Ein Denkanstoss, der keinen Anstoss erregen will Ein Aufruf der Prominenz

Politik

Anmerkungen zum Aufruf „Krieg in der Ukraine: Waffenstillstand jetzt“ von Wissenschaftlern und Intellektuellen.

Graffiti «Stop War» von Eme FreeThinker zum Krieg Russlands in der Ukraine im Mauerpark in Berlin (10.03.2022)..
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Graffiti «Stop War» von Eme FreeThinker zum Krieg Russlands in der Ukraine im Mauerpark in Berlin (10.03.2022).. Foto: Singlespeedfahrer (PD)

17. Juli 2022
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Wenn eine ganze Reihe von Professoren und bekannten Persönlichkeiten sich herausgefordert fühlt, einen Appell an die Bundesregierung zu verfassen, könnte man meinen, dass sie mit einer Kritik an deren Politik hervortreten wollen. Nicht jedoch die Autoren und Autorinnen des neuen Appells. Sie bemühen sich vielmehr durchgehend darum, alle Rechtstitel, die die Regierung für ihren Wirtschaftskrieg gegen Russland und für die militärische wie finanzielle Unterstützung der ukrainischen Kriegspartei in die Welt gesetzt hat, zu reproduzieren und zu unterschreiben:

„Die Ukraine hat sich unter anderem dank massiver Wirtschaftssanktionen und militärischer Unterstützungsleistungen aus Europa und der USA bislang gegen den brutalen Angriffskrieg verteidigen zu können… Der Westen muss sich Russlands Aggression in der Ukraine und weiteren revanchistischen Ansprüchen geeint entgegenstellen.“ (Der Aufruf in der Zeit, 29.6.22, daraus die weiteren Zitate)

Was als Erstes auffällt: Die intellektuellen Autoren, denen das Schönschreiben und -reden eigener Motive aus ihrer Tagesarbeit sicher bekannt ist, wollen beim Handeln der deutschen Regierung keinen Unterschied mehr kennen zwischen der moralischen Rechtfertigung eines Krieges und den handfesten Gründen, deretwegen Staaten zur blutigen Tat schreiten. (Zu diesem Unterschied findet sich auch nähere Aufklärung im Gegenstandpunkt 2/22) Was wollen sie dann? Dazu hier einige kritische Anmerkungen.

Wohlfeiler Rat an die Befugten

Nicht als Kritiker der herrschenden Politik wollen die Appellanten sich sehen, sondern wohl als beherzte Bürger, die der praktizierten Politik Ratschläge erteilen. Dabei beziehen sich die Ratschläge auf Ziele, die sich die Autoren ausgedacht und ganz wohlwollend der Politik unterstellt haben: „Europa steht vor der Aufgabe den Frieden auf dem Kontinent wieder herzustellen und ihn langfristig zu sichern.“

Es ist schon seltsam. Da macht sich das Nato-Bündnis daran, einen – auf Zerstörung bedachten – Wirtschaftskrieg gegen Russland zu führen, tut zusätzlich alles, um den Krieg gegen Russland durch Waffenlieferungen am Laufen zu halten, und da fällt diesen Intellektuellen ein, dass die Politik eigentlich im Sinne einer ganz anderen Aufgabe unterwegs wäre, nämlich den Frieden auf dem Kontinent herzustellen.

Dieser Vorschlag geht natürlich nicht ganz an der Sache vorbei. Er könnte durchaus auf Zustimmung bei der Politik, die den Krieg befürwortet und – wie die deutschen Grünen – vor „Kriegsmüdigkeit“ warnt, stossen. Denn die amtierenden Kriegstreiber wollen sicher auch den Frieden wiederherstellen, eben nur zu ihren Konditionen. Und die heissen, Russland hat sich, nachdem es durch Sanktionen und einen Abnutzungskrieg langfristig geschwächt wurde, dem Nato-Kommando unterzuordnen.

Von diesem Kriegszweck, auch wenn er von massgeblichen Politikern geäussert wird, wollen die Appellanten nichts wissen. Stattdessen vermissen sie etwas anderes: „Je länger die Massnahmen fortdauern, desto unklarer wird allerdings, welches Kriegsziel mit ihnen verbunden ist.“

Weil sie das Kriegsziel der Nato nicht teilen, behaupten sie glatt, die im mächtigsten Kriegsbündnis der Welt versammelten Staaten hätten keins und bedürften daher eines solchen Rates, wie ihn die im Appell versammelte Elite bereithält. Der Rat besteht zunächst einmal darin, die eigene Frage zu wiederholen und einen Erfolg des bisherigen Krieges in Frage zu stellen:

„Die westlichen Länder, die die Ukraine unterstützen, müssen sich deshalb fragen, welches Ziel sie genau verfolgen und ob (und wie lange) Waffenlieferungen weiterhin der richtige Weg sind. Die Fortführung des Krieges mit dem Ziel eines vollständigen Sieges der Ukraine über Russland bedeutet Tausende weitere Kriegsopfer, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisch zu sein scheint.“

Mit Kriegstoten haben diese kritischen Menschen offenbar dann kein Problem, wenn die Opfer für einen staatlichen Zweck lohnend sind. Sie vermissen ja vor allem „Realismus“. Realistisch betrachtet, ist freilich der Kriegszweck der Nato nicht der vollständige Sieg der Ukraine über Russland, auch wenn der ukrainische Präsident diesen Endsieg immer wieder beschwört und ihm die westliche Wertegemeinschaft diese blutige Rhetorik bei seinen durchgestylten TV-Auftritten durchgehen lässt.

In der Sache, die, wie gesagt, die wohlmeinenden Appell-Unterzeichner nicht gross interessiert, geht es eben um etwas anderes: um die Schädigung und Schwächung eines globalen Konkurrenten der Nato – der übrigens, wie man gerade im Blick auf China erfährt, nicht der letzte sein wird.

In Sorge um „unsere“ Weltordnung

Um die Dringlichkeit des von ihnen unterstellten Fehlens einer westlichen Strategie zu unterstreichen, beschwören die Appellanten die negativen Folgen in der ganzen Welt – der Hunger in Afrika, die steigenden Preise für Energie und Lebensmittel und drohende Unruhen in vielen Ländern. Sie treten geradezu als Verteidiger und Schönredner der Weltordnung auf, für die die Nato steht:

„Auch die Düngemittelknappheit wird sich, wenn der Krieg über den Herbst hinaus fortdauert, global auswirken. Es ist mit hohen Opferzahlen und einer Destabilisierung der globalen Lage zu rechnen. Auch auf internationaler politischer Ebene (G7, UN) werden diese drohenden dramatischen Folgen thematisiert.“

Da fragt man sich glatt, wozu noch der Appell, wenn sich die Herrschenden doch bereits dieser Probleme bewusst sind und sie zu ihrer Angelegenheit gemacht haben! Doch irgendwie vertrauen die Appell-Verfasser ihren gewählten Vertretern nicht ganz, wenn sie mahnend auftreten und sogar für ein entschiedenes Entgegentreten des Westens gegenüber russischem Abenteurertum einfordern:

„Doch ein Fortdauern des Kriegs in der Ukraine ist nicht die Lösung des Problems. Die aktuellen Entwicklungen um den Bahntransit in die russische Exklave Kaliningrad sowie Putins Ankündigung, atomwaffenfähige Raketensysteme an Belarus zu liefern, zeigen, dass die Eskalationsgefahr zunimmt. Der Westen muss alles daran setzen, dass die Parteien zu einer zeitnahen Verhandlungslösung kommen. Sie allein kann einen jahrelangen Abnutzungskrieg mit seinen fatalen lokalen und globalen Folgen sowie eine militärische Eskalation, die bis hin zum Einsatz nuklearer Waffen gehen kann, verhindern.“

Es ist schon bemerkenswert, wie diese Schar von Kopfarbeitern über die Parteien, die den Krieg machen, redet. Das EU-Land Litauen will (mit Rückendeckung der Nato bzw. USA und sicher nicht ohne Absprache mit der EU, auch wenn diese dann etwas zurückrudert) den Bahnverkehr zur Exklave Kaliningrad einschränken, was den Konflikt eskaliert. Doch im Appell sind nicht die beteiligten Politiker das Subjekt, sondern eine wie auch immer geartete Entwicklung. Anders auf der anderen Seite, da kennen die Autoren den Schuldigen. Der hat natürlich einen Namen: Putin!

Das ist, im Klartext, nicht nur Ignoranz, sondern ein Vertrauensbeweis: Der angeflehte Westen tritt nicht als Partei im Krieg in Erscheinung, sondern als übergeordnete Instanz, die auf die Kriegsparteien einwirken soll, um das zu verhindern, was gerade Bestandteil seiner Kriegsstrategie ist.

Eine Strategie – die allen hilft

Die Verrenkungen der Appellanten kennen dabei keine Grenzen. Einerseits soll der Westen die Kriegsparteien unter Druck setzen, andererseits aber soll die Souveränität der Ukraine geachtet werden:

„Verhandlungen bedeuten nicht, wie manchmal angenommen wird, der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren. Einen Diktatfrieden Putins darf es nicht geben, Verhandlungen bedeuten auch nicht, etwas über den Kopf der Beteiligten zu entscheiden.“

Dass keine der Kriegsparteien verhandeln will, ist auch den Autoren bekannt: „Dass Kriegsparteien Maximalforderungen stellen oder Friedensgespräche ausdrücklich ablehnen, ist kein ungewöhnlicher Ausgangspunkt in festgefahrenen Konflikten.“

Deshalb bedürfe es eines ganz besonderen politischen Geschicks, unter Wahrung der Souveränität vor allem der Ukraine die Kriegsparteien zu etwas zu zwingen, was sie gar nicht wollen. Also: zu kommandieren und damit nichts zu diktieren. Wie das geht, wissen natürlich nur die Autoren des Appells: „Die internationale Gemeinschaft muss vielmehr alles dafür tun, Bedingungen zu schaffen, unter denen Verhandlungen überhaupt möglich sind.“

Wie diese Bedingungen aussehen sollen, die den Parteien nichts diktieren, wissen die Appellanten auch: „Je länger der Krieg dauert, desto mehr internationaler Druck ist erforderlich, um zur Verhandlungsbereitschaft beider Seiten zurückzufinden. Der Westen muss sich nach Kräften bemühen, auf die Regierungen Russlands und der Ukraine einzuwirken, die Kampfhandlungen auszusetzen. Wirtschaftliche Sanktionen und militärische Unterstützung müssen in eine politische Strategie eingebunden werden, die auf schrittweise Deeskalation bis hin zum Erreichen einer Waffenruhe gerichtet ist.“

Dass der Westen darauf verzichten würde, auf die beiden Regierungen einzuwirken, kann man nun wahrlich nicht behaupten. Schliesslich führt er einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, der das Land in die Enge treibt, und die Ukraine würde gar nicht mehr existieren, erhielte sie nicht aus dem Westen Milliardenbeträge und jede Menge Waffen, um sich zu behaupten. Eine Strategie wollen die intellektuellen Warner darin offenbar nicht erkennen – und zwar einfach deshalb, weil das Vorgehen nicht auf das Ergebnis abzielt, das sie gerne hätten.

Mit ihrem Wunsch nach Friedensverhandlungen wollen sie aber keineswegs den Eindruck erwecken, ihnen wäre in irgendeiner Weise daran gelegen, Russland zu schonen. Deshalb sehen sie sich zu einer weiteren Klarstellung gezwungen:

„Die Aufnahme von Verhandlungen ist keine Rechtfertigung von Kriegsverbrechen. Wir teilen den Wunsch nach Gerechtigkeit.“

Wer die Kriegsverbrechen begeht, dafür braucht es wohl keine Ermittlungen mehr. „Wir alle“ kennen ja die Bilder von Butscha! Die Sache ist im Westen so offensichtlich, dass man das nicht weiter verfolgen muss.

Es muss nur noch die Gerechtigkeit siegen (populär: Putin nach Den Haag!). Dass Kriegsverbrechen – schlussendlich – immer nur aufs Konto der Kriegsverlierer gehen, ist diesen oppositionellen Experten wohl nicht bekannt. Haben sie etwa übersehen, dass die Enthüllungen von Wikileaks über amerikanische Kriegsverbrechen niemanden vor Gericht gebracht haben ausser denjenigen, der sie der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat?

Die Antwort an die Unbefugten

Obwohl die Autoren des Appells sich sichtlich bemühen, ihren Wunsch nach Frieden so zu formulieren, dass er nicht in Gegensatz zur herrschenden Politik gerät, war die Antwort von befugter Seite eindeutig.

Der ukrainische Botschafter durfte hier noch einmal, bevor er wegen ein paar Faschistereien zu viel abgemahnt (d.h. im ukrainischen Aussenministerium befördert) wurde, den Ton angeben:

„Nicht schon wieder, what a bunch of pseudo-intellectual loosers. Ihr alle Varwicks, Vads, Kluges, Prechts, Yogeshwars, Zehs & Co sollt euch endlich mit eurem defätistischen ‚Ratschlägen' zum Teufel scheren. Tschüss.“ (Andrij Melnyk)

Jetzt einen Waffenstillstand und Verhandlungen zu fordern, ist für den Botschafter der Ukraine purer Defätismus. Hiesse es doch, die Rückeroberung der verlorenen Gebiete aufzugeben. Dass er sich so heftig gegen die eher moderat auftretenden Appellanten wendet, ist natürlich nicht verwunderlich, weiss er doch sein Land abhängig von den politischen Entscheidungen in Deutschland und den anderen Nato-Staaten.

Solche harschen Töne waren von deutscher Seite nicht zu vernehmen. Deutsche Medien berichteten über den Appell aus der deutschen Intelligenz als Beispiel eines hiesigen Problembewusstseins. An dieser Stelle sah man sich einmal der Neutralität verpflichtet und liess – im Rahmen der sonst geltenden allgemeinen (Parteinahme für Selenskyjs Regime) – die Gegenseite zu Wort kommen.

Was natürlich keine Zustimmung bedeutete. Gott bewahre! Der Stern überliess z.B. einem Professor der Bundeswehrhochschule München die kategorische Zurückweisung: „Eine Forderung nach einem Waffenstillstand ist wohlfeil.“ (Prof. Carlo Masala.)

Überzeugt hat den Experten der Appell nicht. Der Mann musste gar nicht gross dagegen wettern; er ist sich einfach sicher, dass die wohlmeinenden Absichten des Westens so nicht zu erreichen sind. Solche Dinge überlässt man besser den befugten Politikern.

Die Tagesschau vom 30. Juni brauchte sich da auch nicht gross anzustrengen. Sie berichtete von dem Appell und verwies gleich darauf, dass es auch Prominente gibt, die (mehr Waffen fordern) So geht halt unser Geistesleben! Bei einer so verantwortungsvollen Berichterstattung konnte die Politik ganz auf eine Stellungnahme verzichten und die noch so brav vorgetragenen Ratschläge schlicht ignorieren. Unbefugte haben eben nichts zu sagen. Meinen dürfen sie natürlich – das ist ja das Schöne in unserem Land!

Suitbert Cechura