Die Veröffentlichungen auf der Plattform Wikileaks 6 Mythen über Julian Assange

Politik

Eine Rede für Julian Assange, die auf der von den GGI (= Grüne für Grundrechte und Informationsfreiheit) anlässlich der Berufung gegen die Auslieferung in die USA veranstalteten Kundgebung am 20. Februar 2024 in Wien gehalten wurde.

Protestaktion gegen die Inhaftierung von Julian Assange auf dem Piccadilly Circus in London, Juli 2023.
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Protestaktion gegen die Inhaftierung von Julian Assange auf dem Piccadilly Circus in London, Juli 2023. Foto: Alisdare Hickson (CC-BY-SA 4.0 cropped)

29. März 2024
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Ich möchte in meiner Rede einen kurzen Rückblick auf die Ereignisse geben. Und zwar deswegen, weil in vielerlei Hinsicht immer noch völlig falsche Narrative in Umlauf sind, die einmal von den Meinungsmachern im öffentlichen Diskurs etabliert worden sind und seitdem immer wieder mantraartig wiedergekäut werden.

So hat es beispielsweise im vergangenen Juni, das war, als die bislang letzte Berufungsverhandlung stattfand, ein „Standard“-Journalist mal wieder nicht lassen können, in seinem Artikel die Behauptung einzustreuen, dass Julian Assange 2016 zusammen mit den Russen den US-Wahlkampf sabotiert hätte.1

Ganz nebenbei werden oft von gewissen Journalisten solche ungeheuerlichen Anschuldigungen gegen Assange in ihre Texte eingebaut, — in einem einzigen Satz, ohne nähere Informationen, ohne Kontextualisierung und ohne Möglichkeit einer Überprüfung für den einfachen Medienkonsumenten, — und ohne dass überhaupt klar ist, was das eigentlich heissen soll. Und viele Leute glauben das dann wirklich: Julian Assange sei schuld daran, dass Hillary Clinton nicht US-Präsidentin geworden sei, sondern Donald Trump.

Auf diese Weise funktioniert leider heutzutage über weite Strecken der Journalismus, muss man sagen. Also höchst manipulativ.

Darum möchte ich hier ein paar von diesen Behauptungen ins richtige Licht rücken. Natürlich kann ich in einer 10-minütigen Rede nur ganz wenige Eckpunkte des offiziellen Narrativs korrigieren.

Wer sich darüber hinaus genauer informieren möchte, dem empfehle ich insbesondere die Lektüre des Buches von Nils Melzer, mit dem Titel „Der Fall Julian Assange“.2 Das ist eine grundlegende Recherche. Der mittlerweile ehemalige UN-Sonderbeauftragte für Folter hat nämlich genau diejenige kritische Recherche gemacht, die eigentlich die Journalisten hätten tun sollen. Viele gute Artikel zu dem Thema haben aber auch die deutschen Online-Medien „Nachdenkseiten“ und „Telepolis“ veröffentlicht, und ich selbst konnte als Blogger für den „Standard“ gleichfalls einige gute Artikel zum Fall Assange veröffentlichen, in denen ich sehr viel an Information sehr dicht zusammengefasst habe, — bevor ich vom Standard gecancelt wurde.3 Diese von mir geschriebenen Zusammenfassungen kann ich sehr empfehlen.4 Wer hingegen näher an den Primärquellen dran sein will, dem lege ich beispielsweise die englischsprachige Seite von Craig Murray nahe. Dabei handelt es sich um einen ehemaligen britischen Botschafter, der das Prozessgeschehen von Anfang an aus allernächster Nähe verfolgt hat. Die Seite heisst craigmurray.org.uk. Von zentraler Bedeutung ist ausserdem ein Interview, das Nils Melzer im Jänner 2020 dem Schweizer Online-Medium „republik“ gegeben hat, — also wenn man für sonst gar nichts Zeit hat, dann wenigstens bitte dieses eine Interview nachlesen.5

Gehen wir aber nun der Reihe nach ein paar der Mythen zum Fall Julian Assange durch.

Mythos Nr. 1: Assange sei im Jahr 2010 aus Schweden vor einer Anklage wegen Vergewaltigung geflüchtet, woraufhin er dann in England gefasst worden wäre.

So eine Anklage hat es nie gegeben, und so eine Flucht von Assange hat es darum auch nie gegeben. Ganz im Gegenteil, Assange ist aufgrund der Anschuldigungen viel länger in Schweden geblieben, als er ursprünglich vorgehabt hatte, so lange, wie er nur konnte, und er hat stets seine Bereitschaft erklärt, mit den schwedischen Behörden in dieser Angelegenheit zu kooperieren. Tatsächlich haben sich die schwedischen Gerichte, solange er in Schweden war, an einer Aufklärung der Vorwürfe gegen ihn nicht interessiert gezeigt. Assange musste dann aber ganz einfach logischerweise irgendwann das Land verlassen. Und just in diesem Moment, als er das Land verlässt, — übrigens mit dem Einverständnis der Staatsanwaltschaft —, gerade in diesem Moment wird auf einmal ein internationaler Haftbefehl gegen ihn ausgestellt. Das Narrativ des flüchtigen Sexualverbrechers ist geboren. Aber auch dann ist es nie zu einer Anklage gegen Assange gekommen. Schon deswegen nicht, weil es nie ein tragfähiges Material dafür gegeben hatte.

Mythos Nr. 2: Assange hätte durch seine Veröffentlichungen auf der Plattform Wikileaks Menschenleben, das Leben von US-Informanten, gefährdet.

Tatsächlich konnte die US-Regierung bisher keinen einzigen Fall benennen, ich wiederhole: keinen einzigen Fall, wo irgendjemand durch die Veröffentlichungen von Wikileaks zu Schaden gekommen wäre. Das wurde auch in einem Prozess in den USA selbst, nämlich im Verfahren gegen Chelsea Menning, festgestellt.

Zu Schaden gekommen sind aber sicher viele Leute durch die US-Kriegsverbrechen, die diese Veröffentlichungen aufgedeckt haben.

Mythos Nr. 3: Assange hätte sich in der ecuadorianischen Botschaft wie ein Rowdy aufgeführt und seine Katze gequält.

Nils Melzer weist darauf hin, dass für all diese Behauptungen kein einziger Beweis existiert. Videoaufnahmen, die Derartiges belegen hätten sollen, weisen vielmehr auf die Symptome schwerer psychologischer Folter hin.

Am 11. April 2019 wurde Assange völlig verwahrlost, mit langen, verfilzten Haaren und einem dichten, ungepflegten Vollbart von der britischen Polizei aus der Botschaft gezerrt. Auch das hat dazu gedient, ihn als eine möglichst abstossende, lächerliche Figur zu karikieren. Wenige wissen aber den Hintergrund: Es wurden ihm in der Botschaft nicht einmal mehr grundlegende Mittel für die Körperpflege zur Verfügung gestellt.

Mythos Nr. 4: Assange hätte zusammen mit den Russen den US-Wahlkampf sabotiert und auf diese Weise Trump zum Präsidenten gemacht.

Da sind wir beim eingangs erwähnten Punkt. So viel ist an dem Vorwurf wahr: Assange hat unangenehmes Material über Hillary Clinton und die Demokraten verbreitet. Aber er hat nichts veröffentlicht, was nicht den Fakten entsprochen hätte. Tatsächlich hat Assange nichts anderes als Journalismus gemacht. Wenn hierzulande private Chats von ÖVP-Politikern veröffentlicht werden, dann findet das bei unseren linksliberalen Meinungsmachern völlige Zustimmung. Aber kaum geht es gegen eine Person, die sie gerne als US-Präsidentin gesehen hätten, sprechen sie von den gleichen Methoden auf einmal, als würde es sich dabei um etwas Verbrecherisches handeln. Es ist das üblich gewordene Messen mit zweierlei Mass.

Ob dabei die Russen irgendwie die Finger mit im Spiel hatten, ist übrigens sehr zweifelhaft, aber selbst, wenn — wobei überall haben die Amis ihre Finger im Spiel, und darin sieht man kein Problem.

Statt sich in Form von Julian Assange und den Russen einen Sündenbock zu suchen, hätten Hillary Clinton und ihre Freunde sich an der Nase nehmen und sich fragen sollen, ob es nicht vielleicht an ihnen selbst liegt, dass sie diesen Wahlkampf verloren haben. Es sind halt immer die anderen schuld, aber nie man selbst.

Mythos Nr. 5: Julian Assange hätte in England bislang einen fairen Prozess erhalten, und man könne Vertrauen in die britische Rechtsprechung haben.

Ganz im Gegenteil sind die Rechtsbrüche, von denen Nils Melzer in seinem Buch berichtet, derartig zahlreich, dass ich sie hier gar nicht alle aufzählen kann. Das fängt allerdings schon bei der schwedischen Justiz an, denn der internationale Haftbefehl gegen Assange wurde auf eine Art und Weise erlassen, die eigentlich illegal ist, —darum aber hätte ihn auch die britische Justiz im Grunde nie anerkennen dürfen. Weiters stellt sich für mich die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass hier ein Mann an die amerikanische Justiz ausgeliefert werden soll, der nicht einmal amerikanischer Staatsbürger ist und der keines seiner angeblichen Vergehen auf amerikanischen Boden begangen hat. Wie können dann für ihn die Gesetze der Vereinigten Staaten gelten?6

Der ganze Prozess ist von vorne bis hinten illegal.

Schliesslich aber ist auch die Art der Prozessführung mehr als obskur. Theoretisch handelt es sich hierbei um ein öffentliches Verfahren, wo jeder zuschauen können soll, de facto aber wurden die Bedingungen so gestaltet, dass nur eine Handvoll von Personen Zugang zur Besuchertribüne erlangen konnte, und nicht einmal Angehörige grosser Medienhäuser und von NGOs hatten so ohne weiteres die Möglichkeit der direkten Prozessbeobachtung.

Das erstreckt sich bis auf die heutige Berufungsverhandlung. In einem aktuellen Blogeintrag7 schildert Craig Murray das kafkaeske Procedere, dem man sich unterziehen musste, um auch nur einen Online-Zugang zu erhalten. Man wollte und will offenkundig nicht, dass so wirklich allgemein beobachtbar ist, was da alles im Gerichtssaal passiert.

Das alles sind also Fakten und Hintergründe, über die man aus unseren Leitmedien kaum einmal etwas erfährt. Genauso wie viel zu wenige wissen, dass es während des Aufenthalts von Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft nicht bloss Pläne der Amerikaner gab, ihn zu kidnappen, sondern überdies auch, ihn eventuell zu vergiften.8 Oder dass das FBI einen pädophilen Isländer zu Falschaussagen gegen Assange angestiftet und ihm dafür Straffreiheit versprochen hat.9

All das sollte eigentlich andauernd in den Medien Thema sein, ist es aber nicht.

Mythos Nr. 6: Zum Abschluss möchte ich auch noch auf einen Mythos Nr. 6 zu sprechen kommen. Wobei dieser Mythos Nr. 6 ein wenig anders gelagert ist als die vorher genannten. Es geht da nicht um ein falsches Narrativ, sondern viel mehr um ein Ressentiment, mit dem man es immer wieder zu tun hat, wenn man mit Assange feindlich gesinnten Leuten diskutiert. Auch dieses Ressentiment ist aber freilich ein Effekt der gegen ihn gerichteten Propaganda. Es handelt sich um ein Ressentiment gegen ihn als Person. Da wird einem dann beispielsweise erklärt: Assange sei doch ein Narziss, ein unsympathischer Kerl, ein eitler Pfau und weiss Gott was alles.

Das ist eine Denkweise, die leider gar nicht so selten ist, und sie weist darauf hin, wie wenig ein Bewusstsein davon in unserer Gesellschaft verankert ist, was Grundrechte und was Rechte überhaupt sind und was sie bedeuten. Ob einem Julian Assange als Person sympathisch ist oder nicht, das ist doch bitte nicht das, worum es geht, und es kann doch niemand ernsthaft einen Grund für die Inhaftierung eines Menschen darin sehen, dass er einem persönlich sympathisch ist oder nicht und was er nun für Macken hat oder nicht.

Und vor allem übersieht so eine Argumentation etwas ganz Wesentliches: Nämlich, dass im Fall Julian Assange unser aller Schicksal verhandelt wird. Es geht nicht bloss um die Freiheit von Julian Assange, es geht um die Freiheit von uns allen!

Nachschrift:

Die Mainstream-Medien haben auch jetzt, im Zuge der Berufungsverhandlung, ganz so funktioniert, wie ich es in meiner Rede beschrieben habe. Zuerst berichteten sie überhaupt nichts darüber. Dann, ein, zwei Tage vor dem Termin plötzlich der eine oder andere Artikel darüber, und dann gruben sie streckenweise natürlich erst recht wieder haargenau jene Vorwürfe gegen Assange heraus, gegen die ich hier angeredet habe. Das kommt wie das Amen im Gebet. Es sind immer nur die gleichen Sätze und Phrasen, mit denen man es hier zu tun hat, es ist immer nur das dasselbe Drehbruch, das der Journalismus hier rekapituliert, ganz nach dem Prinzip „Und täglich grüsst das Murmeltier“. Völlig nach Schema F wiederholte etwa Hans Rauscher im „Standard“10 den Vorwurf, dass Assange „Personen im US-Geheimdienstbereich gefährdet“ hätte, und ebenso behauptete er zum x-ten Mal, dass der Australier „fragwürdig“ sei, weil er „2016 mit grösster Sicherheit zum Wahlsieg von Donald Trump beigetragen hat.“

Eine Behauptung, die er in beinahe jedem seiner Kommentare zu Assange gebetsmühlenartig wiederholt, und worauf das „mit grösster Sicherheit“ beruht ausser auf dem Ressentiment des Verfassers, bleibt rätselhaft. Und das soll Journalismus sein? Dabei fällt Rauschers Text noch relativ wohlwollend aus im Vergleich zu einem Beitrag von Stefan Kornelius in der „Süddeutschen Zeitung“11, der schon die pointierte Überschrift „Dieser Mann ist ein Gefährder“ trägt. Und jetzt ist das Thema Assange wieder in der Versenkung verschwunden.

Ortwin Rosner

Fussnoten:

1 Julian Assange ist kein Held, aber er verdient längst die Freiheit – Manuel Escher – derStandard.at › Diskurs

2 https://www.piper.de/buecher/der-fall-julian-assange-isbn-978-3-492-31944-7

3 2 + 2 = 5: Wie der Standard mich zensuriert hat (tkp.at)

4 Hier eine, ich hoffe, vollständige Auflistung meiner Assange-Artikel beim Standard (in zufälliger Reihenfolge): Buch zum Fall Julian Assange: Warum und wie er in England gefoltert wird – Blogs – derStandard.de › Diskurs; Julian Assange: Wie die USA ihre Kriegsverbrecher schützen – Blogs – derStandard.de › Diskurs; Julian Assange: Die Leiche im Keller des Westens – Blogs – derStandard.de › Diskurs; Skandalprozess in London: Dramatischer Kampf um das Leben von Julian Assange – Blogs – derStandard.de › Diskurs; Wie die schwedischen Behörden die Vergewaltigungsanzeige gegen Julian Assange fälschten – Blogs – derStandard.de › Diskurs; Warum Julian Assange bald nicht mehr leben könnte – Blogs – derStandard.at › Diskurs

5 https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange

6 Einzig an diesem Punkt muss ich meine während der Demo-Rede getätigten Aussagen relativieren. Inzwischen hatte ich eine Unterredung mit Manfred Nowak (wie Nils Melzer ehemaliger UN-Sonderbeauftragter für Folter), der mich darüber aufklärte, dass das rechtlich in Ordnung sei. Das muss ich also zur Kenntnis nehmen, wenngleich es dabei bleibt, dass das mir und vielen anderen sehr seltsam vorkommt. Auch ohne diesen Punkt gibt es jedoch genügend Fakten, die in aller Klarheit belegen, dass der ganze Prozess von vorne bis hinten unrechtmässig ist.

7 https://www.craigmurray.org.uk/archives/2024/02/state-secrecy-and-public-hearings-part-one/

8 https://www.telegraph.co.uk/news/2020/09/30/us-contacts-considered-kidnap-poisoning-julian-assage-court/; sehr interessant auch diese ARTE-Doku, die freilich in ihrem Titel trotzdem wieder das falsche Narrativ der „Spionage“ verbreitet: https://www.youtube.com/watch?v=NQrz-J8R9zA

9 https://www.telepolis.de/features/Wichtiger-Zeuge-der-US-Anklage-gegen-Assange-gesteht-Falschaussage-6129348.html

10 https://www.derstandard.at/story/3000000208297/assange-und-nawalny-gleichsetzen

11 https://www.sueddeutsche.de/meinung/julian-assange-wikileaks-auslieferung-justiz-kommentar-1.6382464?reduced=true


Zuerst erschienen auf streifzuege.org