Der falsche Krieg Brüssel und die reflexartigen Fehler der Politik

Politik

Politiker erklären Terroristen den Krieg. Doch ohne eine radikal andere Politik des Westens ist dieser Krieg schon verloren.

Menschenansammlung auf dem Place de Brouckère in Brüssel nach den Attentaten vom 22. März 2016.
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Menschenansammlung auf dem Place de Brouckère in Brüssel nach den Attentaten vom 22. März 2016. Foto: Miguel Discart (CC BY-SA 2.0 cropped)

24. März 2016
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Reflexartig reagiert unsere Politik auf Anschläge wie die gestrigen in Brüssel – und sie reagiert reflexartig falsch. Wir müssen zusammenstehen und den Terrorismus endgültig besiegen, verkünden die Politiker in gebetsmühlenartiger Manier.

Wie schon nach Paris würden sie am liebsten wieder sofort einen Krieg erklären, aber es wäre wiederum ein Krieg gegen einen Gegner, den es nicht gibt. Den Terrorismus, der hier erneut zu Tage tritt, den kann man nicht mit Polizei und Militär bekämpfen, weil seine Ziele beliebig sind und seine Quellen werden ohne eine radikal andere Politik des Westens niemals versiegen.

Ich habe es schon nach den Anschlägen von Paris gesagt und es gilt noch immer: Der Staat kann seine Bürger vor solchen Anschlägen nicht schützen. Er kann nicht jeden Menschen, der vor seine Haustür tritt, daraufhin überprüfen, ob er Waffen oder Sprengstoff bei sich trägt. Und wenn er es mit all denen tut, die pauschal als verdächtig gelten, kreiert er unmittelbar neuen Terrorismus.

Auch die wichtigsten Quellen der Wut und des Hasses bleiben in unserer Hand. Wie viele traumatisierte junge Menschen mögen der Dreck, der Schlamm und die offenkundige Verachtung des Westens für die Not von tausenden von Menschen vor dem Zaun in Idomeni, Griechenland, hervorgebracht haben?

Wie viele werden in den «Auffanglagern» in der Türkei, die doch als entscheidender Durchbruch bei der europäischen Flüchtlingspolitik gelten, abgleiten in eine Welt voller Hass auf all diejenigen, die an ihren Stammtischen und in ihren Bierzelten diesen «Durchbruch» feiern? Man kann die Zahlen fast mit Händen greifen.

Drei Millionen Menschen, zusammengepfercht in der Türkei auf engstem Raum, versorgt nur mit Überlebensrationen, ohne Schule, ohne Studium, ohne Arbeit, ohne Zukunft, hin- und hergeschoben zwischen Staaten wie Vieh, aller Rechte beraubt und der Willkür eines in weiten Teilen undemokratischen Staates ausgesetzt. Wie viele werden sich radikalisieren? Zehn Prozent oder nur ein Prozent?

Selbst wenn es nur ein Promille ist, werden es genug sein, um für viele Jahre den Tod vieler weiterer unschuldiger Menschen in Europa und anderswo zu verursachen. Die Opfer des Terrors sind es, die den Preis für die Unfähigkeit der Politik in Europa und anderswo zahlen, mit verängstigten und traumatisierten Menschen menschlich umzugehen.

Doch statt wenigstens jetzt, nach dem zweiten schlimmen Ereignis in kurzer Zeit, nachzudenken und innezuhalten, flüchten sich die westlichen Politiker wieder in die gleichen sinnlosen Rituale. Sie lesen ihre leeren Statements vom Blatt ab, sie schicken mehr Polizei und Militär auf die Strassen, sie kontrollieren wieder die Grenzen und sie wollen mit Gewalt den Anschein erwecken, diesmal sei alles anders. Nichts ist anders und der nächste Anschlag ist nur eine Frage der Zeit.

Es ist beim Terrorismus wie bei der Flüchtlingsproblematik selbst: Wer nicht den Mut aufbringt, seine eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen, wer nicht bereit ist, sich vorurteilslos und ernsthaft mit den Ursachen des Versagens unserer Welt in den Herkunftsländern der Menschen, um die es hier geht, auseinanderzusetzen, braucht auch nichts anderes zu tun. Warum hat gestern nicht ein Verantwortlicher gesagt: So geht es nicht! Wir haben versagt! Wir haben den falschen Krieg erklärt und wir haben ihn verloren!

Heiner Flassbeck / Infosperber

Der 1950 geborene Heiner Flassbeck war deutscher Staatssekretär und von 2003-2012 Direktor der Abteilung für Globalisierung und Entwicklungsstrategien bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung Unctad in Genf. Seine Wirtschaftsanalysen veröffentlicht er auf flassbeck.economics.de.