Neben diesem alljährlichen, öffentlich nicht zugänglichen Gipfeltreffen, bei dem Chatham House Regeln gelten, betreibt Agenda Europe einen Blog[3], auf dem Mitglieder aktuelle Entwicklungen aus einem ultrakonservativen Blickwinkel kommentieren, sowie ein gemeinsames Manifest mit dem Titel ‚Wiederherstellung der natürlichen Ordnung'. Dieses Manifest legt eine radikal reaktionäre Weltanschauung an den Tag, die, wenn sie erfolgreich umgesetzt würde, die Menschenrechte in Bezug auf Sexualität und Reproduktion aller Europäer*innen demontieren würde, insbesondere die bestimmter Personengruppen wie Frauen*, Jugendliche und LGBTQI Personen.
‚Wiederherstellung der natürlichen Ordnung'
Das Hauptargument, das in dem Manifest ‚Wiederherstellung der natürlichen Ordnung' entwickelt wurde, ist, dass Gesetze das ‚Naturrecht'[4] widerspiegeln sollten und dass dieses ‚Naturrecht' die ‚Menschenwürde' verteidigen müsse. Die ‚Menschenwürde' wird im weiteren dann in drei Komponenten unterteilt: Erstens, der Schutz des ‚Lebens' vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zum natürlichen Tod; zweitens, der Schutz der ‚Familie', die ausschliesslich als traditionelle, patriarchalische und heterosexuelle Familie definiert wird; und schliesslich der Schutz der ‚Religionsfreiheit', der Religionsangehörige darin bestärkt, von den Gesetzen zu Hassreden, Diskriminierung und der Erbringung von Dienstleistungen abzuweichen, wodurch religiöse Überzeugungen über das Gesetz gestellt werden.In der Praxis dient das Manifest als Blaupause, um nicht nur Fortschritte bei der Gleichstellung der Ehe oder dem Wahlrecht der Frauen zurückzudrehen, sondern auch den Zugang zu assistierter Fortpflanzung, zu umfassendem Sexualkundeunterricht, zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, zu Verhütung und sogar Scheidung zu beschränken. Kurz gesagt: Die wiederhergestellte natürliche Ordnung ähnelt sehr stark einem neuen dunklen Zeitalter, in dem religiöser Obskurantismus über Toleranz, Menschenrechten und säkularem Recht steht. Das Manifest ‚Wiederherstellung der natürlichen Ordnung' wird derzeit aktiv in ganz Europa umgesetzt.
Die Organisation des Netzwerkes in Europa
Bei ihren vertraulichen Treffen seit 2013 konnten sich die Mitglieder von Agenda Europe wie jede andere moderne soziale Bewegung austauschen, voneinander lernen und Strategien entwickeln. Ausgehend von diesen Treffen haben die Mitglieder der Agenda Europe dann eine Reihe politischer Initiativen auf nationaler und europäischer Ebene auf den Weg gebracht. Um beispielsweise den Fortschritten bei der Gleichstellung der Ehe Einhalt zu gebieten, nutzte die Agenda Europe Instrumente der partizipativen Demokratie wie Petitionen und ‚Bürgerinitiativen', die oft zu einem Referendum oder anderen förmlichen Reaktionen von Entscheidungsträger*innen führten. Dies geschah in Kroatien[5], Slowenien[6], der Slowakei[7], Rumänien[8] und auf EU-Ebene mit der gescheiterten Europäischen Bürger*inneninitiative "Vater, Mutter, Kind"[9].Was das Recht der Frau auf Abtreibung angeht, waren es die Mitglieder der Agenda Europe aus Spanien und Polen, welche die Gesetzentwürfe zur massiven Einschränkung von Abtreibungen in Spanien[10] im Jahr 2014 und zum vollständigen Abtreibungsverbot, das in Polen[11] im Jahr 2016 vorgeschlagen wurde, verfasst und gefördert haben. Auf EU-Ebene teilten sich die Mitglieder der Agenda Europe die Aufgaben in Bezug auf die Organisation und Sammlung von 1,7 Millionen Unterschriften für die Europäische Bürger*inneninitiative „One of us"[12] unter sich auf. Darin wurde die Kommission aufgefordert, sämtliche EU-Mittel zu streichen, die die Vernichtung des menschlichen Embryos betrafen. Sie zielten damit nach eigenen Angaben auf eine Verbesserung der Gesundheit der Mütter in Entwicklungsländern ab, da dies auch legale Abtreibungen umfassen könnte. Insgesamt hat die Agenda Europe in den fünf Jahren seit ihrem Bestehen die Gründung von mindestens 18 politischen Initiativen auf nationaler Ebene, in der Europäischen Union und im Europarat befördert, die alle darauf abzielen das Recht der Frau auf Abtreibung sowie die Rechte von LGBTQI Personen auszuhöhlen. Während viele Initiativen scheiterten, wie z.B. ihre Europäischen Bürger*inneninitiativen, sind andere erfolgreich gewesen, vor allem im Aufhalten der Fortschritte bei LGBTQI-Rechten.
Die Mitglieder von 'Agenda Europe'
Die 100 bis 150 Personen und Organisationen, aus denen sich die Agenda Europe zusammensetzt, kommen zwar aus den verschiedensten Bereichen, haben aber alle eines gemeinsam: einen christlichen Glaubenshintergrund. Trotz ihrer Unterschiede als Katholik*innen, traditionalistischen Protestant*innen oder orthodoxen Christ*innen haben sie sich zusammengeschlossen, um einen Weg zu finden, christliche religiöse Ideale – oft die konservativsten Auslegungen ihres eigenen Glaubens – unter Verwendung eines säkularisierten, menschenrechtlichen Vokabulars in wirkliches Recht umzusetzen. Um dies zu erreichen, haben sie spezifische Strategien entwickelt, darunter die Darstellung ihrer selbst, der Christ*innenen, als Opfer sozialen Fortschritts in der Gleichstellungsgesetzgebung, da sie rechtlich gesehen keine Möglichkeit der Diskriminierung mehr haben.Die Agenda-Europe-Gipfeltreffen, die von zwei "Vatikan-Stellvertreter*innen" einberufen werden, d.h. von zwei Personen, die enge persönliche und berufliche Kontakte zur Hierarchie des Heiligen Stuhls haben, bringen unterschiedliche Kategorien von Personen zusammen: Die erste Gruppe sind die ‚Luminaries', also jene transnationalen Akteur*innen, die das Denken und die Strategien in bestimmten Bereichen entwickeln, wie z.B. in Bezug auf die Aufhebung von Abtreibungsgesetzen, die Bekämpfung von Antidiskriminierungsgesetzen und die Ablehnung der Gleichstellung von LGBTQI Personen. Diese Strategien werden dann zu gegebener Zeit von den jeweils Verantwortlichen auf nationaler Ebene aufgegriffen, angepasst und umgesetzt. Das hat seit 2013 zu ähnlichen Initiativen und Mobilisierungen gegen Abtreibung, Geschlechterfeindlichkeit und Homophobie an unterschiedlichen Orten geführt.
Eine weitere Kategorie von Personen sind die ‚Agenda-Europe-Insider': Hierbei handelt es sich um einflussreiche Personen in Entscheidungspositionen, wie beispielsweise gewählte Politiker*innen, Regierungsbeamt*innen, EU- und Europaratsfunktionär*innen und sogar Personen mit Minister*inrang oder Justizbedienstete. Letztlich ist jede soziale Bewegung auf die Unterstützung ihrer grosszügigen Geber*innen angewiesen, und dabei kann die Agenda Europe auf ein buntes Gemisch europäischer Aristokrat*innen, russischer Oligarch*innen, klimawandelleugnender Milliardär*innen, korrupter italienischer Politiker*innen und an die christliche Rechte der USA zählen.
Weit entfernt von kuschelnden Christ*innen, die unglückselige Opfer von Intoleranz einer säkularen Gesellschaft sind, sollte man die Mitglieder der Agenda Europe an dem Unternehmen messen, das sie zu behalten gedenken. Zu diesem Unternehmen gehört ein Russe namens Alexey Komov[13], der der internationale Vertreter einer in Moskau ansässigen orthodoxen Stiftung ist, die einem Oligarchen gehört, der aufgrund seiner Unterstützung für die bewaffneten Rebellen in der Ostukraine mit einem Einreiseverbot in die EU belegt ist. Ein weiterer Gipfelteilnehmer und ‚Luminary' der Agenda Europe ist Luca Volonté[14], ehemaliger italienischer Politiker, der einst der grössten politischen Fraktion des Europarates vorstand und gegen den ermittelt wird wegen der Annahme von Bestechungsgeldern aus Aserbaidschan für entsprechend positive Abstimmungsergebnisse.
Ignacio Arsuaga, ein führendes Mitglied von Agenda Europe aus Spanien, verlor ein Verleumdungsverfahren, als er als Vertreter einer mexikanischen, paramilitärischen, ultra-katholischen Geheimorganisation namens "El Yunque"[15] in die Schlagzeilen geriet. Schliesslich gründete der Gastgeber des Agenda-Europe-Gipfels 2016 in Warschau, Aleksander Stepkowski[16], eine Organisation in Polen, die Teil eines transnationalen Netzwerks[17] ist, das in Frankreich von öffentlichen Stellen als ‚pseudokatholische, kultähnliche Bewegung'[18] eingestuft wird. Stepkowski war Staatssekretär in der polnischen Regierung, als er die Gäste 2016 zum Gipfeltreffen begrüsste; im Februar 2019 wurde er in den neuen Obersten Gerichtshof[19] berufen. Kurz gesagt, die Agenda Europe vereint sozial extrem konservative, traditionelle und in einigen Fällen auch marginale und rechtsextreme, christlich-religiöse Bewegungen und Akteur*innen in einem einzigen Netzwerk.
Wird die Demokratie herausgefordert, richtet sich dies oft zuerst gegen Frauenrechte und sexuelle Minderheiten. Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Russland, Polen und Spanien sowie der Kampagnen gegen das Istanbuler Übereinkommen scheint es, als seien das nächste Angriffsziel der Agenda Europe Gesetze zu geschlechtsspezifischer Gewalt[20]. Für progressive Akteur*innen und Politiker*innen, die angesichts der Erosion demokratischer Werte in Europa besorgt sind, ist es daher von entscheidender Bedeutung, sich der Existenz der Agenda Europe bewusst zu sein. Glaubensvertreter*innen sollten ebenso besorgt sein, da kleinste Randgruppen ihrer Gemeinschaft nunmehr behaupten, im Namen aller Christ*innen zu sprechen.