Was 1990 in der BRD und Europa hätte passieren können Verpasst und verpatzt

Politik

Die Freiheit, frei zu sein. Sich ins Freie denken. Diese 50 Jahre alten Vokabeln von Hannah Arendt wirken heute wie aus einer anderen Welt.

Wiedervereinigung 1989.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Wiedervereinigung 1989. Foto: image_author

8. Oktober 2020
1
0
4 min.
Drucken
Korrektur
Steuern die hochorganisierten liberalen Staaten des Westens doch auf eine politische Welt zu, in der das Reagieren und Banalisieren, das oberflächliche Funktionieren und Zelebrieren alter Klischees dominant werden – und im Zuge dessen ein von Freiheit und Spontaneität bestimmtes politischen Handeln ad absurdum führen. Politikjournalist und Berliner Gazette-Autor Heinrich Thüer zeigt, dass es 1990 mitten in Europa die Chance gab, es anders zu machen:

Statt einer „beharrlichen experimentellen Humanisierung aller Instanzen des Staates“ (Norbert Elias) droht ein Regierungshandeln, das allein auf Pflichtenkataloge und blosse Gesetzestreue geeicht ist. Warum sonst kommt es zu immer wieder neuen politischen Blockaden von längst überfälligen Klimaschutz-Massnahmen und sozialen Strukturreformen, warum immer wieder neu diese inhumane Unterlassung staatlicher Hilfe für hunderttausende Flüchtende an Europas Grenzen?

Gegenreformen statt Freiheit

Anstelle der Pluralisierung und Demokratisierung der Gesellschaft wächst mit der Idealisierung von Heimatliebe und Leitkultur der Glaube heran, dass es für die Stabilität der bundesdeutschen Gesellschaft einer hierarchischen Ordnung bedarf, die nur der Staat liefern kann und dem sich alle Teile der Gesellschaft unterordnen müssen. Das alles klingt nach Gegenreform, nicht nach Freiheit und Neuanfang.

Die Freiheit, frei zu sein, wie Hannah Arendt sie versteht, ist nicht einfach nur ein Zustand, den uns die Verhältnisse erlauben. Sie ist mehr als nur die Sicherung von Bürger*innenrechten. Freiheit setzt voraus, dass es einen neuen historischen Raum gibt, der gestaltet werden muss. Nach Arendt kann es nur so zur „Verwirklichung eines der grössten und grundlegendsten menschlichen Potenziale kommen, nämlich zur unvergleichlichen Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwächst, die Welt für einen Novus Ordo Saeclorum geöffnet zu haben.“

Keine öffentliche Verfassungsdiskussion

Durch die Ereignisse von vor 30 Jahren eröffnete sich Deutschland als „verspäteter Nation“ (Hellmuth Plessner) ein gänzlich neuer Raum zur Gestaltung. Deutschland bot sich die Möglichkeit, sich ganz in den nun Ost und West umspannenden Verbund der europäischen Staatengemeinschaft einzugliedern und daraus einen offenen Habitus, neue plurale Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata zu entwickeln.

Man hätte zunächst eigentlich nur das tun müssen, was nach dem Grundgesetz ursprünglich einmal für den Fall der Wiedervereinigung geplant war: eine öffentliche Verfassungsdiskussion führen. Früh im Jahre 1990 erstellte der Runde Tisch in Ostberlin, an dem alle Parteien zusammen mit den Bürger*innenbewegungen sassen, einen Verfassungsentwurf, der gegenüber dem Grundgesetz und in der europäischen Perspektive bürgerrechtliche, ökologische und sozialstaatliche Elemente stärker betont.

Doch obwohl die deutschen Regierungen das Neue der Situation im „Gemeinsamen Haus Europa“ durchaus sahen, blieben sowohl die öffentliche Verfassungsdiskussion als auch die weitere politische Institutionalisierung der Europäischen Union aus. Europa wurde im Laufe der Jahre fast ausschliesslich auf ökonomische Kategorien reduziert. Die anfängliche Begeisterung für das europäische Projekt mündete im Streit um volkswirtschaftliche Zahlen und Sachzwänge.

Nationalfeiertag 3. Oktober

Zudem erklärte der deutsche Bundestag nicht den 8. Mai zum nationalen Feiertag, sondern den 3. Oktober, an dem Deutschland seine nationale Macht und Dominanz als grösster und wirtschaftlich stärkster Nationalstaat Europas zelebriert.

Freiheit und Demokratie in Deutschland, sie werden auf diese Weise – auch hier stammt die Terminologie von Hannah Arendt – lediglich zu einer „negativen Kategorie“. „Freiheit“ als Schutz nationalökonomischer Interessen vor dem langen Arm der Europäischen Union. „Demokratie“ als populistische Bewegung gegen eine angeblich abgehobene politische Kaste in Brüssel, die vom „echten Volk“ alimentiert werde. Im Rückblick muss man den Eindruck gewinnen, dass hier beinahe ein historisches Gesetz wirkt: sobald die Reformbewegung halbherzig wird, scheitert sie und die Gegenreform setzt ein.

Der Philosoph, Thomas Meyer, schreibt in seinem Nachwort zu Hannah Arendts Essay „Die Freiheit, frei zu sein“, der 2018 erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurde: „Im Rückblick wird leicht erkennbar, dass die Gestaltung des neuen politischen Raume namens ‚Europa' versäumt wurde. Das Neue wurde zwar gesehen, doch seine politische Institutionalisierung und damit Festigung in den bereits vorhandenen Rahmen gepresst, der sich ökonomischen Kategorien zu unterwerfen hatte. Die für viele Völker soeben nach Jahrzehnten der Unfreiheit erfahrbare ‚Freiheit, frei zu sein' wurde schnell als gefährlicher Rausch denunziert.“

Heinrich Thüer
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.