Die NO-TAV-Bewegung Tal der Militanten

Politik

Die seit über einem Jahrzehnt andauernde NO-TAV-Bewegung gegen den Bau einer Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke durch das norditalienische Susa-Tal ist ein Lehrstück für revolutionäre Linke.

Aktivisten der NO-TAV-Bewegung.
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Aktivisten der NO-TAV-Bewegung. Foto: Ocelon1444 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

14. September 2018
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Die Septembersonne scheint zwischen den am Horizont sichtbaren Bergspitzen auf die steil ins Tal abfallenden Felswände. Ein Hund kratzt sich am Ohr, im Schatten eines Baumes geniesst ein alter Mann seine Zigarette und auf Bierbänken sitzen vierzig, vielleicht fünfzig Menschen zusammen. Junge, alte und die dazwischen. Sie essen hausgemachten Käse, Pasta und Weissbrot, trinken Rotwein oder Wasser und tratschen. Man spricht über eine rare Schmetterlingsart, die vor kurzem im Susa-Tal entdeckt wurde. Und natürlich über das Schandmal des Tales: Die Baustelle zur Errichtung einer Schnellzugstrecke zwischen dem französischen Lyon und dem nahegelegenen Turin.

Im Tal zwischen Susa und Venaus will keiner den Treno ad Alta Velocità, TAV. Und mit Ausdauer und Entschlossenheit stemmt sich die Bevölkerung zusammen mit militanten Linken seit mehr als einem Jahrzehnt gegen die Realisierung des milliardenschweren Bauvorhabens. Dabei geht es nicht nur um den Kampf gegen die Zerstörung der intakten Natur des Tales sowie die drastischen Eingriffe in den Lebensalltag der Anwohner durch das Milliardenprojekt. Von Anfang an spielte auch die Frage nach der demokratischen Legitimation eine Rolle: Ein Projekt für den Profit weniger, gehasst von der lokalen Bevölkerung, wird dennoch durch eine korrupte Regierung vorangetrieben.

Fabrikkämpfe und autonome Militante

Der NO-TAV-Kampf weist dabei viele Besonderheiten auf, die für eine revolutionäre Linke, die verankert sein will in Alltagskämpfen weit über die Region hinaus interessant sein können. „Die Bewegung ist insofern beispielhaft“, erklärt Francesco vom Turiner Sozialen Zentrum „Askatasuna“, „als es dem Staat nie gelungen ist, die verschiedenen Teile der Bewegung zu spalten, etwa entlang der Gewaltfrage.“ Dabei ist ihre Zusammensetzung äusserst divers: Von zuvor unpolitischen Dorfbewohnern über Umweltaktivisten über gläubige Christen und autonome Jugendliche bis zu ehemaligen Kadern aus dem bewaffneten Kampf der 1970er-Jahre.

Was auf den ersten Blick merkwürdig erscheint, wird durch einen historischen Rückblick verständlich. „Die NO-TAV-Bewegung kann man nicht isoliert von der Geschichte des Susa-Tals verstehen“, mahnt Francesco. „Das Tal war eines der ersten Industrialisierungsgebiete der Alpen“, bemerkt Francesco. Fabrikkämpfe hatten hier immer eine grosse Bedeutung. Im Zweiten Weltkrieg gab es dann eine starke Partisanenbewegung. Und in den 70er- und 80er Jahren wurde die Gegend zu einer Hochburg der militanten Linken. „Insbesondere Prima Linea hatte hier eine starke soziale Basis. Man kann das etwa an der Kleinstadt Bussoleno sehen. Von ihren 6000 Einwohnern sassen 600 wegen insgesamt während der 70er wegen ‚Terrorismus' angeklagt“, sagt Francesco.

Schon während des Baus einer Autobahn durch das Tal gab es in den 1990er-Jahren Kritik von linken und Unweltaktivisten. Aber die Linke war insgesamt auf dem Rückzug und so war der Kampf nicht zu gewinnen. Seine Erfahrungen sowie die weiteren Kämpfe gingen aber in die NO-TAV-Bewegung ein. „Man muss mindestens zwei weitere Komponenten der Vorgeschichte dieser Bewegung sehen. Es gab eine starke antimilitaristische Bewegung im Tal. In den Fabriken, die Waffen herstellten, wurde während des ersten Irakkriegs so heftig gestreikt, dass die militärische Produktion auf zivile umgestellt wurde. Dazu kommt eine auf Naturschutz ausgerichtete Bewegung, die sich schon früher gegen die Jagd auf bestimmte Tierarten wandte“, erklärt Francesco.

So wie ihre Traditionslinien war nun auch die NO-TAV-Bewegung von Anfang an divers: Von Anarchisten, die über das kommunale Leben in den Alpen sprachen, über kommunistische Alt-Autonome, Umweltbewegte und Anwohnern, die ihre Grundstücke in Gefahr sahen, bis zu gläubigen Katholiken, die sich gegen die Zerstörung der Erde wandten. „Am Anfang war es ein klassisches Beispiel für eine Not-in-my-Backyard-Bewegung. Aber das Besondere in diesem Tal ist eben der Umstand, dass dort viele revolutionäre Militante leben sowie dass es zur autonomen Bewegung in Turin gab“, erinnert sich Francesco.

Eine Protestkultur entsteht

Die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Elemente der Bewegung entsprach auch der Diversität der eingesetzten Mittel: Massenmobilisierungen von zehntausenden Menschen, militante Angriffe auf die brutal gegen die Demonstranten vorgehende Polizei, alltägliche Aufklärungsarbeit in den anliegenden Dörfern und Städten, hunderte und tausende kleinere Kundgebungen. Auch Petitionen und Klagen gibt es. Aber: „Die Leute haben rasch eingesehen, nur, wenn es wirklich Druck vor Ort gibt, macht es überhaupt Sinn etwas von der Regierung zu fordern. Aus einer Position der Stärke“, so Francesco.

Der gemeinsame Kampf ist im Susa-Tal in die allgemeine Kultur der Bevölkerung übergegangen. Wenn alte Menschen sterben, weht bei ihrer Beisetzung die NO-TAV-Fahne. An den Häusern auf dem Weg ins Tal sind grosse Wandbilder, die zum Widerstand aufrufen. Es werden eigene Lieder gegen die Cops gedichtet und die Katholiken nehmen die Verhinderung des kapitalistischen Mammutprojekts in ihre Gebete auf.

Die Breite des Widerstands ruft ihrerseits Widersprüche in der Lokalpolitik hervor. Bürgermeister stellen sich, sei es ernstgemeint oder aus Opportunität, auf die Seite der Protestierenden. Einmal, so erinnert sich ein Aktivist, habe man ein Wandbild direkt an der Strasse gemalt. Die Polizei kam, sackte die Grafitti-Künstler ein. Der lokale Bürgermeister und die Dorfbewohner bekamen das mit und unter Beschimpfungen älterer Frauen kutschierten die Cops die Maler zurück, um das Bild fertigstellen zu können.

Mit dem Wahlsieg der Fünf-Sterne-Bewegung wurden diese Widersprüche innerhalb der etablierten Parteien auf ein nationales Level gehoben. In Turin und im Susa-Tal hatten Fünf-Sterne-Politiker zuvor ebenfalls an den Protesten teilgenommen, das TAV-Projekt als Sinnbild für die Verkommenheit der italienischen Politik gebrandmarkt. Nun sitzen sie selbst in der Regierung, noch dazu mit der faschistischen Lega Nord, die den Bau der Schnellzugtrasse stets befürwortet. Ein erstes Versprechen, nämlich die Stacheldraht und Sperranlagen, bewacht von Militär und Polizei, zu entfernen, hat Fünf-Sterne jedenfalls bislang nicht umgesetzt.

Im Susa-Tal selbst ist man jedenfalls trotz der Wahl der ehemals auch auf NO-TAV setzenden Partei keineswegs in die Illusion verfallen, sich zurücklehnen zu können. „Spätestens 2005 haben die Leute im Susa-Tal verstanden, dass es möglich ist, den Willen des Staates durch direkte Mobilisierung zu brechen“, betont Francesco. Und diese Einsicht immunisiert gegen so manche Illusion.

Plansoll übererfüllt

Pünktlich um 15 Uhr versammelt sich die Picknick-Crew. Der Hund hört auf, sich an den Ohren zu kratzen. Der alte Mann, Bürgermeister einer der Gemeinden hier, stemmt sich aus dem bequemen Baumschatten empor und schnürt seine Wanderschuhe. Rucksäcke werden gepackt und der Marsch, etwa ein Kilometer, zur TAV-Baustelle beginnt.

Nach etwa 20 Minuten ist der Weg aber schon zuende. Der schmale Pfad wird unterbrochen durch eine mit Stacheldraht behangene Stahlkonstruktion. Hinter ihr steht das Who-is-Who der politischen Polizei Turins, kurz nach unserem Eintreffen verstärkt durch behelmte Bullen mit Schildern. Während ich noch überlege, was man da überhaupt noch tun kann, haben die ersten Senioren längst eine Akku-Flex, mehrere Bolzenschneider und Stangen aus den Rucksäcken gefischt und gehen ans Werk.

Es dauert ein paar Minuten, bis die Gegenseite entscheidet, wie sie reagieren will und die erste Gasgranate fliegt. Kurz ziehen sich alle zurück, Masken oder dergleichen trägt hier niemand. „Du bist aber mutig, brauchst eine Granate gegen einen alten Mann“, ruft einer. „Aus dem Süden rennt ihr weg, aber hier im Norden führt ihr euch auf“, spottet ein anderer. Lachend kommt der NO-TAV-Zug zurück ans Gitter. Es wird wieder gezwickt, geflext, geschnitten. Dann kommt die nächste Granate. Irgendwann, als es scherzhaften Streit um die Zählweise gibt, verstehe ich, dass man sich zuvor auf zehn Granaten geeinigt hatte, bevor man nachhause gehe.

Tränengas, Spottlieder und der Sound der Flex wechseln einander zwei Stunden ab. Dann ist das Plansoll sogar übererfüllt, bei 14 Granaten habe ich aufgehört zu zählen. Alle sind glücklich, man weiss: Bald ist wieder Picknick und das hier ist kein Sprint, sondern ein Marathon.

Peter Schaber / lcm