Der Tod von Hans Kok Amsterdam 1985: Die Schlacht um die Staatsliedenbuurt

Politik

Am 19.09.2018 stürzte der unabhängige Journalist Steffen Meyn von einer Hängebrücke in Beechtown im Hambacher Forst und verletzte sich dabei tödlich.

Plakat nach dem Tod des Punk-Bassisten Hans Kok in Amsterdam, November 1985.
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Plakat nach dem Tod des Punk-Bassisten Hans Kok in Amsterdam, November 1985. Foto: Rob Croes - Anefo (PD)

10. November 2021
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Auf Twitter schrieb er einen Tag vor seinem Absturz: „Nachdem die Presse in den letzten Tagen im Hambacher Forst oft in ihrer Arbeit eingeschränkt wurde, bin ich nun in 25 m Höhe auf Beechtown, um die Räumungsarbeiten zu dokumentieren. Hier oben ist kein Absperrband.“

18. September, 2021: Eine Gedenkveranstaltung im Hambacher Wald. Für Steffen Meyn, aber auch für weitere Gefährt:innen die im Hambacher Wald aktiv waren und nicht mehr unter uns sind, darunter Elf, Waka, Anna Campbell, Mogli und Mike. Ich kannte einige von Ihnen persönlich, nicht gut, aber gut genug um mich zu treffen. Während der Gedenkveranstaltung gehen meine Gedanken immer wieder zu den Gefährt:innen, aber auch nach Amsterdam. Um genau zu sein zum 25. Oktober 1985, der Tag, an dem Hans Kok in einer Zelle in ein Amsterdamer Polizeirevier verstorben ist. Ermordet.

Im Herbst 1984 erklärt der Amsterdamer Oberbürgermeister Van Thijn, er wolle den Stadtteil Staatsliedenbuurt zu einem Testfeld für seine Politik machen. Es gibt zu diesem Zeitpunkt über 1500 besetzte Wohnungen in der Staatsliedenbuurt und Van Thijn meint in Wirklichkeit, dass er mit den Hausbesetzer:innen abrechnen möchte. Als Reaktion auf seine Erklärung mobilisierten die Hausbesetzer:innen die gesamte Nachbarschaft für ein Tribunal gegen den verantwortlichen Bürgermeister.

Am 15. Dezember 1984 drängten sich Hunderte von Anwohner:innen zusammen, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. Die Beschwerden gegen die Stadtpolitik waren so vielfältig wie die Ansammlung bunter Menschen: gegen das langsame Voranschreiten der Stadterneuerung, gegen die anhaltenden Kürzungen bei den soziokulturellen Einrichtungen im Kiez, gegen die Drogenpolitik und natürlich gegen die verfehlte Wohnungspolitik. Es gibt keine Seele in der Staatsliedenbuurt, die sich nicht auf die eine oder andere Weise in den vorgebrachten Anschuldigungen wiedererkennt.

Nach dem Urteil des Tribunals gelten wie erwartet alle Anklagepunkte als erwiesen. Der angeklagte OB wird für schuldig befunden und zu einem öffentlichen Schuldbekenntnis verurteilt. Innerhalb von vier Tagen nach dem Urteilsspruch muss er erklären, dass er die meisten der dreiundzwanzig Anklagen ernsthaft angehen wird. Nicht zuletzt wird ihm bei Nichterfüllung dieser Bedingungen der Zugang zum Viertel der Staatslieden verwehrt. Dadurch wurde eine Bombe für den bevorstehenden Besuch von Van Thijn gelegt, der nur wenige Tage später stattfinden sollte.

Am 20. Dezember 1984 wurde das ganze Land Zeuge wie Hausbesetzer:innen den Oberbürgermeister Van Thijn beschimpfen und ihn aus dem Stadtteil verjagen. Van Thijn flüchtet in Richtung Haarlemmerweg und findet Zuflucht in der Pförtnerloge der Westergasfabrik (Westergasfabriek). Dort wird der OB schliesslich abgeholt.

Die Bilder werden in den abendlichen Fernsehnachrichten um 20.00 Uhr gezeigt und sorgen für Aufsehen im ganzen Land.

Aus den geheimen Protokollen der dreiseitigen Beratungen (Polizei, Staatsanwaltschaft und Oberbürgermeister), die bei einem Einbruch in das Rathaus im September 1985 aus den Schreibtischschubladen geholt wurden, geht hervor, wie die Polizei und die Justiz zusammen mit dem Bürgermeister auf eine Konfrontation mit der Gruppe drängen. Im Protokoll vom 4. März 1985 stellt Van Thijn fest, dass nach seinem Besuch in der Staatsliedenbuurt "das fragile Gleichgewicht, das zwischen dem Stadtteilzentrum und der Hausbesetzer:innen bestand, gestört ist".

Er hält die Zeit reif für eine letzte Offensive. "In der Staatsliedenbuurt ist eine Minderheit aktiv, und die Störung meines Besuchs war ein Beispiel dafür. Die Frage ist nun, wie man mit dieser Minderheit umgeht. Irgendwann muss man das durchbrechen", sagte Van Thijn auf dem Dreiertreffen. “Wir warten nur auf einen "offensichtlichen Fall, um ein Exempel zu statuieren".

Die Schlacht um die Staatsliedenbuurt beginnt am 24. Oktober 1985, als die Bullen eine besetzte Etage in der Schaepmanstraat räumen. Es wird sofort reagiert. Die geräumte Etage wird am gleichen Tag wieder besetzt. Van Thijn beschliesst daraufhin, Bereitschaftsbullen einzusetzen und ein für alle Mal mit der Bewegung abzurechnen. Gegen die Hausbesetzer:innen wird hart vorgegangen. Die Bullen treten, schlagen und schiessen sogar mit scharfer Munition, wobei ein Genosse am Arm getroffen wird.

Diese polizeiliche Gewalt führt zu einer Reihe von Verletzungen, es gibt dreiunddreissig Festnahmen. Unter ihnen ist Hans Kok, der in der Bewegung vor allem als Bassist der Punkband Lol en de Ellendelingen (deutsch: Spass und die Miserablen) bekannt ist. Irgendwann am frühen Morgen des 25. Oktober stirbt er in einer Zelle des Polizeipräsidiums in der Marnixstraat. Die Behörden waschen ihre Hände in Unschuld und stellen Hans Kok als Junkie dar, der an einer Überdosis gestorben ist.

Zorn. In der Nacht nach seinem Tod wurden überall in der Stadt städtische Einrichtungen angegriffen. Es wurde dezentral agiert. Ich war im Stadtzentrum aktiv. In dem soziale Zentrum von wo aus wir operierten hing der Gestank von Benzin in der Luft. Immer wieder zogen wir in Kleingruppen los um die nächste Aktion auszuführen. In dieser Nacht erlebte ich mehrmals wie Bullenkarren mit Vollgas abgehauen sind als sie uns gesehen haben. Einige diese Karren wurden mit Molotowcocktails angegriffen. Überall wurden städtische Einrichtungen verwüstet. Auch der Dienst Parkeerbeheer (Zuständig für die Parkraumbewirtschaftung und - Kontrolle) ging in Flammen auf.

Ich weiss nicht wie viele Scheiben zu Bruch gegangen sind in den Nächten nachdem Hans Kok ermordet wurde. Was alles angezündet wurde. Wir suchten immer wieder neue Ziele und gingen einfach los. Unterwegs errichteten wir immer wieder kleine Barrikaden um den Verkehr kurz lahm zu legen, damit die Bullen immer was zu tun hatten. Einmal wollten wir zu einer Bullendienstelle und fanden nur noch rauchende Resten vor. Überall waren Menschen unterwegs. Es war ein Wechselbad der Gefühle. Zorn und Trauer.

An dem Samstag nach dem Tod von Hans Kok gab es eine Demo. Die Bullen wurden immer wieder angegriffen und als wir beim Bullenrevier ankamen war minutenlang der Sound von klirrende Scheiben zu hören. Kurz darauf gab es noch ein Sitzblockade beim Amsterdamer Hauptrevier. Ich bevorzugte es aber mit ein paar Gefährt*innen noch ein Bullenkarrenparkplatz zu besuchen. Sitzblockaden waren nach meiner Erfahrung mit einem Polizeiangriff in Dodewaard (in 1981) nicht mein Ding.

In den Wochen nach seinem Tod stellte sich heraus, dass Hans Kok zwar mehr Methadon eingenommen hatte, als gut für ihn war, dies aber unter normalen Umständen niemals zu seinem Tod hätte führen können. Nachdem er in der Zelle eingesperrt war, wurde sein Zustand mehr als 14 Stunden lang nicht kontrolliert. In einer offenbar verspäteten Racheaktion der Polizei mussten alle Inhaftierten in dieser Nacht auf einer Beton Pritsche schlafen, ohne Matratze, Decken oder Heizung in der Zelle.

Morgens wurde kein Frühstück verteilt. Es war kalt in der Nacht von der 24. auf der 25. Oktober 1985. Diese Missachtung und Vernachlässigung wurde Hans Kok zum Verhängnis. Die Todesursache war eine Lungenentzündung. Bürgermeister Van Thijn kommt schliesslich mit dem Eingeständnis das es "organisatorischer Fehler im Hauptrevier gab" davon.

Die Stadt schlug nach dem Desaster in der Schaepmanstraat einen neuen Weg ein. Viele der besetzte Wohnungen in der Staatsliedenbuurt wurden legalisiert. So wollte Van Thijn der Konflikt pazifizieren und das ist ihm wohl gelungen. Heute sind die Mieten in Amsterdam auf Rekordhöhe und die Wohnungsnot ist grösser als sie es jemals war.

Im September 2021 gab es das erste Mal seit Jahrzehnten wieder eine wirklich grosse Demonstration gegen die Wohnungspolitik. Etwa 25.000 Menschen gingen auf die Strasse. Am Rande dieser Demo wurde versucht ein Haus zu besetzen. Die Bullen gingen mit massiver Gewalt gegen die Hausbesetzer:innen vor. Es gab mehrere Verletzte und Verhaftungen. Der Konflikt um Wohnraum spitzt sich in Amsterdam offensichtlich wieder zu.

sl

Zuerst erschienen auf Sūnzǐ Bīngfǎ