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Der Europäische Mauerfall und der Macht-Begriff Hannah Arendts | Untergrund-Blättle

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Rassistische Hetze zur Re-Legitimation staatlicher Gewalt Der Europäische Mauerfall und der Macht-Begriff Hannah Arendts

Politik

Knapp drei Wochen ist der „Europäische Mauerfall“ nun her. MigrantInnen aus der ganzen Welt brachten im Alleingang ganz ohne kartoffel-linke Hilfe zumindest temporär das Schengen-Grenzsystem zu Fall. Wie konnte das passieren? Der Versuch einer Annäherung über den von Hannah Arendt entwickelten Macht-Begriff.

Bildnis der deutsch-jüdischen Historikerin und politischen Philosophin Hannah Arendt an der Mauer im Hof des Geburtshauses der gebürtigen Lindenerin am Lindener Marktplatz 2 Ecke Falkenstrasse.
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Bildnis der deutsch-jüdischen Historikerin und politischen Philosophin Hannah Arendt an der Mauer im Hof des Geburtshauses der gebürtigen Lindenerin am Lindener Marktplatz 2 Ecke Falkenstrasse. Foto: Bernd Schwabe (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

2. Oktober 2015
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Üblicherweise wird in Politik und Politikwissenschaft der Begriff „Macht“ von dem Begriff „Gewalt“ abgeleitet. Bekanntes Beispiel dafür ist der chinesische Guerilla- und KommunistInnenführer Mao Tse-Tung (1893-1976): „Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“. Relativ na dran ist der deutsche Soziologie-Papst Max Weber (1864-1920), für den Macht„ „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ bedeutet. Die Wendung „auch gegen Widerstreben“ zeigt, dass auch Weber an den Gewehrlauf oder andere letztlich auf Gewalt zurückführbare Zwangsverhältnisse denkt.

Macht aus Organisation?

Die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) sieht das anders. „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln, oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschliessen, und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ ( Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 1970. S. 45). Macht könne es nie über Menschen, sondern nur zwischen Menschen geben. Es gebe zwei Möglichkeiten, Gehorsam einzufordern. Zum einen mit Gewalt. Auf der anderen Seite sei aber auch gemeinsame Einigung von Menschen und anschliessende Zustimmung zu Herrschaft möglich. „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt ist gegeben in der Konstellation Einer gegen Alle“. Zur Bedeutung der Macht in der Politik führt Arendt weiter an: „„Selbst das despotischste Regime, dass wir kennen, die Herrschaft über Sklaven (…) beruhte nicht auf der Überlegenheit der Gewaltmittel als solchem, sondern auf der überlegenen Organisation der Sklavenhalter, (...), also auf Macht.“

Revolutionen als Triumph der Macht über die Gewalt

Besondere Bedeutung bekommen in dieser Revolutionen. Arendt argumentiert, dass Revolutionen zeigen würden, dass es mit Regimen aller Art dann vorbei sei, wenn sie keine Macht mehr hätten. In diesem Moment würden auch die dem Regime zur Verfügung stehenden Gewaltmittel schwinden. Sie unterstreicht dabei, dass dies zeigen würde, wie wichtig der Begriff „Meinung“ für staatliche Herrschaft sei. Arendt dazu: „Jetzt stellt sich auf einmal heraus, dass alles von der Macht abhängt, die hinter der Gewalt steht. Der plötzliche dramatische Machtzusammenbruch, wie er für Revolutionen charakteristisch ist, zeigt, wie sehr der sogenannte Gehorsam des Staatsbürgers (…) eine Sache der öffentlichen Meinung ist (…).

Europäischer Mauerfall als Konflikt zwischen Macht und Gewalt Schaut man sich den temporären Europäischen Mauerfall an, so sieht man, dass bei der Analyse der Geschehnisse einiges mit dem obigen Begriffs-Instrumentarium anzufangen ist. Beim Mauerfall steht auf der einen Seite das sich auf Gewalt stützende Grenzregime. Auf der anderen Seite stehen die in Ungarn gefangenen Refugees ohne jede Gewalt-oder Zwangsressource. Erst als sie sich organisieren und in Budapest gegen die Zwangsregistrierung wehren, tut sich was.

Eine „Meinung“ entsteht

Zuerst werden die ihnen Asyl in anderen weniger rassistisch regierten Ländern verwehrenden Zwangsregistrierungen eingestellt. Man darf mutmassen, dass die ungarische Regierung und Polizei dies durchaus wenig widerstrebend taten, da sie darüber die Betroffenen von staatlicher Hilfe ausschliessen konnten. In der Folgezeit gelingt es, über die schiere Masse der am Registrierungsstreik teilnehmenden Refugees europaweite Berichterstattung über die unhumane Behandlung von Refugees in Ungarn zu generieren. Hier beginnt das, was Arendt unter „Meinung“ versteht, zu greifen. Die Orban-Regierung steht im öffentlichen Diskurs als gemeine MenschenschinderInnenggang da. Das hat zunächst noch keine direkten Folgen für Orban und seine Leute, weil deren Ruf europaweit ohnehin ziemlich einschlägig sein dürfte. Derweil vergrössert sich die humanitäre Katastrophe in der Ketleti-Station unter den Augen der Weltöffentlichkeit zusehends, während die ungarische Regierung sich weiter hart zeugt, und die europäischen PartnerInnen sich alle für nicht zuständig erklären.

Die Gewalt kapituliert

In dieser Situation beschliessen die Refugees in Budapest, einfach zu Fuss mit tausenden TeilnehmerInnen auf der Autobahn gehen Nordwesten zu marschieren. Und auf einmal macht es Bumm. Die ungarische Polizei ist nicht in der Lage, tausende Refugees von der Autobahn zu prügeln und gleichzeitig den freien Transitverkehr zu garantieren. Dies ist hochproblematisch für die ungarische Industrie, da diese hauptsächlich davon lebt, in sogenannter „Just-in-time-Produktion“ Vorprodukte für die deutsche Auto- und Maschinenindustrie zu erbringen. Durch die Blockade der Autobahn drohen diese abgeschnitten zu werden. Und siehe da: Die ungarische Regierung verkündet, dass sie alle Refugges ohne Registrierung gehen lässt und hilft auf einmal sogar mit Bussen. Die Vernetzungsmacht der Refugees reicht in diesem Moment aus, die Gewalt des ungarischen Staates zu brechen.

Schengen kippt wie ein Kartenhaus

Damit ist der schwarze Peter bei der deutschen Regierung. Diese dürfte unter doppelten Druck gestanden haben. Zum einen dürfte die deutsche Industrie von Audi bis VW ein Interesse daran gehabt haben, nicht durch von Refugees verstopfte Autobahnen von ihren ungarischen Werkbänken abgeschnitten zu sein. Darüber hinaus haben die Refugees die „Meinung“ im Rücken. Über Wochen hatten europäische PolitikerInnen Orban und der ungarischen Regierung die Verantwortung für die humanitäre Situation der Refugees zugeschoben. Nachdem diese in dieser Frage ihre Bankrott-Erklärung abgegeben hatten, und de facto das Schengen-Regime ausser Kraft setzten, lasstete enormer moralischer öffentlicher Druck auf der deutschen Regierung. Eben dass, was Arendt „Meinung“ nennt. Und siehe da: Statt auf Gewalt zu setzen, tritt die deutsche Regierung die Flucht nach vorne an und inszeniert das scheinheilige Spektakel um die angebliche ach so tolle „Neue deutsche Willkommenskultur“.

Meinung und Macht lassen Gewalt kollabieren

Mittlerweile ist zwar klar, dass das nur temporäre Nettigkeit ist, und selbst schon von grünen BürgermeisterInnen daran gearbeitet wird, all die neuen Mitmenschen besser und schneller abschieben zu können, aber der Erfolg der Organisationsmacht der Refugees gegen die staatliche Gewalt des Schengen-Systems dürfte auf der Hand liegen. Dieser Erfolg wird verständlich, wenn man betrachtet, wie durch die Organisationsmacht der Refugees ein Schlaglicht auf ihre Situation in Ungarn fällt. Dadurch entsteht ein diskursiver Druck, den Arendt „Meinung“ nennt. Und die Kombination aus Macht und Meinung führt zum temporären Kollaps der staatliche Gewalt des Schengen-Regimes.

Rassistische Hetze zur Re-Legitimation staatlicher Gewalt

Unter umgekehrten Vorzeichen lässt sich aus den Überlegungen Arendts die Wichtigkeit der „Meinung“ für die Exekution von staatlicher Gewalt ableiten. Soll diese effektiv sein, darf ihr nicht widersprochen werden. Damit die Ablehnung und Abschiebung all der neuen MitbürgerInnen durchführbar ist, muss dies im öffentlichen Diskurs als „gut“, „wünschenswert“ oder mindestens als „notwendig“ erscheinen. Deshalb geben sich Eliten sämtlicher Milieus gerade so grosse Mühe, mit Bildern von „Andrang“, „Menschenflut“ oder „Überfremdung“ massive Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Weil es notwendig für die reibungslose Benutzung des staatlichen Gewaltmonopols ist, überlassen DemokratInnen wie der grüne Boris Palmer oder Horst Seehofer die Hetze nicht den offen rassistisch oder faschistisch auftretenden Parteien. Bleibt zu hoffen, dass sie dabei nicht ähnlich erfolgreich sind, wie die sich organisierenden Refugees im August 2015 in Budapest, Ketleti-Station.

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