Vom falschen Vertrauen in den Staat und der Fehleinschätzung der eigenen Kräfte Debatte um #ZeroCovid

Politik

Die Initiative #ZeroCovid – „Das Ziel heisst Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown“ – macht seit Jahresanfang von sich reden, nachdem Ende 2020 ein internationaler Kreis von Wissenschaftlern einen entsprechenden Aufruf gestartet hatte.

Logo der Initiative Zero-COVID. Die Initiative ist ein Aufruf, die Infektionszahlen möglichst auf Null zu reduzieren.
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Logo der Initiative Zero-COVID. Die Initiative ist ein Aufruf, die Infektionszahlen möglichst auf Null zu reduzieren. Foto: zero-covid.org (PD)

3. März 2021
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Sie wirbt mit der Anzahl ihrer Unterstützer, mittlerweile über 100.000, fordert einen radikalen Lockdown und wendet sich dabei gerade auch an Linke und Gewerkschaften. Für die bürgerliche Presse war gleich klar, dass es sich um einen Fall verfehlter Kapitalismuskritik handelt – „Reines Wunschdenken“ (SZ,22.1.21) –, also zu vernachlässigen ist.

Inzwischen liegt jedoch eine Reihe ernstzunehmender Stellungnahmen vor, z.B. beim Online-Magazin Telepolis. Dort nannte Karl Reitter das Vorhaben blauäugig und naiv und warf der Initiative vor, linke Flankendeckung für einen autoritären Corona-Staat zu leisten. Aus Gewerkschaftskreisen gab es dagegen einen unterstützenden Aufruf, u.a. mit der Parole „Alle Räder stehen still – stoppt die Infektionen am Arbeitsplatz“, den Detlef G. Schulze zuletzt bei Scharf links mit einem skeptischen Kommentar versah: „Die Formulierungen erwecken leicht den Eindruck, dass es sich um eine einfach zu machende, technokratische Sache handele – also vernachlässigen den Klassenkampf, der zur Durchsetzung nötig wäre“.

Wer hat nun recht, die Initiatoren oder die Kritiker? Oder vielleicht keiner von beiden? Hier ein Versuch, die Probleme zu sortieren und zu klären, wo die streitenden Parteien richtig liegen - und wo nicht.

Was die Zero-Initiative will und wo sie daneben liegt

Ausgangspunkt des Aufrufs ZeroCovid ist die Feststellung: „Nach einem Jahr Pandemie sind wir in ganz Europa in einer äusserst kritischen Situation.“ Schon dieser erste Satz wirft Fragen auf: Wer ist eigentlich das „Wir“, das da angesprochen wird? Schliesslich stellt sich die Situation für die Menschen in Europa ganz unterschiedlich dar – je nachdem, welche Konsequenzen die Entscheidungen der Politik für ihre soziale Rolle haben.

Von diesen Unterschieden will der Aufruf zunächst einmal nichts wissen. Die Tatsache, dass viele Menschen erkranken und sterben, führt ihn zu der Diagnose: „Die Massnahmen der Regierungen reichen nicht aus: Sie verlängern die Pandemie, statt sie zu beenden, und gefährden unser Leben. Die Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, ist gescheitert. (…) Wir brauchen jetzt einen radikalen Strategiewechsel: kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern Beendigung: Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein.“

Unterstellt wird mit der Feststellung vom regierungsoffiziellen Scheitern der Pandemiestrategie, diese hätte den Verlust von Menschenleben um jeden Preis verhindern sollen. Dabei geben die Autoren des Aufrufs mit ihrem Lagebericht selber zu erkennen, dass es den Regierungen darum nie ging. Die Kontrolle des Pandemiegeschehens kennt eben keine absolute Zahl von Toten oder Infizierten, an der sie sich messen würde. Alle Zahlen sind Indikatoren für deren gelungene oder weniger gelungene Realisierung. Eine veränderte Zielsetzung – weil regierungsoffiziell jetzt die Todesfälle das Scheitern anzeigen würden – ist nicht anzutreffen. Die Zuständigen sehen keinen Anlass, ihre Strategie grundlegend zu ändern. Die unterstellte Gemeinsamkeit ist deshalb schon im Ausgangspunkt eine Fiktion.

Zentrales Moment der von ZeroCovid vorgeschlagenen Strategie ist die Ausweitung des Lockdowns: „Mit Impfungen allein ist der Wettlauf gegen die mutierte Virusvariante nicht zu gewinnen – erst recht nicht, wenn die Pandemiebekämpfung weiter aus aktionistischer Einschränkung der Freizeit ohne Shutdown der Wirtschaft besteht.“ In der Tat, vom Standpunkt einer effektiven Pandemiebekämpfung aus ist es wirklich nicht zu verstehen, wieso die Bürger in ihrer Freizeit Abstand halten oder sich nicht zu mehreren in geschlossenen Räumen begegnen sollen, während sie sich auf dem Weg zur Arbeit gedrängt in Bussen und Bahnen aufhalten oder den ganzen Tag über in Büros oder Fabriken gemeinsam aktiv sein müssen, ohne die ganze Zeit den notwendigen Mindestabstand einhalten zu können.

Dass dies so ist, könnte einen aber auch auf die Idee bringen, dass dies wegen der Rücksichtnahme auf die Wirtschaft und ihr Wachstum genau so sein soll und dass Infektionen und Todesfälle deshalb in Kauf genommen werden. Wirtschaft ist dabei natürlich nicht gleich Wirtschaft: Das Schliessen der Freizeitindustrie trifft zwar ökonomische Sektoren, aber eben nicht die entscheidenden Teile, die Deutschlands Stärke auf dem Weltmarkt begründen.

Irgendwie merken auch die Autoren des Aufrufs, dass die Stilllegung der Wirtschaft von der Politik so einfach nicht zu erwarten ist. Andererseits wollen sie keinen direkten Gegensatz zu ihr aufmachen: „Wir sind allerdings überzeugt, dass die Eindämmung des Sars-CoV-2 Virus (sic!) nur gelingen kann, wenn alle Massnahmen gesellschaftlich solidarisch gestaltet werden.“

Statt den Gegensatz zu benennen, erfolgt also ein Appell ans solidarische Verhalten. Solidarität im hier gemeinten Sinne gründet aber nicht auf einem gemeinsamen Interesse oder einer gemeinsamen Einsicht in sachliche Notwendigkeiten. Vielmehr geht es um das Absehen von allen Unterschieden, die in der Gesellschaft (und zwischen den Staaten) bestehen. Obwohl klar ist, dass die Nationen in Konkurrenz zueinander ihren Vorteil suchen (und dies auch bei dem Kampf um Impfkapazitäten deutlich machen), wendet sich der Aufruf einfach an alle Staaten, zumindest in Europa, die Null bei den Neuinfektionen anzustreben.

Wenn dies gelinge, könnte man wieder in einer gemeinsamen Aktion vorsichtig daran gehen, die restriktiven Massnahmen zu lockern. Dass mit dieser optimistischen Perspektive nicht alles gelöst ist, geben die Autoren auch zu erkennen. Denn sie fordern zudem eine langfristige Vision für Europa. Worin sie bestehen soll, bleibt dann offen.

Doch deuten sich Zweifel am eigenen Konzept an, wenn aus dem bis dahin vorherrschenden „Wir“ und dem wohlmeinenden Appell an die Staaten Europas ein Aufruf an die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften wird: „Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Massnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen. Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen, den Einsatz von Beschäftigten für ihre Gesundheit zu unterstützen.“

Etwas Skepsis und gut gemeinte Vorschläge

Irgendwie wissen also auch die Autoren, dass ihre schöne Vorstellung von einem radikalen Shutdown bei der Politik nicht auf offene Ohren stösst. Eine Schlussfolgerung bezüglich der offiziellen Ziele der Politik wollen sie aber nicht ziehen. Dann wäre es ja aus mit dem „Wir“ und man müsste die entscheidenden Gegensätze zur Sprache bringen, z.B. zwischen der arbeitenden Menschheit und der Politik.

Denn der Versuch, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, ohne der Wirtschaft wirklich zu schaden, geht auf Kosten der Gesundheit derer, die weiterarbeiten müssen. Deshalb wäre es notwendig, den Widerstand der Arbeitnehmer gegen die Entscheidungsgewalt der Arbeitgeber, die von Politik und Medien abgesegnet ist, in Gang zu setzen und zu stärken. Diesen Schluss wollen die Autoren aber nicht ziehen. Auch sie wissen, dass ein Fernbleiben von der Arbeit für die Mehrheit der Menschen gleich Einkommensverlust bedeutet: „Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.“ Und so können sie sich vorstellen, dass der Staat – wo er doch so viel Geld für Rettungspakete ausgibt – dies genauso gut für die Bürger tut, die von ihrer Arbeit leben müssen.

Bei solchen konstruktiven Vorschlägen muss man nur davon absehen, warum der Staat wofür Geld ausgibt und wo er dies sein lässt! Schwer zu ermitteln sind die Gründe natürlich nicht: Der „Wumms“ des Finanzministers soll ja, wie nicht verschwiegen wurde, die Wirtschaft vor der Krise schützen – und er hat offenbar auch Wirkung gezeigt, wie die Gewinnmeldungen nicht nur in der Automobilindustrie zeigen. Dass dieses Geld genauso gut an Obdachlose oder für Migranten ausgegeben werden könnte, wie der Aufruf vorschlägt, will die staatliche Zwecksetzung einfach nicht zur Kenntnis nehmen.

Und wenn man schon dabei ist, von den staatlichen Zwecken abzusehen, und die politische Gewalt für eine (potenzielle) Wohlfahrtseinrichtung hält, dann kann man auch gleich den Ausbau des Gesundheitswesens fordern oder die Impfstoffe zu einem globalen Gemeingut erklären, obgleich die Staaten gerade damit beschäftigt sind, letztere möglichst bei ihnen als Geschäftsmittel zu entwickeln, um sie als Mittel in der staatlichen Konkurrenz um weltweiten Einfluss einzusetzen.

Mit der gleichen Ignoranz gibt der Aufruf sich dann wieder realistisch: „Die notwendigen Massnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Massnahmen finanzierbar.“

Dass es in Europa viel Reichtum gibt, stimmt. Dass er sich in den Händen von Vermögenden befindet, auch. Nur besteht der Zweck der europäischen Staaten ja gerade darin, diesen privaten Reichtum zu mehren und sein Wachstum weiter zu befördern. Schliesslich profitieren die Staaten von dem so produzierten Reichtum, indem er ihnen die Mittel für ihre Macht beschert.

Der gesellschaftliche „Rest“ ist als abhängige Grösse vorgesehen, die diesen Reichtum schaffen darf, aber von ihm weitgehend ausgeschlossen bleibt. Und so muss sich denn auch der Schluss des Aufrufs wieder ignorant zu den gesellschaftlichen Verhältnissen stellen, denn schliesslich organisieren die demokratischen Staaten genau diesen Gegensatz: „Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andrerseits.“

Wenn es keinen Gegensatz zwischen demokratischem Staat und Gesundheitsschutz seiner Bürger gibt, warum dann überhaupt der Aufruf? So einfach in Eins setzen kann man Gesundheitsschutz und Demokratie offenbar doch nicht.

Was bemängeln Kritiker?

In seinem Artikel zu #ZeroCovid bei Telepolis sorgt sich nun Karl Reitter um das Image der Linken. Damit schafft er ein neues Geistersubjekt: Ist im Aufruf von ZeroCovid ständig vom „Wir“ die Rede, so beschwört der Kritiker mit „der Linken“ ebenfalls eine Gemeinsamkeit, die es so nicht gibt. Gemeint ist ja nicht eine bestimmte Partei, vielmehr geht es um die verschiedensten Individuen, Gruppen und Grüppchen, die sich irgendwie als links verstehen, aber weder in einem informellen noch organisatorischen Zusammenhang stehen. Der Initiative begegnet der Autor zunächst mit sozialpsychologischem Verständnis, weil die Pandemie den Menschen das Leben schwer macht. Auch kann er einigen Forderungen des Aufrufs etwas Positives abgewinnen, so etwa der nach dem Ausbau des Gesundheitswesens, der Entkopplung der Impfstoffproduktion von Profitzielen und nach einer europaweiten „Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen“.

Dass diese Forderungen davon absehen, welche Zwecke die europäischen Staaten – ganz unabhängig von der Parteienzusammensetzung ihrer Regierungen – verfolgen, ist dem Autor keine Kritik wert. Er denkt sich wohl den Staat ebenfalls als eine Instanz, die beliebig umgestaltet werden kann, wenn man nur ausreichend Wählerunterstützung findet. Dass die Wähler gar nicht darüber entscheiden, was staatlicherseits an Aufgaben ansteht, sondern Personen auswählen, die die feststehenden Aufgaben ausführen, wird hier grosszügig übersehen.

Stein des Anstosses ist für Reitter die Forderung nach Zero Covid, also Null Infektion: „Es ist die Orientierung auf eine völlige Ausrottung des Virus, die der Initiative jene offenbar faszinierende Aura beschert. Die Vorstellung, alles soziale und gesellschaftliche Leben so lange stillzulegen, bis die Infektionsrate absolut null beträgt, hat etwas Religiöses an sich. Denn es ist ebenso irrwitzig zu meinen, eine Welt ohne Schnupfen und Husten sei möglich, wie eine Welt ohne Viren.“

Es ist schon etwas anmassend, der Initiative vorzuhalten, sie würde davon ausgehen, dass sich mit einem Lockdown, der auch die Arbeitswelt mit einschliesst, alle Viren ausrotten lassen. Davon ist in dem Aufruf nichts zu finden. Wenn dort von einer vorsichtigen Lockerung und von langfristigen Visionen die Rede ist, dann gehen auch dessen Autoren davon aus, dass nach einem totalen Lockdown weiter mit dem Virus praktisch umzugehen ist. Ausgerechnet dort, wo der Aufruf einen reellen Kern hat – dass die Pandemie nur dann stark einzuschränken ist, wenn auch die Wirtschaft in den Lockdown einbezogen wird –, liegt aber der Hauptangriffspunkt der Kritik von Reitter. Während er ansonsten bereit ist, jeden Idealismus des Aufrufs mit zu unterschreiben.

Die Einsicht der Initiative, dass die Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Bürger immer ihre Grenzen am Funktionieren der Wirtschaft hat, will der Autor ebenfalls so nicht stehen lassen: „Diese Botschaft lässt sich auch so dechiffrieren: Da die herrschende Klasse unwillig ist, den Lockdown radikal durchzuführen, muss die Arbeiterinnenklasse ran. Angesichts des trotzkistischen Hintergrundes mancher Initiatorinnen könnte man auch sagen: Lockdown unter Arbeiterinnenkontrolle. Daher erklärt sich auch der befremdliche Appell an die Gewerkschaften.“ Da, wo ZeroCovid sich auf die Arbeiter bezieht, weil der Aufruf irgendwie noch eine Ahnung davon hat, dass von der Politik wie von der Wirtschaft eine Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Beschäftigten nicht zu erwarten ist, hält Reitter dies für einen Fehlgriff. Und der Übergang zur Denunziation kündigt sich an, wenn auf den politischen Hintergrund einiger Initiatoren verwiesen wird. Ein Rätsel bleibt zudem, wieso es befremdlich sein soll, Gewerkschaften aufzufordern, sich für die Gesundheit ihrer Mitglieder einzusetzen.

Die Kritik mündet dann in den Vorwurf der „Realitätsverweigerung“. Ein seltsamer Vorwurf, zielt er doch darauf, dass diejenigen, die diese Realität verändern wollen, gefälligst deren Anforderungen zu akzeptieren haben. So entlarvt der Kritiker das illusionäre Ziel Null Ansteckung!

Falsche Fragen und der zweifelhafte Wert „Solidarität“

Reitter entdeckt auch weitere Ungereimtheiten wie etwa die Stilllegung der nicht dringlich erforderlichen Bereiche der Wirtschaft: „Ich habe am 18. Januar den Initiatoren via E-Mail mehrere Fragen gestellt, u.a. auch folgende: Was bedeutet das konkret? Werden Lebensmittelgeschäfte geschlossen, die Lebensmittelproduktion stillgelegt? Werden Post, die Zustelldienste, die Müllabfuhr, die öffentlichen Verkehrsmittel, die Taxis stillgelegt?“

Offenbar fanden die so Befragten die Fragen zu oberflächlich und gingen nicht auf sie ein. Man könnte auch zurückfragen: Wieso fallen dem Kritiker sofort die Lebensmittelbranche und andere für die Versorgung notwendige Bereiche ein und nicht etwa die Automobilproduktion oder die Chemieindustrie mit ihrer Herbizid- und Pestizidproduktion, mit denen diese Bereiche den Weltmarkt beglücken?

Für ihn scheint jede Begrenzung der sozialen Kontakte – und sei sie auch zum Gesundheitsschutz vorgenommen – ein Gewaltakt gegen den Bürger zu sein, weswegen ihm alle Verweise des Aufrufs auf Demokratie und Beteiligung der Bürger nur als „gutklingende Phrasen“ von Linken gelten: „Ich fragte die Initiatoren: ‚Demokratie ist ein komplexer Begriff. Ist folgende vorläufige Definition ok? Die Menschen entscheiden per Abstimmung vor Ort. Was ist nun, wenn die Belegschaften, Betreiberinnen von Kindergärten und Schulen usw. sich in den demokratischen Prozessen gegen den radikalen Shutdown aussprechen, wenn sie dagegen stimmen?' (…) Dem Vertrauen, gerade jetzt würden die Massen sich mit Begeisterung dem totalen Shutdown anschliessen, ja ihn mit Nachdruck fordern, liegt eine weitere naive, blauäugige Unterstellung zugrunde. #Zero Covid kann nur der Staat mit repressiven Mitteln durchsetzen, keine Betriebsversammlung und kein Bürgerkomitee kann dies.“

Dem muss man als Erstes entgegnen: Demokratie ist nicht einfach ein Begriff, den man beliebig definieren kann, sondern eine bestehende Staats-, also Herrschaftsform. Die folgende Definition ist dann blauäugig und naiv, weil sie nicht die demokratische Herrschaft erfasst, sondern meint, bestimmte Entscheidungen könnten einfach so von Betriebsversammlungen oder Belegschaften von Kindergärten getroffen werden. Mit der so konstruierten Demokratie will Reiter dann die Initiatoren blamieren.

Damit Arbeitnehmer in Betrieben welcher Art auch immer es sich nicht mehr gefallen lassen, ihre Gesundheit zu riskieren, müssen sie sich in der Tat erst davon überzeugen, dass dieser Schaden nicht hinzunehmen, vielmehr gegen die ins Feld geführten Sachnotwendigkeiten Front zu machen ist. Dass sich das einfach per Abstimmung lösen lasse, ist nicht unbedingt die Vorstellung, die dem Aufruf zugrunde liegt – denn dann könnten sie sich den Versuch der breiten Mobilisierung sparen –, sondern die des Kritikers. Und nachdem er erst den Popanz einer Bürgerdemokratie aufgebaut hat, schiesst er ihn ab, in dem er konstatiert, dass die Gremien die betreffende Kompetenz gar nicht besitzen.

So wie der Autor sich die Demokratie zurecht konstruiert hat, verfährt er auch mit dem Begriff der Solidarität: „Ebenso wie der Begriff der Demokratie wird der Begriff der Solidarität jeden Inhalts beraubt und ins Gegenteil verkehrt. Solidarität setzt im Kern verschiedene Betroffenheit voraus. Solidarität ist kein Ausdruck des eigenen, unmittelbaren Interesses. Seine eigenen hoch individuellen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, hat mit Solidarität nichts zu tun. Man ist solidarisch mit Menschen und ihren Bedürfnissen und Kämpfen, obwohl sie nicht unmittelbar die eigenen sind.“

Leider ist diese Vorstellung von Solidarität heutzutage sehr verbreitet und macht sie zu einer rein moralischen Norm. Meinhard Creydt hat jüngst noch bei Scharf links (4.2.21) in diesem Sinne Solidarität als Gegenbegriff zu Egoismus und Egozentrismus vorgestellt. Bei Telepolis schrieb er 2020: „Markus Söder hat ausnahmsweise Recht, wenn er sagt: Die Corona-Vorsorge-Regeln einhalten ist kein Akt der Loyalität oder des Gehorsams gegenüber dem Staat, sondern ein Akt der Solidarität mit den Mitmenschen.“ Wenn es für die Nation hart auf hart kommt, dann soll die antikapitalistische Linke also auch den Schulterschluss mit einer Galionsfigur der autoritären Rechten praktizieren. Natürlich nur ausnahmsweise!

Schaut man einmal zurück in die Geschichte der Arbeiterbewegung, die sich Solidarität auf ihre Fahnen geschrieben und als Kampfbegriff in die Welt der sozialen Auseinandersetzungen eingeführt hatte, so kann man etwas anderes lernen: Der Begriff verdankt sich der Erkenntnis, dass abhängig Beschäftigte der Macht der Arbeitgeber nichts entgegenzusetzen haben, wenn sie ihnen alleine gegenübertreten. Druck ausüben können Arbeitnehmer nur, wenn sie ihre Konkurrenz untereinander aufheben und sich gemeinsam gegen die Macht des Kapitals wehren.

Bei diesem Zusammenstehen und Zusammenhalten – früher nannte man das „Klassenkampf“ – geht es um das Interesse der Beschäftigten an einem Auskommen durch Lohn und Gehalt, also gerade nicht um eine Selbstlosigkeit, die nur an die Gemeinschaft denkt. Dieser Ausgangspunkt ist heute kaum noch präsent. Wenn in der Öffentlichkeit von „Solidarität“ die Rede ist, hört jeder gleich heraus, dass es um weiteren Verzicht geht – ähnlich wie beim Wort „Reform“, das heutzutage regelmässig ankündigt, dass gegen „Besitzstände“ und „Anspruchsdenken“ von Arbeitnehmern vorzugehen ist.

Vater Staat soll helfen – und sich bessern

Weil auch der Aufruf sich nicht unmittelbar an die Betroffenen wendet, sich die Gesundheitsgefährdung nicht länger bieten zu lassen, steht Reitters Urteil fest: „Praktisch bedeutet die von #Zero Covid geforderte Solidarität gerade nicht, sich als gesellschaftlich handelndes Subjekt zu konstituieren. Die Appellationsinstanz ist der Staat, der als verkörperte Vernunft endlich zum guten Herrscher wird. Und das soll (...) am Ende linke Politik sein? (…) Der Aufruf #Zero Covid fällt in eine Zeit, in der die bedrohlichen Züge des Staates und der mit ihnen verbundenen Medien immer offensichtlicher werden.“

Das stimmt an der Kritik: Der Aufruf wendet sich an den Staat und unterstellt ihn als eine Instanz, die eigentlich für das Wohl der Bürger da zu sein hätte. Gleichzeitig wenden sich die Initiatoren an die Bürgerschaft, da sie schliesslich festgestellt haben, dass der Staat den von ihnen zugeschriebenen Aufgaben nicht nachkommt. Deshalb sind alle Bürger und Bürgerinnen aufgerufen, sich der Initiative anzuschliessen. Insofern hat man es mit der zentralen Illusion zu tun, die hierzulande vielfach als „linke Politik“ anzutreffen ist: das Projekt, mittels Mobilisierung der Basis den Staat zu einer wohltätigen Einrichtung für alle zu machen. Warum es dazu einer Gewaltinstanz braucht, um die Bürger zu beglücken, bleibt dabei eine offene Frage.

In der Kritik Reitters wird das verlängert: Besonders verkehrt soll ein solches Politikverständnis angesichts der jetzigen Zeit sein, in der sich der Staat als autoritär erweist. Dies ist aber eine seltsame Kennzeichnung! Zu welcher Zeit ist denn ein staatlicher Gewaltapparat nicht autoritär, lässt vielmehr über seine Massnahmen abstimmen? Die Kennzeichnungen „autoritär“ und „Corona-Staat“ verraten, dass der Autor ebenso wie die von ihm kritisierten Initiatoren der Vorstellung anhängt, der demokratische Staat sei ein Dienstleister für seine Bürger, der aber – aus welchem Grund auch immer – seine Macht zu Corona-Zeiten missbraucht und sein Volk mehr drangsaliert, als es sich für einen ordentlichen Staat gehört. Deshalb soll es ja ein Fehler sein, sich an ihn zu wenden.

Reitter kommt so zu seinem abschliessenden Urteil: „Realpolitisch hat die #ZeroCovid-Initiative keine Bedeutung. Weder werden sich die zerstrittenen EU-Staaten, die sich derzeit im Rette sich wer kann-Modus befinden, synchron und gemeinsam auf derart radikale Massnahmen einigen können, noch werden viele Menschen mitspielen wollen – und auch nicht können. Die reale Bedeutung ist symbolisch und ideologisch. Der autoritäre Covid-19-Staat hat seine linke Flankendeckung bekommen.“

Dass eine Bewegung, die etwas ändern will, keinen Erfolg hat, kann man ihr schlecht vorwerfen, schliesslich ist jede Mobilisierung auf das Mitmachen von anderen angewiesen. Wenn jedoch der Vorwurf auf die verpasste Möglichkeit von Realpolitik zielt, dann wird einer solchen Bewegung schon ein aufschlussreicher Massstab vorgegeben: der der Machbarkeit. Gleichzeitig fragt man sich, warum ausgerechnet eine Initiative, die praktisch bedeutungslos ist, für den Staat von Nutzen sein soll, indem sie ihm Flankenschutz verschafft.

Fazit: Zweimal Täuschung in Sachen Staatszweck

Der Aufruf wie die Kritik sind sich in einem Punkt einig: Der demokratische Staat erfüllt nicht seinen ihm zugedachten Auftrag, zum Wohle seiner Bürger zu handeln. Die einen wollen ihn mit einem Aufruf durch breite Unterstützung dazu bringen, dass er seine Politik, die zum Wohle der Wirtschaft betrieben wird, ändert und endlich den Schutz der Bürger in Angriff nimmt. Die vorgestellte Kritik sieht in dem Appell an den Staat eine Rechtfertigung seiner Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens. Diese seien eine Perversion seiner eigentlichen Bestimmung, weswegen man ihn als autoritären Corona-Staat denunzieren müsste statt ihn um Hilfe anzurufen.

Das wirkliche Handeln des Staates und seine Zwecke kommen dabei aber nur als Abweichung von dem Ideal vor, das beiden genannten Parteien vorschwebt. Daraus speist sich ihre Enttäuschung und das Bestreben, andere Bürger zu gewinnen, um die Politik wieder auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Und so wechseln Mahnung zur Änderung und Verweis auf die Realität, Hoffnung und Enttäuschung, sich ab. Solange man sich nicht mit den wirklichen Zwecken von Staat und Kapital auseinandersetzt, wird es dabei auch bleiben.

Suitbert Cechura