Das Zeitschriftenprojekt Apatris Anarchistische und libertäre Perspektiven auf Selbstorganisierung in Griechenland

Politik

Wer sich in Heraklion, mit über 300.000 Einwohner*innen die grösste Stadt der Insel Kreta (Griechenland), durch die Tavernen bewegt, wird sie vielleicht wahrnehmen. Eine Zeitschrift in ansprechendem Layout, die auf den ersten Blick wie eine grössere Tageszeitung wirkt.

Vollmond auf Kreta über der griechischen Stadt Heraklion.
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Vollmond auf Kreta über der griechischen Stadt Heraklion. Foto: C messier (CC BY-SA 4.0 cropped)

30. Januar 2017
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Mit rudimentären Kenntnissen des griechischen Alphabets wird mensch jedoch stutzig: ΑΠΑΤΡΙΣ („Apatris“, übersetzt: vaterlandslos oder stateless) steht als Name mittig im Kopfbereich. Links und rechts daneben sind auch nicht, wie bei vielen anderen Zeitungen in Griechenland üblich, die Silhouetten männlicher Politiker des griechischen Staates abgebildet, sondern der Kopf eines Jungen mit Molli und Subcommandante Marcos.

Beim Durchblättern fällt sofort die Bewegungsnähe der Zeitschrift auf – reich illustriert mit historischen und aktuellen Bildern, Zeichnungen und Symbolen antiautoritärer Bewegungen. Im Zuge der Notwendigkeit linker Gegeninformationen zu der alltäglichen rassistischen, sozialchauvinistischen und staatsaffirmativen Propaganda (in kapitalistischen Gesellschaften), wollten wir vom Lower Class Magazine mehr über dieses Projekt wissen.

Wir treffen uns mit Yiannis im „Evangelismo“, einem Squat direkt im Stadtzentrum. Er ist Mitglied des Redaktionskollektives und gewährt uns Einblicke in ein Medium, das bei seiner Gründung im Jahr 2008 eher als kleines, kurzfristiges Zeitschriftenprojekt gedacht war. Acht Jahre später werden alle zwei Monate über 18.000 Exemplare gedruckt und inzwischen landesweit verteilt.

Anlass der Gründung war die Räumung eines Squats und die Diskussionen, wie der Angriff des Staates auf selbstbestimmtes Wohnen der Bevölkerung vor Ort kommuniziert werden kann. „Wir wollten, dass wir einen einfachen Zugang zu den Leuten haben“, beginnt Yiannis. „Wir wollten, dass wir [als Zeitschrift] überall sind – nicht nur in Sozialen Zentren und Squats. Unsere Zielgruppe waren nicht Anarchist*innen und Linke, sondern der Rest der Bevölkerung.“ Die erste Sitzung des Redaktionskollektivs fand am 05. Dezember 2008 statt; einen Tag vor der Ermordung von Alexandros Grigoropoulos durch die griechische Polizei [1]: „Das war für unsere Idee natürlich ein grosser Schub nach vorne.“

„Apatris“ erschien erstmals im März 2009 mit einer Auflage von 2.000 Exemplaren. Obwohl sie nur als lokale Zeitschrift für Heraklion gedacht war, war sie innerhalb kurzer Zeit vergriffen. Die grundlegenden Überzeugungen sind seitdem geblieben: die Zeitschrift muss kostenlos erhältlich sein und alle Beteiligten unterstützen sie allein für die Bewegung – ohne Lohn. Mit der Zeit entwickelte sich „Apatris“ weiter und bezog andere grössere Städte auf Kreta mit ein (bspw. Chaina, Rethymno u.a.). Ab dem Frühjahr 2013 wurde das Projekt schliesslich landesweit ausgedehnt. Das Selbstbild folgt dabei dem anarchistischen Verständnis der lokalen Selbstorganisierung und dem notwendigen Aufbau einer Basis. Mit aktuell sechs Redaktionsteams sowie 40 Personen ist die Zeitschrift ein konkreter Ansatz, um antiautoritäre/ libertäre Informationen aus ganz Griechenland zu sammeln, aufzubereiten und bereitzustellen.

Ein solches Zeitschriftenprojekt, das nicht nur virtuell erhältlich, sondern physisch greifbar und kollektiv lesbar ist, bietet die Möglichkeit der direkten Weitergabe von Informationen und Analysewerkzeugen und ist auch im Kontext umfassender Digitalisierungsprozesse ein interessanter und zugleich simpler Schritt. „Eine Frage ist, warum wir eine Druckausgabe gewählt haben. Unserer Meinung nach können wir davon profitieren. Zum Ersten haben wir eine direkte face-to-face-Kommunikation mit den Menschen, da wir sie selbst verteilen.[…] ‚Apatris' liegt an öffentlichen Orten aus, wie Krankenhäusern und Busbahnhöfen[…]. So kann sie stets zirkulieren […]. ‚Apatris' ist eine Möglichkeit, Unterhaltungen zu führen […], und gibt auch Menschen ohne Technologie-Kenntnissen die Möglichkeit, unsere Zeitschrift zu lesen – gerade älteren Menschen, die eher zum Konservatismus tendieren.“

Selbstkritisch verglichen mit der oftmals vorherrschenden Praxis in der BRD, ist es geradezu erfrischend, solche back-to-the-basics-Ansätze zu sehen. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Kälte sollte es darum gehen, sich linke Grundfähigkeiten der Organisierung zurückzuerobern, anstatt selbstreferentiell Flyer in linken Kneipen und Buchläden zu verteilen, kritische Inhalte ausschliesslich auf eigenen Plattformen zu posten oder beim Flyerverteilen im öffentlichen Raum Gesprächen mit Menschen aus dem Weg zu gehen. Gerade für ländliche Regionen kann dies objektiv nützlich sein, wenn die dort lebende Bevölkerung Informationen mitzuteilen hat und Interessierte über die Zeitschrift mit anderen Menschen in Kontakt kommen können. Dazu merkt Yiannis an: „Ich bin sehr froh darüber, Genoss*innen und Gruppen stärken zu können, die an anderen Orten Griechenlands nicht so aktiv sein können.“

Aus einem anarchistischen Verständnis impliziert Kooperation auch immer (die Fähigkeit zu) Kritik; allerdings auf der Basis eines hierarchiefreien, solidarischen und dezentralen kollektiven Arbeitens. „Unser Pluralismus ist für uns etwas Positives. Wir sind gegen Sektierertum und Dogmatismus in unserer Bewegung“, stellt Yiannis klar. Doch natürlich werden die Inhalte auch im Zeitschriftenkollektiv diskutiert.

Mit einer solchen Einstellung hat sich „Apatris“ zu einem einflussreichen Projekt der Bewegung entwickelt, welches Diskussionen und Berichte aus vielen Städten nachvollziehbar und in verständlicher Sprache breiteren Bevölkerungsteilen anbieten kann. Die eigens zusammengefundenen Redaktionsteams sind dabei soweit autonom in ihrem Agieren, dass sie selbstständig Veranstaltungen planen, jedoch verbindlich das Erscheinen der jeweils nächsten Ausgabe mit ihren eigenen Inhalten sicherstellen.

Im Gegensatz zum low budget underground journalism klafft bei vielen (ehemals) ambitionierten Zeitungen und Zeitschriften eine Lücke zwischen dem eigentlichen Aktivismus und dem Schreiben darüber. Dieses Problem der grösseren, „linken“ und liberalen Zeitschriften hat „Apatris“ jedoch nicht: „Die Mitglieder der Redaktionsteams sind generell in der Bewegung und anderen Kollektiven aktiv“. Auch dadurch würde die Projektidee derzeit international Anklang finden – bis nach Frankreich und England.

Vor dem Hintergrund des schmutzigen EU-Türkei-Deals, der Schliessung der europäischen Aussengrenzen sowie der nationalen Grenzen in Südost-Europa, sitzen derzeit noch ungefähr 60.000 Menschen illegalisiert in griechischen Städten oder in Lagern auf den Inseln und dem Festland fest.

Gerade auf diese Menschen beziehen sich viele progressive Kräfte in Griechenland solidarisch. [2] Daher ist auch von „Apatris“ eine Ausgabe in arabischer Sprache (mit 15.000 Exemplaren) sowie auf Farsi veröffentlicht und aktiv in Lagern verteilt worden. „Internationalismus muss unser Ziel und die Weise sein, unsere Politik zu machen“, unterstreicht Yiannis. „Besonders wenn wir einen Aufstieg des Faschismus […] und des Rassismus in ganz Europa haben.“ Das ist ein wichtiger Weg, denn bisher sind auch in der BRD nur zaghaft grössere politische Organisierungsprozesse mit geflüchteten Menschen eingegangen worden.

Erwartungsgemäss lässt Yiannis die neoliberale SYRIZA-ANEL-Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras kalt: „Wir waren schon vom ersten Tag an kritisch.“ Statt sich über den neoliberalen Backlash und die Elendsverwaltung durch die griechische Regierung zu beschweren, setzt „Apatris“ im Rahmen der Medienarbeit von unten einen konkreten Ansatz entgegen. Den Aspekt der Selbstorganisierung begreifen die Menschen hinter dem Projekt auf vielfältige Weise; zum Einen im kollektiven Arbeiten, zum Anderen im Verbreiten der Ideen der praktischen Selbstverwaltung durch die Artikeln in Sozialen Zentren, Kollektivbetrieben u.v.m. sowie in der Unterstützung lokaler Gruppen und Personen. Es bleibt, die Idee weiter auszubauen, lokale Mediennetzwerke gegen staatliche Propaganda und rassistischer Hetze zu gründen und zu supporten, politische Gruppen und Einzelpersonen über den eigenen Twitter-Facebook-Website-Statistics-Wahrnehmungsbereich zu gesellschaftlicher Wahrnehmbarkeit zu führen. Von der Methode und dem Anspruch – von „Apatris“ lässt sich dabei einiges lernen.

Felix Protestcu / lcm

Fussnoten:

[1] Alexandros Grigoropoulos wurde am 06. Dezember 2008 im Athener Exarchia von Polizisten ermordet. Detaillierte Informationen dazu unter: https://www.thepressproject.gr/article/52639/The-Murder-of-Alexandros-Grigoropoulos