Interview mit einem Blog-Aktivisten Die schwarzen Ecken des Webs: Der Blog Nigra

Politik

Mittlerweile sind es doch einige: die Webpräsenzen des Anarchismus. In einer Reihe von Interviews möchten wir euch mit den schwarzen Ecken des Webs vertraut machen. Diesmal stellen wir euch vor: Den Blog Nigra.

Politisches Graffiti in Mailand.
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Politisches Graffiti in Mailand. Foto: G.dallorto (PD)

4. November 2013
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7 min.
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Wann und warum hast du angefangen einen Blog zu betreiben?

Ich habe im Herbst 2007 bei Blogsport mein erstes eigenes Blog als Nigra (Schwarz auf esperanto) eingerichtet. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Einerseits sollte das Blog die Internetpräsenz für eine (nie verwirklichte) Zeitung sein. Andererseits habe ich schon immer gerne meine Erlebnisse und Gedanken zu allen möglichen Themen aufgeschrieben, das hat in der Prä-Internetzeit in den 1980ern mit mehreren Schüler_innenzeitungen angefangen, ging in den 1990ern weiter mit einer lokalen anarchistischen Zeitung, die wir veröffentlichten und mündete dann schliesslich in den unglaublichen Mitteln des Internets, zu dem ich erst sehr spät fand. Seither betreute und schrieb ich diverse Blogs.

Im Winter 2010 bin ich dann zu noblogs.org gewechselt, wo ich mich nach wie vor befinde.

Ich mag es, ein Ego-Blog zu betreiben. Ich muss keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten einer Gruppe oder Organisation nehmen, muss nicht jeden Satz oder jede Formulierung zehnmal unter die Lupe nehmen. Ich schreibe worüber ich will. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich nicht in Gruppen organisiert bin. Aber das Blog gibt mir die Möglichkeit, mich auch als Individuum in der Öffentlichkeit auszudrücken.

Worüber schreibst du?

Schwerpunktmässig über das weite Feld des Anarchismus und das der praktizierten Anarchie. Das sind dann hauptsächlich Berichte über Aktionen, Demos und Treffen, aber auch Bücherrezensionen, Gedanken zu politischen Geschehnissen und Interviews. Meistens schreibe ich so, wie es mir aus der Feder...äh...in die Tastatur fliesst ohne gross rumzubasteln.

Hin und wieder übersetze ich Texte aus dem Englischen.

Nicht jedes Thema, über das ich schreibe, ist ein rein anarchistisches, aber da der Anarchismus ja alles verändern will, steckt auch in allem ein Bezug zu ihm.

Für wen betreibst du deinen Blog?

Wohl hauptsächlich für mich selber (was sich auch an den Zugriffszahlen erkennen lässt, hahaha.). Es ist aber auch eine Internetpräsenz des Einzelmitglieds Nigra im A-Netz und im FdA, da es in der Ortenau (das ist ein Landkreis nördlich von Freiburg und südlich von Karlsruhe) zur Zeit leider keine organisierte anarchistische oder libertäre Gruppe gibt (aber hier tut sich zum Glück gerade was!).

Da ich meine Artikel und die dazugehörigen Fotos aber auch oft auf Indymedia Linksunten veröffentliche und manchmal als Printausgabe für Läden hier bei uns, will ich schon auch anderen Menschen meine Sichtweisen mitteilen und mich in den politischen Diskurs der (anarchistischen) Bewegung einmischen.

Angenommen, man würde dir eine Seite in der nächsten FAZ zur Verfügung stellen - was würdest du schreiben?

Ob das nicht Perlen vor die Säue werfen wäre? Ach nee, Schirrmacher ist ja jetzt Antikapitalist. Dann würde ich die unerwartete Chance dazu nutzen, um über das weltweite Wachstum der anarchistischen Bewegung zu schreiben, vom anarchistischen Netzwerk Südwest* schwärmen, das FdA über den Klee loben und darüber, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als eine herrschaftsfreie Gesellschaft aufzubauen, wenn wir überleben wollen. Und ich würde zeigen, dass das ganze (schon jetzt) weitaus mehr Spass macht, als das, was wir im Moment haben.

Welche (Internet-)Lektüre schlägst du vor?

Ich finde es sehr schwer Internetlinks vorzuschlagen. Es gibt so viele gute Seiten, die lesenswert sind. Auf meinem blog habe ich einige wenige verlinkt, die für mich etwas taugen. Viele von ihnen führen ihrerseits wieder zu guten Seiten. An regelmässiger Papierlektüre kann ich die Direkte Aktion, die Graswurzelrevolution, die Gǎi Dào (endlich als Printausgabe!), die Wildcat und die le Monde Diplomatique empfehlen. Bücher lese ich viel von den üblichen verdächtigen Verlagen: Nautilus, Unrast, Trotzdem, Alibri und Assoziation A.

Gab es in Sachen politischer Theorie in letzter Zeit etwas, was dich auf neue Gedanken gebracht oder zum Umdenken bewegt hat?

Auf neue Gedanken bringt mich alles Mögliche, aber die solide Basis, die Erkenntnis, dass eine Herrschaft von Menschen über Menschen falsch ist, werde ich wohl nicht mehr aufgeben. Da gibt es kein „Umdenken“ für mich. Ich lese zur Zeit eher Bücher zum Thema Religion und Religionskritik und mache mir da viele Gedanken, die eher philosophisch zu nennen wären. Wobei ich da immer wieder merke, dass alles untrennbar miteinander verbunden ist und diese Gedanken auch mein politisches Denken und Handeln beeinflussen. Desweiteren hat mich im letzten Jahr das Buch „Schmerzgrenze – vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ von Joachim Bauer angesprochen. Er widerlegt den angeblichen Aggressionstrieb und zeigt anhand von neurologischen Erkenntnissen, dass der mensch ein soziales und kooperatives Wesen ist. Lustigerweise haben das viele Anarchist_innen und andere fortschrittliche Menschen, hier besonders früh Kropotkin mit seinem buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ schon vor vielen Jahren behauptet und belegt.

Immer wieder spannend und ermutigend finde ich Berichte über altertümliche herrschaftsfreie Gesellschaften. Der gute alte Horst Stowasser hat darüber ein ganzes Kapitel in seinem genialen fetten Schinken „Anarchie“ geschrieben. Und in der Ausgabe der Zeitschrift „Wespennest“ vom Mai 2012, deren Schwerpunktthema „Anarchistische Welten“ hiess, gab es einen Artikel über das alte Timbuktu, das lange Zeit ohne zentrale Autoritäten bestand und Strukturen aufwies, die es verunmöglichten, dass sich Eliten herausbildeten. Das ist jetzt auch als buch bei Nautilus erschienen.

Ein politisches Buch gibt es doch, das mich zuletzt beeindruckt hat: Parecon von Michael Albert. Es ist zwar schon etwas älter, aber ich kam nie dazu es zeitnah nach seinem Erscheinen zu lesen. Ich finde es sehr wichtig, weil es versucht, den selbstverwalteten (Arbeits-)Alltag nach dem Kapitalismus plastisch darzustellen. Das liest sich stellenweise ein bisschen zäh, gibt einem aber gute Beispiele an die Hand für Diskussionen mit Skeptiker_innen, die sich ein Leben jenseits der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform gar nicht vorstellen können.

Was braucht oder fehlt deiner Meinung nach der anarchistischen Bewegung?

Wir brauchen Zulauf. Ohne kritische Masse werden sich unsere Ideen nicht aus der Nische in die breite Gesellschaft, wo sie hingehören, bewegen. Und genau das ist der Knackpunkt: Wie erreichen wir mehr Menschen und schaffen es, dass sie selbst im Sinne der anarchistischen Idee aktiv werden? Hierzu ist in der März 2013 Ausgabe der Gǎi Dào ein lesenswerter Artikel von w.m. erschienen, in dem ich viel aus meiner eigenen Praxis wiedererkannt habe. Ihr habt ihn ja auf systempunkte.org mit einer interessanten fragenden Erweiterung veröffentlicht.

Mehr Menschen bedeutet eine breitere Diskussion, mehr Projekte, mehr Aktion, mehr Öffentlichkeit, was wiederum mehr Menschen anzieht und begeistert. Und mehr Fragen aufwirft.

Ich begebe mich lokal bewusst auch in bürgerliche politische Zusammenhänge und Bündnisse, um meine anarchistischen Ideen zu propagieren (nicht immer habe ich dazu den Mut...). Das ist zäh und oft ein Kampf gegen Windmühlen. Aber das Sich-Abwenden und das Versauern in unseren wohligen subkulturellen Nischen wird nicht mein erhofftes Ergebnis, die soziale Revolution, bringen.

Wir brauchen mehr Mut und Selbstbewusstsein, uns im Betrieb, der Familie, der Schule, in der Öffentlichkeit als Anarchist_innen zu „outen“ und zu unseren Idealen zu stehen. Zur zeit sind viele Menschen offen für „neue“ Ideen, sie suchen nach Alternativen zum jetzigen System.

Ich bin da ja ein Optimist und sehe uns auf guten Wegen.

Welche Möglichkeiten siehst du durch das Internet für die anarchistische Bewegung?

Die anarchistische Bewegung ist ja nun schon um einiges älter als das Internet. Und auch in ihren Hochphasen hat sie es geschafft, Millionen Menschen zu organisieren ohne soziale Netzwerke, Twitter und Smartphones. Aber das Internet birgt ein enormes Potential für uns, auch weil es einen so anarchischen Charakter hat.

Es ermöglicht uns, uns einer weltweiten Öffentlichkeit zu präsentieren und uns innerhalb kurzer Zeit zu vernetzen und dadurch aktiv zu werden. Viele Gruppen, die ich kenne, auch ich, nutzen das Internet und die vielen Tools, die es da gibt, für die Zeit zwischen den echten Treffen, um zu diskutieren, an Texten zu arbeiten, zu recherchieren und Entscheidungen zu treffen. Und ich sehe in ihm ein wichtiges Werkzeug für die anarchistische Zukunft, was überregionale Kontakte, Entscheidungsfindungen und deren Transparenz angeht.

Das Interview wurde durchgeführt von Systempunkte