Gegen die hässlichsten Züge der bestehenden Ordnung Flüchtlingssituation: Solidarität ohne Würde ist keine Option

Politik

Im Sommer 2018 machten sich 47 Prozent der Deutschen „grosse Sorgen“ über die „Flüchtlingssituation“. Das hat eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ergeben.

Flüchtlinge auf einem Boot im Mittelmeer vor der griechischen Insel Lesbos, Januar 2016.
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Flüchtlinge auf einem Boot im Mittelmeer vor der griechischen Insel Lesbos, Januar 2016. Foto: Mstyslav Chernov/Unframe (CC BY-SA 4.0 cropped)

19. Oktober 2018
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Menschen ertrinken im Meer zu dieser Zeit, im Sommer 2018 bereits ungefähr 1.400 seit Beginn des Jahres, wahrscheinlich mehr. Da kann, da sollte man sich schon sorgen, dass nicht noch mehr ertrinken. Aber die Sorge gilt gar nicht den Menschen in Not. Sie ist kein Ausdruck von Solidarität mit den Schwächsten. Die Sorge gilt dem eigenen Lebensstandard, dem Lebensmodell. Die gleiche Studie misst einen Anstieg der potenziellen AfD-WählerInnen von 13 auf 15 Prozent der Wahlberechtigten. Wenn auf dem Gipfeltreffen der EU zur gleichen Zeit die „europäische Solidarität“ eingefordert wird, ist das ebenfalls keine Sorge um die Ertrinkenden und eigentlich auch keine Solidarität: Rechte Regierungen wie diejenige Italiens, die geretteten Flüchtlingen das Ankommen auf ihrem Territorium verweigern, wollen nicht länger „alleingelassen werden“.

Sie, die Flüchtenden mit allen staatlichen und privatisierten Mitteln die Einreise verweigern, stellen sich als Schwache dar und fordern „Solidarität“ ein. Eine perfide Nutzung des Begriffs. Eine Politik der Niedertracht in Wort und Tat, die das Wort für politische Unterstützung vor allem gegen Andere in Anschlag bringt. Das eingeforderte Zurseitestehen soll nicht der Entwicklung aller dienen, sondern nur bestimmten Leuten nutzen und den anderen schaden. Sie ist wirklich mörderisch, diese „europäische Solidarität“.

In einem Text zur Frage der Solidarität im Klassenkampf schrieb der Historiker, Anarchist und Anarchismus-Historiker Max Nettlau (1865-1944), dass Solidarität ohne Würde nicht zu denken sei. Es braucht so etwas wie individuelle moralische Integrität, die die kollektive Bezugnahme, das Solidarisch-Sein unterfüttert. Solidarität und Würde gehören zusammen. Würde ohne Solidarität führe nur zu individualistischer Selbstsucht und Karrierismus.

Solidarität ohne Würde nur zu Abgrenzung. Solidarität ohne persönliche Würde ist eigentlich nur Kumpanei und Ressentiment gegenüber anderen. Sie ist gerade das – der Satz scheint wie auf das Jahr 2018 zugeschnitten –, „was wir um uns herum sehen, was uns in jeder Minute verletzt: Solidarität der kompakten Majorität mit den hässlichsten Zügen der bestehenden Ordnung: Konkurrenz, Patriotismus, Religion, politische Parteien usw.“ (1)

Dieser Art ist die „europäische Solidarität“ der Protofaschisten in Italien und ihrer Rechten und Ultrarechten Kumpanen in Österreich und Ungarn und in der AfD. Diese Art von „Solidarität“ (ohne Würde) zielt nur auf die „eigenen Leute“, auf die vermeintlich Gleichen.

Auch wenn sie sich strategisch in Stärkere und Schwächere aufspalten, wie im Falle der italienischen Forderung. Es sind immer die gleichen und die immer gleichermassen lächerlichen und brutalen, einfältigen und zwingenden Losungen, die die „Alternative für Deutschland“ oder „Deutschland den Deutschen“ (NPD) oder „Österreich Zuerst“ (Jörg Haider 1992/ Peter Pilz 2016) fordern und behaupten die „Wahren Finnen“ etc. zu sein. Es ist leider auch die „Solidarität“ ihrer WählerInnen, die in Abschottung das Heilmittel zur Garantie von Karriere, Kleinwagen und Konsum sehen. Und das sind nicht wenige.

Sie finden sich in allen gesellschaftlichen Schichten, im sogenannten abstiegsbedrohten KleinbürgerInnentum vielleicht noch am meisten. Irgendwo zwischen den 15 und 47 Prozent in Deutschland, anderswo gegenwärtig mehr, auch in den Milieus der Arbeiterklasse. Machen wir uns nichts vor. „Der Fortschritt der Arbeiterbewegung scheint sich verzweifelt langsam zu entwickeln“, befand schon Nettlau vor rund 120 Jahren. „Ideen, die uns so klar, so selbstverständlich und annehmbar erscheinen, stossen oft auf eine so ungeheure Menge von Vorurteilen und Gleichgültigkeit, dass es zweifelhaft erscheint, ob die grossen Massen sie jemals bewusst und ernsthaft sich zu eigen machen werden […].“ (2)

Eine dieser Ideen ist die der Solidarität – mit Würde und ohne Anführungszeichen. Es gibt wohl kaum ein abschreckenderes Beispiel für „Solidarität“ auf Kosten anderer als das gegenwärtige Grenzregime des europäischen Staatenverbandes mit seiner Frontext-Privatarmee, die sich gegen Menschen richtet, die nach einem besseren Leben suchen. Die erste Herausforderung für wirkliche Solidarität besteht ganz offensichtlich also darin, sie nicht auf Kosten anderer zu üben.

Die zweite Herausforderung für Solidarität besteht darin, sie nicht als Hilfe unter Gleichen zu denken. Solidarität basiert auf der Anteilnahme am Leiden anderer, sie setzt Gleichheit gerade nicht voraus. Sie sollte Gleichheit nicht voraussetzen. Egal, ob die vermeintliche Gleichheit der „solidarischen“ EuropäerInnen, die dann die Grenzen schliessen, oder die vermeintliche Gleichheit der Proletarier aller Länder, die sich vereinigen sollten und es dann doch nicht taten. Solidarität – mit Würde und ohne Anführungszeichen – sollte nicht Gleichheit zum Ausgangspunkt nehmen, sondern Unterschiedlichkeiten.

Sich mit denjenigen zu verbünden, die einer oder einem ähnlich sind, ist weder Aufwand noch Kunststück (und trotzdem schwierig genug, siehe die Geschichte der Arbeiterbewegung). Die wirkliche Herausforderung besteht darin, sich mit Menschen gemein zu machen, sich verbindlich – solidarisch kommt vom Lateinischen solidus: echt, fest – für sie einzusetzen, wenn sie nicht das gleiche Schicksal, nicht das gleiche Milieu, nicht die gleichen Lebensgewohnheiten teilen. Und zu ertrinken drohen.

Der postanarchistische Theoretiker und Aktivist Richard J.F. Day hat das mal „groundless solidarity“ genannt, was sich als Solidarität ohne gemeinsame Basis übersetzen liesse. (3) Der Begriff, den er von der Feministin Diane Elam aufgreift, könne die verschiedenen „axes of subordination“ (4) miteinander verknüpfen. Solidarität ohne gemeinsame Basis vermittelt aber nicht nur zwischen unterschiedlichen Unterdrückungsformen bzw. zwischen denen, die von ihnen direkt betroffen sind.

Solidarität ohne gemeinsame Basis (mit Würde, ohne Anführungszeichen) ist seit jeher in der Linken und in den libertären Bewegungen auch die Parteinahme für die Schwachen und Ertrinkenden gewesen, ohne selbst unterdrückt oder leidend oder ohne einfach nur Refugee zu sein. Der Schriftsteller Henry David Thoreau (1817-1862) musste keine Schwarze Sklavin sein, um wegen der Sklaverei zu Steuerboykott und Ungehorsam aufzurufen. Anteilnahme am Leiden anderer geht auch ohne selbst zu leiden. Daran gilt es anknüpfen gegen die niederträchtige, mörderische Politik der europäischen Rechten im 21. Jahrhundert und für ein würdiges Leben aller Menschen!

Oskar Lubin / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 432, Oktober 2018, www.graswurzel.net

Fussnoten:

(1) Max Nettlau: „Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf.“ [1899] In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Band 1. Hannover: Die freie Gesellschaft 1980, S. 87-100, hier. S. 88.

(2) Ebd., S. 87.

(3) Richard J.F.Day: Gramsci is dead. Anarchist Currents in the Newest Social Movements. London/ Ann Arbour: Poluto Press 2005, S. 188.

(4) Ebd., S. 189.