Die neue „europäische Flüchtlingspolitik Der EU-Türkei Deal – ein Verrat an den „Werten“ Europas?

Politik

Pro Asyl charakterisiert in den „News“ (1) die Brutalitäten und den Zynismus des EU-Türkei-Deals wie folgt:

Ein Mädchen, welches mit ihrer Familie vor dem Krieg in Syrien geflüchtet ist, schläft in den Strassen von Izmir, Türkei.
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Ein Mädchen, welches mit ihrer Familie vor dem Krieg in Syrien geflüchtet ist, schläft in den Strassen von Izmir, Türkei. Foto: Freedom House (PD)

2. Juni 2016
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„Wer aus der Türkei nach Griechenland gelangt, soll … zurück in die Türkei abgeschoben werden. Im Gegenzug möchten die EU-Staaten für jeden syrischen Abgeschobenen einen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf legalen Wegen aufnehmen… Nur wenn ein syrischer Schutzsuchender sein Leben bei der Überfahrt über die Ägäis riskiert und dann per Schnellverfahren zurückverfrachtet wird, entsteht ein Platz für einen anderen Schutzsuchenden aus Syrien, der dann legal und gefahrenfrei in die EU kommen darf…Insgesamt gilt auch das vorerst nur für 72.000 Menschen…“

Dieser „schmutzige Deal“ ist für Pro Asyl eine „Schande für Europa“, denn „Europa verabschiedet sich von seinen Werten“ (individuelles Recht auf Asyl, Schutz durch Genfer Flüchtlingskonvention). Pro Asyl, und sicherlich all jene, die die Merkelsche „Willkommenskultur“ begrüsst und überhaupt erst mit ihrem Engagement mit Leben erfüllt haben, sind der Auffassung, dass die neue Flüchtlingspolitik im Spätsommer 2015 aus den Werten der Humanität geboren wurde, sich davon also hat leiten lassen.

Wer den Mächtigen der Politik jetzt einen Verstoss gegen diese Werte vorwirft, hat einerseits keine gute Meinung (mehr) vom realen, unmenschlichen Treiben der Politiker. Andererseits wird an eine ‚eigentliche' Politik gedacht, die den Auftrag, den die Kritiker ihr erteilen, erfülle und den Werten der Humanität verpflichtet sei. So pflegen diese Kritiker des Deals ihren guten Glauben an die moralische Wesensart der Politik. Dass Moral die Politik beauftragt und antreibt, das war in ihren Augen endlich mal verwirklicht, als Merkel im Sommer '15 Flüchtlinge aus Ungarn ungehindert einreisen liess und die deutsche „Willkommenskultur“ einleitete.

Trifft es aber eigentlich zu, dass Humanität der Grund und die Richtschnur dieser in der Tat neuen Flüchtlingspolitik waren? War und ist das Abkommen mit der Türkei dem ‚Geist' dieser Flüchtlingspolitik gänzlich fremd? Wenn die Flüchtlingspolitik sich mit dem Deal von den Werten verabschiedet haben soll, bleibt zudem die Frage – worin besteht sie denn dann in ihrer tatsächlichen Praxis?

Sachlich gesehen hat das „Flüchtlingsproblem“, das Merkel Auftrag gebend und aufmunternd mit „Wir schaffen das“ neu vorgestellt hat, nie darin bestanden, die Probleme der Flüchtlinge zu lösen, so dass alle politischen und materiell-organisatorischen Anstrengungen darauf hätten ausgerichtet werden sollen. Vielmehr hat Merkel mit ihrer ergänzenden Devise „Wer, wenn nicht wir, soll die europäische Flüchtlingspolitik regeln“, von vornherein deutlich gemacht, worauf die politischen Anstrengungen gerichtet werden sollten.

„Wer, wenn nicht wir“, also unter deutscher Führerschaft, soll der Umgang mit den Flüchtlingen als ein passendes Material verwendet werden, um darüber einiges auf europäischer und internationaler Bühne, auf der Staaten unterschiedlicher Gewichtung mit z. T. gegensätzlichen Interessen agieren, umzukrempeln. Kaum war der erste Willkommensruf verklungen, war für den deutschen Aussenminister klar, dass die EU in seiner Gestalt mehr Einfluss zu erhalten hat im internationalen Ringen darum, wer in Zukunft wie in Syrien regieren darf. Ist der Mann dabei von der Sorge angetrieben, wie er den Flüchtlingen helfen kann?

Unter dem Aspekt der neuen „europäischen Flüchtlingspolitik“ werden die Staaten der Welt neu betrachtet, d. h. einsortiert nach bis dato unbekannten Klassifizierungen wie Flucht-, Verfolger- und Herkunftsstaaten sowie Transitländer. Diese Titel, die die EU ihnen zuschreibt, haben sie nicht beantragt. Das ist eben keine Frage einer Namensgebung, sondern damit sind praktische Ansprüche an diese Staaten mit Folgen für die jeweiligen Flüchtlinge bzw. Fluchtwilligen verbunden. Die Staaten des Westbalkan werden zügig zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt, etwas später Algerien, Tunesien und Marokko, und in Afghanistan werden „sichere Gebiete“ ausgemacht, in die Asylbewerber zurückzuführen sind.

Damit sind per Deklaration die Fluchtgründe beseitigt, ohne dass sich an den Lebensumständen, die die Menschen zur Flucht veranlasst haben oder veranlassen werden, irgendetwas geändert hat. Von den Staatsführungen wird erwartet, dass sie ihre geflüchteten Hungerleider identifizieren und zurücknehmen und künftig „Scheinasylanten“ an der Grenzüberschreitung hindern. Ansonsten verdüstern sich ihre Beziehungen zur EU. Selbstverständlich dient das gar nicht „humane“ Abwehren, Durchsortieren und Rückführen dieser Flüchtlingskategorie nur der ‚richtigen', dringenden Humanität – so das moralische Etikett für die Aussortierung: Flüchtlinge dieser Art verstopfen nicht mehr die internationalen Rettungsgassen, so dass für die wirklich (!) Schutzbedürftigen der Weg frei ist. Diese Unterscheidung erfolgt nicht aus der Betrachtung des Ausmasses von Gefahr, Not und Elend, sondern daraus, welches Interesse die EU-Flüchtlingspolitik an diese Länder anlegt.

An die Türkei wird nun das EU-Interesse gerichtet, sich als neuer Aussenposten für das Abschotten, Selektieren und Weiterreichen von Flüchtlingen gemäss den EU-Vorgaben bereit zu machen, also einiges an entsprechender Infrastruktur und ‚Sicherheitsorganen' zu schaffen und abzuzweigen. Auch hier wird die Rechtfertigung mit der Humanität schnell gefunden: Flüchtlinge an der mazedonischen Grenze können ihr Dasein im Matsch beenden und über Griechenland ein trockenes Quartier in der Türkei beziehen; den Schleusern wird die Geschäftsgrundlage entzogen und die Flüchtlinge so vor dem Ertrinken bewahrt.

Die neue Einsortierung von Staaten inkl. der Vertragsregelungen mit ihnen bezweckt, dass die „Flüchtlingszahlen dauerhaft und nachhaltig reduziert werden“ und war von Beginn an Programmpunkt von Merkels Flüchtlingspolitik –immer etikettiert mit Humanitätstiteln verschiedenster Art.

Die Kritik von Pro Asyl und anderen, die das Treiben der Politik nach „human“ und „nicht human“ besichtigen, beschäftigt sich nur mit der menschlich-moralischen Interpretation, die die Politik sich selbst zuschreibt und mit der Frage, ob sie ihr die zugestehen will und kann.

Berthold Beimler

Fussnoten:

(1) https://www.proasyl.de/news/warum-der-deal-mit-der-tuerkei-eine-schande-fuer-europa-ist/