Selfiesticks zu Knüppelfahnen Berlin: Myfest 2018

Politik

Wie weg von der Szene-Kiez-Folklore? Eine erste Auswertung der »Revolutionären 1. Mai Demonstration« in Berlin.

Myfest in Berlin, 2015.
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Myfest in Berlin, 2015. Foto: Alumni.aserbaidschan (CC BY-SA 4.0 cropped)

10. Mai 2018
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Es knirscht unter den Schuhen. Die Glassplitter, die sich in die Sohlen New Balance der Frontreihen des Demo-Blocks bohren, sind aber nicht die Überreste der gegen die tausende Riot-Cops zählende Bullenstreitmacht geschlagene Schlacht, sondern einfach irgendwelchen Feierwütigen im Lattensuff achtlos aus der Hand gerutscht. Um den vermummten und mit transparenten eingehüllten Black Block scharen sich dutzende Fotografen, begleitet von Touristen, die mit der Handy-Cam auch noch die ein oder andere Instagram-Story abgreifen wollen. »Amazing«, ruft ein Ami-Hipster im Mumford&Sons-Look seinem schon hart im Pillen-Fieber delirierenden Kumpel zu.

Elektro-Mucke tötet den Versuch der ersten Reihen, das jüdische Partisanenlied »Sage nie« anzustimmen. Man fühlt sich wie im Zoo. Oder eher noch: Wie auf einer vom »Myfest« geplanten Showeinlage, die den in den Szenekiez Angereisten das versprochene »widerständige« Programm bieten soll. Irgendwo am Rand des Schauspiels, auf einer Holzplatte, hat Sozi36 hingeschrieben: »Schmeisst Steine, nicht Pillen« und: »Wenn ihr dazu tanzen könnt, ist das nicht meine Revolution.« Vor den Graffiti knien, den Selfi-Stick in Position gebracht, diejenigen, die sich dann doch für die Teile entschieden haben.

Auf das Ritual folgt das zweite Ritual. Wie jedes Jahr belustigen sich Springer-Presse und Opa-erzählt-vom-Krieg-Autonome am »Scheitern« der Demonstrant*innen, auf Twitter tobt der Krieg zwischen Jugendwiderstand und Israel-Fans und die Hauptstadtmedien recyclen die immer gleichen Kommentare ihrer durch und durch verblödeten Kolumnisten. Jutta Ditfurth ist hart empört über dieses und jenes und irgendwelche Leute, die ihre Lebenszeit an Schreibtischen in öden Büroräumen verschleudern, beklagen bitterlich das Ausbleiben von Krawall und Remidemmi. Tausendmal gesehen, tausendmal gehört, tausendmal gelesen, mäh.

Dabei wäre eine Kritik der Demonstration bitter nötig. Die Demo sagt nämlich viel: Über Strategien zur Aufstandsbekämpfung und über den Zustand der Linken in Berlin.

The show must go on

Entgegen der punktgenau von Tagesspiegel-, BZ– und SPD-Langweilern vorgetragenen Häme, »die Autonomen« (wer is'n das eigentlich?) seien im Niedergang, weil keine Steine mehr am 1. Mai fliegen, liegt das eigentliche Problem wo ganz anders: Es ist nahezu unmöglich, der Kreuzberger Demonstration einen tatsächlich politischen, revolutionären Charakter zu geben. Das liegt allerdings – ebenfalls entgegen der Einschätzung diverser Lumpentwitterer und -«journalisten« – nicht an den sie organisierenden Gruppen. Die arbeiten ja nicht nur am 1. Mai zu Arbeits- und Mietkämpfen, unterstützen internationale Kämpfe und wenden sich gegen Rassismus wie Sexismus.

Dass es so schwer fällt, etwas Sinnvolles aus dieser Demo zu machen, liegt an ihrer Umgebung: Zehn- wenn nicht hunderttausende teils Zugereiste, teils Anwohner*innen im Feiertaumel; ein Bratwurst-, Bier- und Drogenspektakel in dem der politisch gedachte Aufmarsch nahezu automatisch zu einer Showeinlage verkommt, deren Inhalt nur noch als total witzige Draufgabe im subkulturell hippen Start-up-Kiez wahrgenommen wird.

Eigentlich waren die vergangenen Jahre eine Sisyphos-Arbeit der Organisator*innen, den Stein politischer Agitation jedes Mal erneut über die Leichenberge innerlich toter Partygänger*innen nach Kreuzberg zu rollen: Einmal sollte es eine Hausbesetzung aus der Demonstration geben; dann meinte man, die Verweigerung einer polizeilichen Anmeldung könnte dem zivilen Ungehorsam Auftrieb geben; und dieses Jahr plante man das PKK-Verbot zu unterlaufen.

An Inhalten der Demo mangelte es nicht. Im Rahmen der Maisteine-Kampagne wurde an aktuelle stadtpolitische Themen angeknüpft, die Afrin-Solidarität hat kurdische und deutsche Linke näher zusammengeführt. Man kann die Inhalte auch auf den Transparenten am 1. Mai lesen und sie sind gut und richtig (weniger übrigens spiegelt sich das in den Parolen wieder, die stumpf und veraltet sind, keineswegs an das anknüpfen, was eigentlich die demonstrierenden Gruppen umtreibt). Aber man kann mit diesen Inhalten nichts erreichen an einem Ort, wo dir ein Vermummter mit Bierflasche in der Hand das Smartphone ins Gesicht hält, während er »Alerta, alerta« ruft. An so einem Ort wird alles zum stumpfen Rahmenprogramm einer stumpfen Veranstaltung. Es ist derselbe Mechanismus, der Che-Guevara-Shirts und Karl-Marx-Kaffeetassen hervorgebracht hat.

Hedonismus als Befriedung

Dass das funktioniert, ist ein Sieg der »Politik«. Denn die wussten genau, dass sich der Charakter der Demo durch dieses Fest zerstören lässt, und man muss ihnen lassen, es ist ihnen gelungen. Es gelingt ihnen vor allem aus zwei Gründen: Einmal, weil sie es geschafft haben, dass ein Teil der Kiez-Bevölkerung, darunter gut vernetzte Interessengruppen, eben eine – für ihre Verhältnisse – Menge Kohle mit dem Ballermann-Reenactment machen können. Die Kiezjugend steht für 8,50-Bruttomindestlohn in Secu-Uniform an den Zugängen zum Görli und winkt die Touristen, die man selber eigentlich gar nicht will, durch. Und Hip-Hop- wie Punk-Community jubeln ganz unironisch ihren Helden zu, die von »Myfest«-Bühnen irgendwas über Ghetto, Widerstand und Ganglife trällern. Dass das so ist, ist wiederum nicht die »Schuld« derer, die so agieren. Sie sind ja nicht irgendwie politisch und wir konnten sie offenbar nicht politisieren. Also machen sie eben für Geld, was man eben im Kapitalismus für Geld macht: sich verkaufen. Normale Angelegenheit.

Der zweite Grund aber ist: Jene Linken, die hier ebenfalls massenhaft vertreten sind, kommen als willenlose Konsument*innen zu Fest und Demo. Du triffst deine früheren Genoss*innen im schönsten Nachmittagsrausch, wie sie den Verfall Kreuzbergs beklagen, während sie warmes Pils aus Plastikbechern in sich reinschütten. Die linken Nachbar*innen, noch gestern voller Wut über Touristen verticken Alk vor der Haustür. Und diejenigen, die sich kaum 24 Stunden später in social-media-rage schreiben werden, weil's wieder nicht geknallt hat, sind noch ganz happy, weil das MDMA vom about blank am Vorabend immer noch so schön ballert. Viele andere haben es gleich von vornherein aufgegeben, fahren nach Paris oder Chemnitz.

Der Hedonismus, der hier zelebriert wird, ist kein Ausdruck des Aufbäumens gegen einen kapitalistischen Alltag, der einem jede Freude nimmt. Er ist die optimale Ergänzung zu diesem Alltag, die Flucht, das Sich-Auslassen. Und er ist das nicht nur am 1. Mai, sondern das ganze Jahr über. Was am 1. Mai in Kreuzberg zum Ausdruck kommt, ist nur die sichtbare Verdichtung der ansonsten auf hunderte Clubs und Soli-Parties aufgeteilten gelingenden liberal-kapitalistischen Befriedungsstrategie. Das ist nichts, worüber man sich empören muss. Es ist schlichtweg der Status Quo eines grossen Teils der Hauptstadtlinken.

Was tun?

Die Probleme, die sich am »Revolutionären 1. Mai« so gut, weil massenhaft zeigen, sind welche, die im Alltag zu lösen sind: Ein höherer Organisierungsgrad muss hergestellt werden, eine Gegenkultur, die Drogen und Suff nicht mit Freude und sozialen Kontakten verwechselt, eine Politisierung der Szene, die über »Ich mag keine Bullen« hinausgeht – und vieles mehr. Genau da sind in den letzten Jahren Fortschritte erzielt worden – und genau da muss man weiter machen.

Will man in Kreuzberg am 1. Mai demonstrieren, muss das »Myfest« weg. Menschen im Kiez, von Anwohner*innen bis Kleingewerbe, die sich nach einem Ende der Ballermannerei sehnen, gibt es genügend. Bis dahin sollte man ausweichen – warum nicht nach Grunewald? Die Bezirks-, Senatspolitiker und Bulleneinsatzleiter könnten die profitable Heimsuchung Kreuzbergs nicht mehr mit Verweis auf die Demo rechtfertigen. Und man könnte mit denjenigen gemeinsam auf die Strasse gehen, die nicht nur wegen Suff, Sonne und Selfie dabei sein wollen.

Ronny Rauch / lcm