Grösste Krise seit dem Friedensschluss Bosnien-Herzegowina: Kampfansage an die Friedensordnung

Politik

21 Jahre nach dem Friedensschluss von Dayton treten in Bosnien-Herzegowina neue, tiefgreifende Konflikte zu Tage. Offen wird neuer Hass zwischen den Volksgruppen geschürt. Die serbische Entität strebt gar nach Sezession. Amerika macht mit Sanktionen klar: Der Friede in der Region ist nicht verhandelbar.

Milorad Dodik, Präsident der Repulika Srpska, Mai 2016.
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Milorad Dodik, Präsident der Repulika Srpska, Mai 2016. Foto: Medija centar Beograd (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

31. Januar 2017
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Wie trotzige Kinder standen sie da, in sibirischer Kälte und hielten ihren sogenannten „Nationalfeiertag“ ab, den es laut dem bosnischen Verfassungsgericht in der Form, zu dem Datum, gar nicht geben durfte. Banja Luka, die Hauptstadt der Republika Srpska, des serbisch dominierten Teils Bosnien-Herzegowinas, war Anfang Januar Schauplatz eines grotesken Spektakels.

Die Gebäude dekoriert mit einem Meer serbischer Fähnchen, die Strassen abgezäunt, für das orchestrierte Grossereignis, versuchten die Hintermänner der Veranstaltung die Auseinandersetzungen um den Tag in den Hintergrund zu drängen. Dennoch schwebte über dem Ereignis das Stigma des Verbotes – und so kam es weniger einer Feierstunde denn einer Kampfansage gleich. Eine Kampfansage an die Friedensordnung, wie sie 1995 mit dem Daytoner Abkommen beschlossen wurde. Und eine Warnung an die Internationale Gemeinschaft, dass da jemand bereit ist, den ohnehin fragilen Frieden gänzlich zu zerstören.

Milorad Dodik, Präsident der Repulika Srpska, galt einst als Hoffnungsfigur, um den zerstörerischen Ethno-Nationalismus im Lande zu beenden. Dann entdeckte auch er das machtvolle Instrumentarium des Nationalismus – und so setzt er seit Jahren auf fortgesetzte Provokationen und Attacken – mal gegen die Muslime, mal gegen die verhasste Hauptstadt Sarajevo („Teheran“), mal gegen vermeintliche „Feinde der RS“. Mit zunehmender Brachialität richten sich seine Attacken gegen den Staat und seine Institutionen.

Bei den illegitimen Feierlichkeiten mit von der Partie war diesmal auch der serbische Vertreter des dreiköpfigen bosnischen Staats-Präsidiums, Mladen Ivanic, der damit ebenfalls deutlich machte, dass auch er die Prinzipien des Rule of Law nicht eben verinnerlicht hat, sowie der serbische Präsident Tomislav Nikolic. Serbiens Premier Aleksandar Vucic, sonst nicht verlegen, die Sonderbeziehungen zu den serbischen Brüdern und Schwestern demonstrativ über die Staatsgrenzen hinweg zu betonen, hatte sich aus dienstlichen Gründen entschuldigen lassen. Um der Feierstunde künstlich doch noch etwas Würde zu verleihen, hatte Präsident Ivanic ein paar Infanteristen der bosnischen Bundesarmee angeheuert. Ein zweifelhafter Akt und ein weiterer Affront gegen die Entscheidung des bosnisch-herzegowinischen Verfassungsgerichts.

Währen der Zeremonie wurde freilich deutlich, dass es den Verantwortlichen um mehr geht als nur um reine Symbolik, um mehr als um einen Feiertag. Von einem Traum war da die Rede, von der Einheit der Serben. Und vom Recht auf Freiheit.

Die RS feile an einem Projekt von strategischer Bedeutung, wie es der Politologe Ibrahim Prohic nennt. Das Ziel sei: Die Sezession. Die Feierlichkeiten am 9. Januar, konstatiert Prohic, seien lediglich die Generalprobe für etwas Höheres gewesen: den kalkulierten Staatsstreich.

9. Januar 1992: Prolog für Vertreibung und ethnische Säuberung

Dabei liefert dieser Tag alles andere als einen Grund zum Feiern: 1992 wurde an diesem 9. Januar die erste Sitzung der neu gegründeten Republika Srpska im Hotel Holiday Inn in Sarajevo abgehalten. Es war der Prolog zu dem, was danach kommen sollte: Ein brutaler Krieg, die Vertreibung und Tötung all dessen, was auf dem Territorium nicht-serbisch war. Diese Vernichtungspolitik kulminierte 1995 im Genozid von Srebrenica - seit Ende des zweiten Weltkriegs der erste auf europäischem Boden - rund 8.000 muslimische Jungen und Männer wurden damals getötet.

Diese düsteren Realitäten blenden serbische Politiker/innen freilich zur Gänze aus. Statt die eigenen Taten aufzuarbeiten, feiert man auch heute noch auf groteske Weise verurteilte Kriegsverbrecher wie Helden. Im vergangenen Herbst erst verlieh die RS in einem feierlichen Akt Urkunden für das Tätertrio Krajsnik, Plavsic und Karadzic. Letzterer war im März 2016 vom Internationalen Jugoslawientribunal in Den Haag zu 40 Jahren Haft verurteilt worden, unter anderem wegen des Genozids von Srebrenica, des jahrelangen Beschusses der Zivilbevölkerung in Sarajevo, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und etlicher anderer Vergehen.

Rund um den Jahrestag des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica im vergangenen Jahr erdreistete sich Dodik zu behaupten, dieser habe gar nicht stattgefunden. All dies belegt nachhaltig, dass das Projekt der Aussöhnung in Bosnien zwei Dekaden nach Kriegsende noch nicht einmal begonnen hat. Ganz im Gegenteil: Immer offener trauen sich Politiker aller Couleur wieder Dinge zu sagen, die an die hasserfüllte Propaganda der 90er Jahre erinnert.

Bosniens Politelite ist weiterhin mit allen Mitteln bemüht, weitere Schritte des ohnehin auf tönernen Füssen stehenden state-building-Prozesses zu blockieren. Dodik indes geht noch weiter, er tut alles, um getätigte Reformen, die den Gesamtstaat stärken, zurückzudrehen. So kündigte er im Rahmen des „Nationalfeiertags“ an, dass die RS wieder eine eigene Armee erhalten solle - eine Horrorvorstellung für die Internationalen im Lande, die seit Jahren bemüht sind, mit ihrer Präsenz die nach wie vor bestehenden Gräben zwischen den Volksgruppen in dem Quasi-Protektorat zuzuschütten.

Zusammen mit dem Kroatenführer Dragan Covic nahm Dodik sich jüngst zudem das Verfassungsgericht vor: Beide forderten, die noch immer vertretenden internationalen Richter aus dem Gremium zu entfernen. Dies sei der Versuch, so der Analyst Adnan Huskic, die totale Politisierung des Höchstgerichts zu erreichen.

Und auch von externen Akteuren wird Bosniens Staatlichkeit mit zunehmender Intensität auf die Probe gestellt: Die Nachbarländer Kroatien, immerhin EU-Mitglied, und Serbien mischen sich regelmässig in innere Angelegenheiten ein und machen deutlich, dass sie die staatliche Souveränität des Nachbarn, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt akzeptieren.

Vakuum nutzt den korrupten Eliten

Bis heute wacht der Hohe Repräsentant (OHR) über die Einhaltung des wackligen Friedens, mit dem der Konflikt keinesfalls gelöst, sondern lediglich eingefroren wurde. Während Valentin Inzkos Vorgänger Paddy Ashdown und der österreichische Spitzendiplomat Wolfgang Petritsch noch regelmässig obstruierende Politiker aus den Ämtern entfernten, wurden die entsprechenden Befugnisse, die sogenannte, Bonnpower, in der Folge kaum mehr eingesetzt. Etliche Staaten, allen voran Deutschland, hatten sich dafür stark gemacht, die Verantwortung für die politische Entwicklung allmählich den Bosniern selber zu überlassen und künftig auf korrigierende Einflussnahmen zu verzichten.

Aus dieser Quasi-Entmachtung des OHR erwuchs indes ein politisches Vakuum, das die nationalistischen Seilschaften in Bosnien für sich nutzten und sie neuerlich erstarken liess. Heute ist Bosnien laut einer Studie des Institutes SECONS in Zusammenarbeit mit Transparency International, die im Dezember 2016 veröffentlicht wurde, ein Parade-Beispiel für einen gekaperten Staat. Durch das existierende Vakuum habe die Politelite im Laufe der letzten zehn Jahre jeden Winkel des Staates eingenommen, heute kontrolliere sie auf diese Weise umfassend staatliche Institutionen.

Die politische Kaste nutzt zudem die öffentlichen Futtertröge ungehemmt zur Selbstbereicherung und zur Anfütterung von Vettern und Freunden. Nepotismus und Korruption in endemischem Ausmass behindern nachhaltig den Staatsbildungsprozess. So ist es denn auch kein Wunder, dass heute, zwei Dekaden nach Ende des Krieges, das bosnische Politsystem noch immer durch weitreichende Dysfunktionalität gekennzeichnet ist. Wirtschaftliche Probleme finden sich allerorten, nicht zuletzt in der RS. Noch im letzten Frühjahr stand Miload Dodik angesichts der schlechten Rahmendaten der Republika Srpska massiv in der Kritik, die Themen Korruption und finanzielle Misswirtschaft der kleineren Entität waren im öffentlichen Diskurs allgegenwärtig.

Grösste Krise seit dem Friedensschluss

Dann startete der gewiefte Serbenvertreter einen Propagandacoup, heizte die Stimmung im Land über Wochen künstlich an und liess eine Woche vor den Lokalwahlen am 25. September 2016 die Bevölkerung der RS in einem Referendum über den umstrittenen Feiertag abstimmen. Der Erfolg war zwar ungleich kleiner als kalkuliert – die Wahlbeteiligung war äusserst gering - dennoch setzten die Verantwortlichen ihre PR-Maschinerie in Gang, um sich als Wahrer „serbischer Interessen“ zu gerieren – bei den Lokalwahlen im Oktober konnte Dodiks Partei entsprechend zulegen.

Dodiks Nationalismus, die permanente Aufheizung des öffentlichen Diskurses entlang ethnopolitischer Trennlinien spielt eine bedeutende Rolle bei dem verzweifelten Versuch, an der Macht zu bleiben. Ein Rezept, das alle nationalistischen Parteien mit Erfolg praktizieren, getreu des Mottos Divide et impera.“ In Bosnien funktioniert dieser zwar simple aber dennoch höchst wirkungsvolle Ansatz immer noch. Fest steht: Keiner von den massgeblichen Politakteuren der Bosniaken, Kroaten und Serben hat die entsprechenden Lehren aus dem Bosnienkrieg gezogen, der mehr als hunderttausend Menschen das Leben kostete. Sie setzen weiterhin auf die Geister der Vergangenheit.

Im Kreise der Nationalisten ist Dodik freilich jener, der in den letzten Monaten die Eskalation am ungehemmtesten vorangetrieben hat. Mit den nun offen artikulierten Bekundungen über eine angestrebte Sezession und einem möglichen Referendum zu diesem Thema schlittert Bosnien in die grösste Krise seit dem Daytoner Friedensschluss. Statt das Land endlich und nachhaltig auf einen europäischen Weg zu bringen, der der notleidenden Bevölkerung endlich dauerhafte Stabilität und Wohlstand bringen würde, setzen Dodik und Co weiterhin auf nationalistische Hetze und Propaganda. Ja mehr noch, der RS-Präsident provoziert neue kriegerische Auseinandersetzungen.

Internationale Gemeinschaft: Gescheiterte Hinterzimmerdiplomatie

Um dieses Spielchen zu beenden, um die fortdauernden und nun neu eskalierenden Auseinandersetzungen zu unterbinden, ist dringend die Internationale Gemeinschaft gefragt. Sie ist nicht unschuldig an dem gefährlichen Wiederaufflammen des Nationalismus. Durch die Entmachtung des High Representative entstand ein gefährliches Vakuum, ohne dass freilich ein anderes Regulativ installiert worden wäre.

Stattdessen setzte man auf Dialog: Immer wieder trafen sich Vertreter/innen der Internationalen Gemeinschaft in den letzten Jahren mit den relevanten Politakteuren in Restaurants zu Hinterzimmergesprächen, in der festen Hoffnung, diese zur Vernunft zu bringen. Diese Methode, die zusätzlich eine Schwächung der ohnehin kaum funktionierenden staatlichen Institutionen mit sich brachte, kann angesichts der jüngsten Entwicklungen als gescheitert angesehen werden.

Mit ihrer Hofierung haben die internationalen Vertreter die korrupten und nepotistischen Politvertreter gestärkt, ihnen Legitimität verschafft. „Sie haben aus ihnen gemacht, was sie sind – unerreichbare Autokraten. Sie haben ihnen die ungeprüfte Kontrolle verliehen“, befindet etwa die Sarajevoer Kommentatorin Svetlana Ceric.

US-Sanktionen: Dayton ist nicht verhandelbar

Lange haben die internationalen Akteure dem nationalistischen Treiben zugeschaut, immer wieder hörte man aus diplomatischen Kreisen, es gelte das Prinzip „local ownership“, es sei Zeit, dass die Bosnier/innen ihre Probleme selber lösten.

Dieser Ansatz freilich greift zu kurz - setzt er doch voraus, dass es funktionierende Staatsinstitutionen gibt, die als Korrektiv fungieren könnten. Dies ist nicht der Fall. Stattdessen erinnert die chronische Abwesenheit von Regulierungsmechanismen im komplexen und hochfragmentierten Staatsapparat an den Hobbeschen Urzustand - der Kampf aller gegen alle, ohne Regulative und Regeln.

Umso wichtiger ist nach wie vor die Rolle der Internationalen. Nach dem Wirbel um den RS-Feiertag setzten die USA vor wenigen Tagen ein von vielen lang erwartetes Zeichen und verhängten Sanktionen gegen Dodik. Der Serbe darf nun nicht mehr in die USA einreisen, private Konten, sofern vorhanden, können eingefroren werden. Der RS-Präsident obstruiere gegen das Dayton Friedensabkommen, so die Begründung der Amerikaner. Man nehme die Ankündigung einer Sezession ausgesprochen ernst.

Mit Sorge, so US-Botschafterin Maureen Cormack, sehe man freilich auch die gefährlichen Rhetoriken anderer bosnischer Politiker.

Die verhängten Sanktionen sind ein unmissverständliches Signal an alle nationalistischen Führer, dass der Frieden von Dayton nicht verhandelbar ist. Sie sind ein überaus bedeutender Schritt, um dem zersetzenden Treiben insbesondere der RS-Führung etwas entgegen zu setzen, um die Attacken eines Politikers zu beenden, der Morgenluft wittert, der ausser Provokation und Hetze nichts zu bieten hat und nicht davor zuschreckt, zur Absicherung der eigenen Macht, die Eskalationsspirale der neunziger Jahre zu befeuern.

Mit dem Agieren der Amerikaner allerdings geraten auch die Europäer unter Zugzwang, sich ebenfalls zu positionieren. Es kann nicht sein, dass – wie schon einmal – Europa lediglich zuschaut, in diesem konkreten Fall, wie versucht wird, die mühsam austarierte Friedensordnung auf dem Balkan im Handstreich zu eliminieren.

Wenn die 1995 in Dayton abgegebenen Garantien für die staatliche Existenz und Einheit Bosniens noch gelten sollen, ist jetzt die Zeit gekommen, zu reagieren. Angesichts der schwierigen Verfasstheit der EU sollte Deutschland eine Vorreiterrolle dabei spielen, den europäischen Weg Bosniens abzusichern. Frieden und Stabilität müssen auf dem Balkan nach wie vor verteidigt werden.

Marion Kraske
boell.de

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