Überlegungen zu einer Debatte #merkelstreichelt

Politik

Tränen bringen nicht nur die Kanzlerin aus dem Konzept, sondern lassen ebenso Rufe nach mehr Empathie laut werden. Strukturell ändert das aber an der Situation von Geflüchteten nichts.

Merkel als Mrs. Burns - Stencil an einer Hauswand.
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Merkel als Mrs. Burns - Stencil an einer Hauswand. Foto: Steffen Voss (CC BY 2.0 cropped)

10. August 2015
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Reem, das Mädchen ohne Nachnamen, wird wohl nicht abgeschoben. Das liegt allerdings nicht daran, dass sie ihre Sorgen der Kanzlerin geschildert hat.

Reem konfrontierte die Kanzlerin beim Bürgerdialog „Gut Leben in Deutschland. Was uns wichtig ist.“ mit ihren existenziellen Nöten. Für ein gutes Leben, wäre ihr ein gesichertes Aufenthaltsrecht für sich selbst und ihre Familie wichtig. Den Anspruch des Bürgerdialogs ernst nehmend, erzählte sie dies der Kanzlerin und hoffte – wie die anderen beteiligten Schüler_innen – dass ihr Anliegen ernst genommen werden würde. Die Messlatte für die Kanzlerin wurde dadurch hoch aufgelegt. Und gerissen.

Solange Reem gefasst und sachlich blieb, blieb es auch die Kanzlerin. Auf der einen Seite die Schülerin, die eine Lebensperspektive haben will. Auf der anderen Seite die Kanzlerin, die Menschen wie Reem eben jene nicht gewähren will. Soweit alles im Rahmen des Üblichen. Dann aber fing Reem an zu weinen. Die professionelle Inszenierung des Bürgerdialogs wurde gestört, die Kanzlerin musste improvisieren.

Die anschliessende öffentliche Debatte (insbesondere in Folge von #merkelstreichelt) konzentrierte sich dabei auf Merkels Empathiefähigkeit. Nicht ihre Rolle als Kanzlerin stand im Mittelpunkt der Debatte. Stattdessen wurde mal wieder das Bild der Mutti bemüht und gefragt, ob Mutti gut reagiert hat oder nicht. Das aber geht am Kernproblem des Bürgerdialogs vorbei. Es geht nicht darum, ob Merkel streichelt oder nicht. Es geht darum, ob Politik wirklich in den Dialog mit Bürger_innen treten will, ihre Ansichten und Nöte ernst nehmen will und wer überhaupt als Bürger_in zählt.

Weshalb hat Merkel an der Veranstaltung teilgenommen? Wollte sie wirklich wissen, was junge Menschen bewegt? Dass Schüler_innen wie Reem ihr Leben so leben wollen wie ihre Freund_innen, ohne ständig eine Abschiebung befürchten zu müssen, hätte Merkel auch von Expert_innen erfahren können (und hat es wahrscheinlich schon längst). Dass Schüler_innen wie Peter – der sich bei der Veranstaltung auch zu Wort gemeldet hat - ihr Leben nicht durch Homophobie geprägt wissen wollen, auch das ist längst bekannt. Die Kanzlerin erfährt bei dieser Veranstaltung nichts Neues. Die Schüler_innen sind offensichtlich gut vorbereitet und übernehmen den ihnen zugewiesenen Part der Inszenierung. Nichts an diesem Bürgerdialog wäre bemerkenswert gewesen, hätten nicht Reems Tränen den sorgfältig geplanten Ablauf gestört.

Was aber bedeutet es, dass es erst zu Tränen kommen muss, damit eine allgemeine Forderung nach mehr Empathie aufkommt? Hätte Peter auch mehr Aufmerksamkeit mit seinem Anliegen bekommen, wenn er in Tränen ausgebrochen wäre? Hätte Reems Vater mit Tränen Unterstützung für eine andere Flüchtlingspolitik erreichen können? Hätte auch ein Wutausbruch von Reem zur Solidarisierung geführt? Die #merkelstreichelt-Debatte sagt vermutlich mehr über die Produktion öffentlicher Aufmerksamkeit und über die Kommentator_innen aus als über Merkels Empathiefähigkeit. Das – wie Merkel bemerkte – „unheimlich sympathische“ Mädchen eignet sich zur Projektionsfläche der eigenen Hilflosigkeit angesichts einer Welt, die von sozialer Ungerechtigkeit gekennzeichnet ist. (Fast) niemand kann wollen, dass Reem im Speziellen abgeschoben wird. Dafür ist sie viel zu sehr wie wir – und sie weint. Sie wollen wir retten. Das Mädchen, das so unschuldig ist, dass es keinen Nachnamen haben kann. Andere können derweil weiter abgeschoben werden, insbesondere wenn sie unseren Beschützer_inneninstinkt weniger ansprechen.

Sowohl die Bürgerdialoge als auch die öffentliche Empörung über die Kanzlerin sind symbolisch aufgeladen. Sie legen die Messlatten so hoch, dass sie notwendigerweise gerissen werden müssen – und produzieren so Frustration. Derweil sorgen die gesetzlichen Regelungen dafür, dass manche Menschen Lebensperspektiven entwickeln können und andere nicht. So wird Reem dank einer Gesetzesänderung wohl erst einmal nicht abgeschoben und Peter weiter vom Recht auf Ehe ausgeschlossen. Mit dem Bürgerdialog hat beides nichts zu tun.

Urmila Goel
boell.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.