Struktureller Rassismus in den Reihen der Ordnungskräfte Frankreich: Anmerkungen zur Polizei und den Vorstädten

Politik

Man könnte von der Polizei das gleiche wie von der Armee sagen, dass sie eine zu ernste Sache sei, als dass man sie Polizisten überlassen dürfe; aber man darf nicht vergessen, dass der Kapitalismus die Generäle Krieg so lange nach ihrem Gutdünken hat führen lassen, wie es sachdienlich war, das zu tun.

Polizeikadetten des «College of Rouen-Oissel» bei einer Parade auf der Champs-Élysées in Paris, Juli 2013.
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Polizeikadetten des «College of Rouen-Oissel» bei einer Parade auf der Champs-Élysées in Paris, Juli 2013. Foto: © Marie-Lan NguyenWikimedia Commons (CC BY 2.5 cropped)

20. März 2017
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Wie jede Institution geniesst die Polizei eine relative Autonomie bezüglich ihrer internen und externen Autoritäten: dem Staat, ihrer eigenen Hierarchie gegenüber. Diese Autonomie existiert auf jeder Ebene: auf der Strasse, im Polizeiposten genau wie im Polizeipräsidium verteidigt die Polizei ihre eigenen Interessen, als Stand und als Institution. Doch sie ist stets vom Staat abhängig. Als Stand hängt die von den materiellen und rechtlichen Mitteln ab, welche der Staat ihr zugesteht, als Institution von ihrer ideologischen Rechtfertigung durch den Staat, von der sogenannten Doktrin in Sicherheitsfragen.

Diese Doktrin stützt sich selbst auf eine allgemeine Einschätzung der Situation durch den Staat, auf seinen Standpunkt. Es ist eine theoretische und strategische Form, die sich auf die Voraussetzungen des Staates stützt, und zwar einerseits auf ihre eigene Legitimität, andererseits auf ihre Besonderheit, welche es ist, den Klassenverhältnissen entsprechend gemäss ihm wirksamen Kategorien, d.h. unter der herrschenden Klasse, Form zu geben. Die Polizei ist auf ihrer Ebene, welche jene der als legitim betrachteten Gewalt ist, dafür verantwortlich, dieses Klassenverhältnis in einer bestimmten, vom Staat entschiedenen Form aufrechtzuerhalten.

Wenn sich die Polizisten als Stand weigern, dem Staat bezüglich dieses oder jenes Punktes zu gehorchen (wie im Fall, als sie sich weigerten, ihre Kennnummer zu tragen z.B.), stellen sie den Staat oder seine Doktrinen nicht mehr in Frage als die Gewerkschafter der CGT Energie die Atomkraft. Doch die Autonomie der Polizisten, welche ihren Überdruss zur Schau stellen, hat eine besondere Konnotation, denn was bleibt vom Staat übrig, falls die Polizei ihm nicht mehr gehorcht? Und welcher Staat würde auf einen Staat ohne Polizei folgen, ohne dass letztere ihre Funktion aufgäbe? Man kann einerseits sagen, dass jeder Staat ein Polizeistaat ist, insofern, als dass er nicht ohne Polizei auskommen kann, und andererseits, dass es die einen mehr sind als andere, was von Bedeutung ist.

Das Interesse der Polizei als Stand ist es, dass ein Polizeistaat existiert. Die Polizei ist für einen Polizeistaat genau wie die Bahnarbeiter für den kombinierten Verkehr auf Schiene und Strasse sind. Die Polizei bevorzugt den Front national genau wie die Arbeiter vor 30 Jahren die KP bevorzugten. Doch der Staat wird erst zu einem eigentlichen Polizeistaat, wenn es die Umstände erfordern, d.h. wenn die Polizei zum besten Regierungsmittel wird, und diesbezüglich kann man sich durchaus Sorgen machen.

In Frankreich hat die Ethnisierung der Arbeit zusammen mit der geographischen Zuweisung der Massen von rassialisierten Proletariern zu einer Situation geführt, wo die Unterschiede in der Behandlung zwischen einem nicht einmal zwingend sehr reichen Stadtzentrum und den Vorstädten deutlich werden. Sieht man in den Stadtzentren Polizeipatrouillen Leute an die Wand drücken, ihre Papiere zwei oder drei mal pro Tag kontrollieren, ihnen Ohrfeigen geben und sie täglich beleidigen? Solche Machenschaften würden als skandalös betrachtet, es ist jedoch der Alltag der Bewohner der Vorstädte, besonders der jüngeren unter ihnen.

Das Klassenverhältnis in Frankreich ist auf der Zuweisung wenig qualifizierter Arbeit zu einer aus den ehemaligen Kolonien kommenden Arbeitskraft aufgebaut, was in einer immer komplexer werdenden Arbeitsteilung die Weiterbildung eines grossen Teils der Arbeiterklasse erlaubte, ohne dass die Löhne in die Höhe schossen. Diese Teilung ist strukturell geworden, sprich „natürlich“. Die französische Mittelklasse hat sich selbst auf dieser ethnischen Arbeitsteilung aufgebaut, das passte für (fast) alle: Es waren die (fast) Glorreichen Dreissig.

Mit der Restrukturierung der 1970er und 1980er Jahre, dem Abbau der grossen Arbeiterzentren und der Entwicklung der „neuen Städte“ ist diese rassische Zuweisung des am meisten ausgebeuteten Teils des Proletariats mit einer geographischen Zuweisung ergänzt worden, während die Massenarbeitslosigkeit strukturell wurde. Die weisse Arbeiterklasse, die Arbeiter mit „weissem Hemd“ (qualifizierte Arbeiter, Meister), haben zu diesem Zeitpunkt die Vorstädte progressiv den rassialisierten Arbeiter und ihren Familien überlassen, bis die Arbeit, so wie man sie gekannt hatte, gänzlich verschwindet.

Die Vorstädte in Frankreich sind heute der Ort, wo die Überschüssigen des restrukturierten Kapitalismus massiv zugewiesen werden, doch man muss sich über den Begriff „Überschüssige“ einig sein. Die Überschüssigen sind nicht „zu viel“, überflüssig, sie arbeiten. Sie arbeiten allerdings in Sektoren, wo die Prekarität endemisch, die Flexibilität, die Verträge kurzer Dauer oder die schlichte Vertragslosigkeit usw. die Regel sind. Das Resultat hat nicht auf sich warten lassen: Vorstädte, wo die Bevölkerung drei mal häufiger arbeitslos ist als anderswo, isoliert von den von der oberen Mittelklasse begehrten Stadtzentren, geographisch isoliert, aber trotzdem mit jenen Stadtzentren verbunden, wo man Arbeit findet. Mit der Arbeitslosigkeit kommen auch die Kriminalität und der Deal und für die Polizei ist es einfach, ihre Handlung so zu rechtfertigen, doch man sollte nicht scherzen: Die Vorstädte Frankreichs sind nicht das Kartell von Medellín, denn falls das der Fall wäre, könnten die Polizisten nicht in aller Ruhe dort zu viert spazieren und den Jungen Ohrfeigen verteilen. Die Realität der Vorstädte ist, wie sonst überall, die Arbeit und zwar jene, die niemand sonst will.

In diesem Kontext spielt die Polizei ihre Rolle, welche es ist, diesen Sachverhalt durch Zwang aufrechtzuerhalten, indem jene, welche ihn erdulden müssen, stets daran erinnert werden, dass es noch schlimmer sein könnte. Und die Ungerechtigkeit selbst hat, wenn man sie täglich erdulden muss, einen funktionellen Sinn: Wer bereit ist, in aller Ruhe eine Polizeikontrolle zu erdulden, um seine Arbeit nicht zu verlieren, wird auch bereit sein, eine unbezahlte Überstunde zu leisten, um sie zu behalten. In diesem Sinne sind die Vorstädte keine vergessenen, sondern besondere Zonen, die einer besonderen Behandlung unterworfen sind.

Diese besondere Behandlung weist die Eigenschaften eines lokalisierten Polizeistaates auf: der permanente Verdacht gegenüber gewissen Personen, die Brutalität zur Regierungsweise erhoben, die Negation jener Rechte, welche der einzige Schutz für die Bürger vor ihrem eigenen Staat sind, der Ruf zur Ordnung, der auch ein Ruf zur Arbeit ist. Diese Situation ist in der Welt weit verbreitet, sie existiert bei uns in gewissen Zonen.

Im Alltag existieren die Polizisten in den Vorstädten als eine Gruppe bewaffneter Männer, welche die Herrschaft der rassischen Ordnung als gesellschaftliche Ordnung garantiert. Der Rassismus in ihren Köpfen ist ihrer Funktion unmittelbar adäquat. Die rassistische Beleidigung und die Gewalt sind keine Ausnahmen, sondern die Regel, wie es all jene wissen, die auf der Strasse mit der Polizei zu tun hatten.

Es gibt nicht einerseits den individuellen Rassismus der Polizisten und andererseits den strukturellen Charakter des Rassismus: Es ist sehr wohl die allgemeine rassische Struktur dieser Gesellschaft, die aus den Polizisten rassistische Individuen macht.

Die Polizisten agieren nicht nur als rassistische und gewaltbereite Individuen sondern als Stand, der als solcher auf konsistente Art und Weise diesen strukturellen Rassismus übernimmt und ihn verteidigt. Keine Polizeigewerkschaft wird die Politik der rassischen und geographischen Segregation verurteilen, die täglich von der Polizei angewendet wird. Im Gegenteil, es wird darum gehen, mehr Mittel zu bekommen, um diese Aufgabe gut zu erfüllen. Die Tatsache, dass die Polizisten während einer Demonstration gegen Polizeigewalt scharf schiessen, während am nächsten Tag über ein Gesetz abgestimmt werden muss, dass die Regeln der legitimen Verteidigung der Polizei erweitert, zeigt zur Genüge, dass die Polizei – als „Körperschaft“ - sehr wohl weiss, was sie tut und was sie erreichen will.

Die Polizei ist nicht als solche verantwortlich für die besondere Behandlung, welche einer gewissen Kategorie von Individuen entsprechend ihrer Hautfarbe vorbehalten ist, doch ihre Arbeit ist es, diese Situation fortbestehen zu lassen, weil sie für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich ist und es eben diese Ordnung ist, die sie aufrechterhalten muss. Das ist ihre Funktion, genau wie es die Funktion aller Institutionen der Gesellschaft ist, vom Gericht bis zur Schule, sobald die rassische Unterscheidung strukturell geworden ist. Die Besonderheit der Polizei ist es, dass sie sie durch Zwang wahren muss. Sie will die dafür notwendigen juristischen und materiellen Mittel und solange das ihre Funktion ist, wird der Staat sie ihr geben, nicht weil er sich vor seiner Polizei fürchtet, sondern weil es in Übereinstimmung mit der von ihm geführten Politik ist. Es bleibt ihm nichts anders übrig, als das Fehlverhalten zu verurteilen, als Sanktionen zu versprechen, die nie kommen (was „die Justiz ihre Arbeit machen lassen“ genannt wird), und eventuell in der Person des Präsidenten deren Opfer am Krankenbett zu besuchen.

Die Polizei ist eine absolut unproduktive Körperschaft. Man muss sich also nicht wundern, dass die Polizisten ihren eigenen Rassismus nicht erfunden haben, genauso wenig wie den Sexismus und die gesellschaftliche Verachtung, die sie jedem gegenüber zeigen, welcher nicht im Anzug daherkommt, sie sind das Produkt einer Gesellschaft, welche die Zuweisungen bezüglich Geschlechterrollen, Rasse und Klasse als Bedingungen des Reichtums einiger zementiert und die Individuen trennt, indem sie jedem in der allgemeinen Arbeitsteilung einen Platz zuweist.

Doch es kommt vor, dass ein 27 Jahre junger Mann, der eine Uniform trägt, einen Schlagstock in den After eines 22-jährigen schwarzen Mannes rammt, und dass das die untragbare Situation perfekt zusammenfasst.

In Anbetracht dessen sind die Ausschreitungen, welche bei jedem „Tropfen“ ausbrechen, welche das sich stets füllende Glas zum Überlaufen bringt, offensichtlich in jedem Sinne notwendig. Weniger offensichtlich ist die Beschaffenheit einer politischen Sichtbarkeit der „Vorstädte“, dieser Begriff selbst schafft es nicht, alle bestehende rassische Unterdrückung und besondere Organisation der kapitalistischen Ausbeutung auszudrücken.

Die Kritik der Polizei, welche die gemeinsame Realität derart verschiedener Situationen ist, könnte der Ausgangspunkt sein für besser abgestimmte Kämpfe, welche das Schweigen und die Unsichtbarkeit beenden und zu anderen Antworten als polizeilichen zwingen. Wenn es auch utopisch scheinen mag, die Gewalt der Polizei in den Vorstädten im Rest des Territoriums als das darzustellen, was sie ist, so ist es vielleicht möglich, die bestehende Diskrepanz zwischen den beiden sichtbar zu machen, was schon viel wäre, denn für einige ist eine gleiche Justiz schon zu viel verlangt.

Wir müssen noch herausfinden, ob diese einmal sichtbar gemachte Diskrepanz jene, welche auf der guten Seite sind und dort bleiben wollen, nicht eher beruhigt denn empört. Doch das ist eine andere Geschichte und der Gegenstand anderer Traurigkeiten.

carbureblog.com

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net