffnetes Kräftemessen. Vom 8. (21.) bis 17. (30.) Dezember fanden in Irkutsk Kämpfe statt zwischen den Anhängern von Zentrosibir, bestehend aus Roten Garden und Soldaten der Reserveregimenter, einerseits und Junkern und Kosaken andererseits. Mit über 300 Toten und ca. 700 Verletzten waren es die blutigsten Kämpfe während der Machtübername der Räte im Rahmen der Oktoberrevolution nach denen in Moskau. Kalandarischwili nahm daran mit einer aus der kaukasischen Diaspora heraus gegründeten sechsköpfigen Kavalleriedivision teil. Der inzwischen aus der Psychiatrie freigelassene Jefim Pereschogin nahm ebenfalls an den Kämpfen teil. Auch die Anarchisten aus Tscheremchowo eilten nach Irkutsk. Aus Krasnojarsk nahm unter anderem der dortige Anführer der Anarchisten Wladimir Kaminski (1889-?) mit einer anarchistischen Einheit der Roten Garde an den Kämpfen teil.[23]
Trotz zahlenmässiger Überlegenheit konnten die Anhänger von Zentrosibir ihr Stabsgebäude nicht halten, es wurde eingenommen und die darin sich befindenden 150 Personen gefangen genommen. Nach neun Tagen wurde in der stark zerstörten Stadt ein Friedensabkommen zwischen dem MRK und den Anhängern von Kreisbüro und Stadtduma unterschrieben. Es sollte ein gemeinsames Gremium aus den Vertretern des Sowjets, der Stadtduma, der lokalen Selbstverwaltung (Semstwo) und der Gewerkschaften gegründet werden. Doch einen Tag später bekamen die Sowjets Unterstützung aus Krasnojarsk – eine Batterie 152mm-Geschütze. Daraufhin erklärten die Sowjetdeputierten die Bedingungen des Friedensabkommens für unannehmbar und die Sowjets zu der einzigen legitimen Macht. Die Offiziersschulen wurden aufgelöst, der Rote Oktober hatte vorerst auch in Irkutsk gesiegt. Auf dem 2. Gesamtsibirischen Sowjet-Kongress im Februar 1918[24] wurden die Vollmachten von Zentrosibir bestätigt.[25]
Die erste Sowjetmacht
Kalandarischwili galt nun als Revolutionsheld der ersten Stunde. Während der ersten Periode der Räteherrschaft in Ostsibirien spielten die Anarchisten eine bedeutende Rolle im politischen und militärischen Apparat, auch wenn sie nie eine konsolidierte Fraktion bildeten. Das Zentrosibir beanspruchte für sich die Macht über riesige Gebiete. Doch das Exekutivkomitee, dessen Kompetenzen durch kein Statut oder normativen Akt festgelegt wurden, hatte kaum Macht über die Grenzen des Gouvernements Irkutsk hinaus. Es verfügte nicht einmal über einen eigenen Exekutivapparat, sondern sendete seine Dokumente an die Räteorganisationen vor Ort. Die örtlichen Sowjets sollten zweimal wöchentlich per Telegraph und zweimal monatlich schriftlich an Zentrosibir Rechenschaftsberichte schicken.[26]Die Sowjetstrukturen existierten jedoch faktisch weder in den Kosakengebieten, noch in den von nationalen Minderheiten bewohnten Orten. Ende April 1917 stimmte der in Tschita abgehaltene Kongress der Transbaikalien-Kosaken der Aufhebung des Standes zu – was eine Einmaligkeit unter allen Kosakenregionen Russlands war. Der zweite Kongress im August wurde jedoch von Frontheimkehrern dominiert, die die Beschlüsse des April-Kongresses zurücknahmen und die Wiederherstellung der alten Ordnung forderten.[27] Da die Kosaken über eigene Waffen und Pferde verfügten, stellten sie eine reale Bedrohung für die Sowjets dar.
In den vier Monaten, die Zentrosibir über reale Macht verfügte, wurden keine Versuche unternommen, eine neue Produktionsweise zu etablieren. Es wurden staatliche und kirchliche Ländereien enteignet und alle Schulden der Bauern wurden gestrichen. Die Landbevölkerung blieb jedoch unzufrieden – die neue Macht verlangte, Brot zu einem festen Preis abzugeben, der sechsmal unter dem Marktpreis lag, und verbot den freien Handel damit.[28] Die Nationalisierung der Banken, welche das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee (WZIK), das oberste Organ der Sowjets, bereits im Dezember 1917 verordnete, wurde lediglich partiell umgesetzt – Zentrosibir entsandte in die verbliebenen privaten Banken Kommissare, ohne deren Unterschrift keine Transaktionen stattfinden konnten.[29]
Eine Mobilisierung der Bauern für die Rote Armee wurde unter Zentrosibir kaum durchgeführt. Den von der Front zurückkehrenden Offizieren wurde ab dem 28. März 1918 die Einreise nach Ostsibirien ohne eine Genehmigung seitens der Sowjets untersagt.[30] Es kann auch nicht von einem „Roten Terror“ gesprochen werden, wie in einigen anderen Teilen des ehemaligen Russischen Reiches – die Ausserordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (Tscheka) wurde erst am 21. April 1918 gegründet. Hinrichtungen von echten und vermeintlichen Konterrevolutionären hatten aber auch danach sporadischen und nicht, wie zum Beispiel an der Don oder auf der Krim, systematischen Charakter.[31] Auch die Zensur der Presse war noch nicht etabliert.
Das Zentrosibir fungierte sowohl als Legislative als auch als Regierung. Zwar wurde auf dem 2. Gesamtsibirischen Sowjetkongress im Februar 1918 ein Rat der Volkskommissare (Regierungskabinett) gewählt, in dem der oben erwähnte Anarchist Ilja Gejzman zeitweilig für die äusseren Angelegenheiten zuständig war, aber schon bald wurde die Regierungsarbeit wieder vom Exekutivkomitee übernommen. Bis zu ihrer Auflösung am 2. Mai 1918 existierte noch formal die alte Stadtduma. Die neuen Organe der Räte waren noch im Entstehungsstadium.
Die Frage nach der Herstellung und Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols blieb für das Zentrosibir während seiner gesamten kurzen Existenz aktuell. Nicht nur dass die Kräfte nicht reichten, die reale Kontrolle auf das ganze beanspruchte Gebiet auszuweiten, auch innerhalb der bewaffneten Kräfte gab es immer wieder Konflikte, die gewaltsam ausgetragen wurden. So standen Kalandarischwili und andere Anarchisten immer wieder auf dem Kriegsfuss mit der Miliz und der Kriminalfahndung, die an die Stelle der alten Polizei traten. Immer wieder wurde den Anarchisten vorgeworfen, willkürlich „Kontributionen“ von der Bourgeoise zu erheben oder sich materielle Ressourcen anzueignen.
Am 25. April 1918 besetzten die Anarchisten sogar die Räume des Kriminalfahndungsbüros, nachdem zwei Anarchisten am Tag zuvor angeblich bei einem Festnahmeversuch an einem Tatort erschossen wurden.[32] Gleichzeitig gründeten sich immer neue bewaffnete Einheiten, die häufig nach Parteizugehörigkeit zusammengesetzt waren. So gestattete Militärkommissar Stremberg am 11. März 1918 die Gründung einer „internationalen Infanteriekompanie“ durch das Mitglied der „Föderation der anarchistischen Gruppen“ Foma Grech.[33] Generell wurde die niedrige Disziplin fast aller bewaffneten Verbände beklagt. Die Organe der Sowjets waren keineswegs überall mit Sicherheitskräften vor Ort präsent. Selbstjustiz der Bevölkerung gegenüber Pferde- und Taschendieben war an der Tagesordnung und forderte nach Ansicht des Historikers Georgi Chipchenow mehr Todesopfer als politische Repressionen.[34]
Kalandarischwili befehligte eine Einheit mit dem pathetischen Namen „1. Irkutsker Kavallerie-Abteilung der Anarchisten-Kommunisten-Internationalisten“. Für die politischen Prozesse in den Sowjets oder für anarchistische Programmdebatten schien sich Kalandarischwili nicht zu interessieren. Da die Irkutsker Sowjetmacht die Enteignung der besitzenden Klassen nicht konzentriert durchführte, haben die Anarchisten unter Kalandarischwili es als revolutionäre Aktion betrachtet, von ihnen immer neue Mittel gewaltsam zu erpressen. So haben sie mehrere Glücksspielrunden überfallen.[35]
Als die Abteilung im April an die Front gegen Semjonows Kosaken geschickt wurde, umfasste sie zwischen 600 und 700 Kämpfer. In den Monaten nach der Machtübernahme der Sowjets kam es immer wieder zu Beschwerden über die Anarchisten und ihre „Beschaffungsmassnahmen“. Für den Aufbau der eigenen bewaffneten Strukturen wurden immer wieder Pferde, Waffen und Textilien konfisziert. Dies wurde jedoch nicht besonders energisch bekämpft, zumal es der bolschewistischen Mehrheit von Zentrosibir an Kräften dafür fehlte. Es wurde nicht wählerisch in Bezug auf die Führungskräfte vorgegangen. Kalandarischwilis Kavallerie-Abteilung bestand aus drei Eskadronen, von denen eine von Ansor Karajew (?-1918) befehligt wurde.
Der ossetische Berufskriminelle Karajew war schon einmal in eine politische Affäre verwickelt. Als 1911 im so genannten „Beilis-Prozess“ von den zaristischen Behörden versucht wurde, die antisemitische Ritualmordthese zu belegen, bot sich Karajew den oppositionellen und revolutionären Kräften als Informationsbeschaffer und Provokateur an, doch stiess er dabei auf Misstrauen. Sein zweifelhaftes Hilfsangebot wurde abgelehnt, dennoch führte er sich in Irkutsk als überzeugter Anarchist und verdienter Revolutionsheld auf.[36]
Während zum Beispiel in Krasnojarsk die Bolschewiki bereits Ende 1917 gegen die bewaffneten anarchistischen Gruppen vorgingen – wobei Anarchosyndikalisten weiterhin unbehelligt agieren durften[37] –, lief in Irkutsk die Zusammenarbeit von Bolschewiki, linken Sozialrevolutionären und Anarchisten bis zum Ende von Zentrosibir im Sommer 1918 intensiv weiter.