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Nach der Räumung in Calais – wie weiter? | Untergrund-Blättle

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Über Fluchtursachen sprechen! Nach der Räumung in Calais – wie weiter?

Politik

Die Räumung des Flüchtlingslagers in Calais führt weder zum Verschwinden dessen Bewohner, noch zu einer Änderung des Umgangs mit Geflüchteten. Ein Diskurs auf Augenhöhe über Fluchtursachen und das gesellschaftliche Miteinander wäre bitter nötig.

Der «Dschungel» in Calais, Januar 2016.
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Der «Dschungel» in Calais, Januar 2016. Foto: malachybrowne (CC BY 2.0 cropped - colored)

24. November 2016
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Calais wird geräumt. Hundertschaften von Polizisten durchkämmen das Lager systematisch und dutzende Busse verteilen die ehemaligen Bewohner in Auffangzentren im ganzen Land. Die Auflösung des Lagers führt aber nicht zum Verschwinden dessen Bewohner und auch nicht zu einer Änderung des Umgangs und des Diskurses mit und über Geflüchtete. Genau eine solche Änderung wäre aber nötiger denn je, denn es wird auf der ganzen Welt über Geflüchtete gesprochen, jedoch zumeist unter Ausschluss der Geflüchteten selbst.

Das Lager – ein politfreier Raum

Das passierte leider in vielerlei Hinsicht auch in Calais – nicht nur ausserhalb, sondern auch innerhalb des Camps. Es gibt praktisch keine Gefässe oder Veranstaltungen um die Ursachen und Folgen der Flucht zu diskutieren, um das europäische Migrationsregime zu kritisieren oder gemeinsam neue Alternativen zu entwickeln. Die einzelnen Gemeinschaften im Lager, die sich strikt an der Herkunft der Geflüchteten orientieren, haben nur wenige Berührungspunkte, abgesehen von den Treffen der Community Leaders mit NGOs und Behördenvertreter*innen. Und auch bei den täglichen Arbeiten im und um das Camp gibt es eine klare Trennung – nicht zwischen einzelnen Gruppen von Geflüchteten, aber zwischen diesen und den Helfern der NGOs.

Es entsteht durch diese Dienstleistungsbereitstellung eine Art politfreier Raum, welcher nur verwaltet wird und in welchem den Geflüchteten sämtliche Arbeit abgenommen werden muss, weil angenommen wird, dass sie die Arbeit nicht selber erledigen können. Es ist ein Raum, in welchem Diskussionen nicht geführt werden, weil der (zeitweilige) Friede zu zerbrechlich ist für kontroverse Diskussionen, weil keine Solidarität vermutet wird und kein Bedürfnis besteht, gemeinsame Perspektiven zu erschaffen, oder kontroverse Themen zu diskutieren.

Über Fluchtursachen sprechen!

Genau das sollte jedoch geschehen, denn nur dann kann sich ein kollektives Verständnis herausbilden, welches die Geflüchteten nicht in Herkunftsregionen unterteilt und die Helfer und Aktivisten nicht zu Dienstleistern degradiert, sondern aufzeigt, dass wir alle gemeinsam in derselben Situation gefangen sind. Es ist das Gefängnis einer exklusiven Gesellschaft, die „ihren Reichtum“ bewahren will, koste es was es wolle. Die westliche Welt ist auf beiden Augen blind. Denn die Ausbeutung der Welt wird durch Freihandelsverträge und das konsequente Vorantreiben der globalisierten Wirtschaft laufend zementiert. Die Folgen sind bekannt, nur damit auseinandersetzen will sich unsere Gesellschaft nicht. Wir müssen das aber tun, und zwar durch einen Diskurs auf Augenhöhe, der schwierig, emotionsgeladen und nicht immer angenehm sein, uns aber weiterbringen wird. Keine Mauer der Welt wird Menschen davor abhalten vor Armut, Gewalt, klimatischen Veränderungen und Unterdrückung zu fliehen. Deshalb muss endlich über die Ursache von Flucht gesprochen werden!

Die Kolonialisierung ist noch lange nicht überwunden, denn noch immer unterteilt die koloniale Grenzziehung die Welt in Staaten, die über Regionen gestülpt wurden, mit dem Verweis, dass nur so gesellschaftliche Emanzipation stattfinden kann. Menschenrechte wurden als Wegweiser für eine Welt in Frieden angesehen, und Entwicklung gemessen in wirtschaftlichem Wachstum galt als Motor für Prosperität und Moderne. Profitiert haben davon wenige, denn auch wenn immer wieder darauf verwiesen wird, welch ein Erfolg der Aufstieg der Mittelklasse doch sei, so wird bei genauerer Betrachtung schnell klar, dass das die eigentlichen Auswirkungen dieses Systems diesen Erfolg verwässern.

Das System des globalen Markts ist das Problem

Die unzähligen Grenzkonflikte machen deutlich, wie brüchig die staatlichen Gebilde sind. Die Unterdrückung vieler Minderheiten zeugt von der Exklusivität des liberalen Nationalstaats. Und die Bemühungen der reichen Länder, ihre Vormachtstellung durch Verträge wie TTIP zu zementieren und ihre Grenzen mit aller Vehemenz zu schützen, zeigen exemplarisch, dass unsere Welt vom Prinzip Wettbewerb beherrscht wird. Es herrscht ein weltweiter Wettbewerb um Marktanteile, um Ressourcen, um Reichtum, nicht nur zwischen Unternehmen, sondern auch zwischen Individuen, Gruppen, Kulturen und Staaten.

Es mag sein, dass uns dieses Prinzip mehr Reichtum verschafft hat und wichtige technologische Errungenschaften dank Wettbewerb erzielt werden konnten, aber zu welchem Preis? Die Aufrüstungstendenzen sollten uns genauso Sorgen machen wie das Wiederaufkeimen von Rassismus und Nationalismus und die Unfähigkeit des Systems den Reichtum gerecht zu verteilen ist genauso skandalös wie die täglich stattfindenden Schäden an der Umwelt. Das homogenisierende Korsett des globalen Marktes bedroht die Vielfältigkeit unserer Welt – kulturell und biologisch. Es ist dieses System mit seinen verschiedenen Einflussfaktoren, von dem die westliche Hemisphäre überproportional profitiert, dieses System, das gewissen Menschen unvorstellbaren Reichtum bringt, während andere verhungern, dieses System, in welchem Entscheidungen im Namen des Volkes in klimatisierten Räumen fernab der leidenden Bevölkerung getroffen werden. Es ist dieses System, das von Widersprüchen nur so strotzt. Was, wenn genau dieses System das Problem ist?

Alternativen entwickeln

Wir sollten nicht nur immer über dieses System, sondern zwingend auch über Alternativen dazu diskutieren, die Möglichkeiten nutzen, um einen inklusiven und keinen exklusiven Diskurs zu führen, gemeinsam Ideen entwickeln, die Solidarität an die Stelle von Wettbewerb und Vernunft an die Stelle von Gewinnmaximierung stellen. Nur so entsteht die Möglichkeit, einen Weg in Richtung eines gesellschaftlichen Miteinanders zu gehen und entschlossener das zu benennen, was uns unterdrückt und bedroht. Dies sind ganz bestimmt nicht migrierende Menschen, sondern die Zerstörung der Umwelt, die Produktion von Waffen und die ungleiche Verteilung von Ressourcen. Gemeinsam müssen wir die Klassifizierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, den Ausschluss von Migrant*innen aus unserer Gesellschaft und die Kriminalisierung von Flucht bekämpfen und uns täglich vor Augen halten.

Switzerland 4 Calais / papierlosezeitung.ch

Switzerland 4 Calais ist eine Gruppe von Freundinnen und Freunden, die sich in Calais getroffen haben. Sie sammelt Geld, fährt nach Calais, unterhält sich im Camp und überlegt, was es gerade am dringendsten braucht. Switzerland 4 Calais versteht sich nicht als Dienstleister, sondern entscheidet in einem kollektiven Prozess mit den Bewohnern des Camps, was mit den Spenden passiert. Ein Spendenaufruf und Kontaktangaben finden sich hier.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-SA 3.0) Lizenz.

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