Leiharbeit ist Sklaverei Moderne Tagelöhnerei

Politik

Wie das deutsche Kapital den prekären Status von EU-Zuwander*innen nutzt, um arbeits- und tarifrechtliche Standards zu unterlaufen. Ein Fallbeispiel aus Bremen.

Mercedes-Werk in Bremen.
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Mercedes-Werk in Bremen. Foto: Jürgen Howaldt (CC BY-SA 4.0 unported - cropped)

6. Juni 2018
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Georgi, bulgarischer Staatsbürger, ist mit seiner Familie im Herbst 2016 nach Bremen gekommen. Schnell hat er über Landsleute einige Jobs gefunden. Er weiss, ohne Anstellung kein Aufenthalt in Deutschland.

In einer Bremerhavener Firma für Korrosionsschutz und Reinigungsarbeiten schloss er zum 1. Juni 2017 einen unbefristeten Arbeitsvertrag ab. Hierbei handelt es sich um einen Leiharbeitsvertrag. Schon die Formulierung „der Arbeitnehmer ist verpflichtet, bei Kunden des Arbeitgebers tätig zu werden und seine Arbeitsleistung nach den Weisungen des jeweiligen Bauleiters zu erbringen“ verweist auf Leiharbeit. Im weiteren Verlauf des Vertragstextes müsste jetzt eigentlich der Verweis auf den zuständigen Tarifvertrag des Verleihergewerbes erfolgen – aber davon ist nirgends die Rede. Ebenso findet sich im Arbeitsvertrag keine Angabe zum Stundenumfang, sondern es wird auf die „betriebliche Einteilung“ der Arbeit und die Sozialversicherungspflicht verwiesen. So verdiente Georgi durchschnittlich ca. 980 Euro netto monatlich.

Beim Stundenlohn liess der Chef des Unternehmens auch profitable Kreativität walten. Es wurde ein Bruttostundenlohn von 8,90 Euro vereinbart. Immerhin ganze 6 Cent über dem gesetzlichen Mindestlohn, jedoch deutlich unterhalb des für 2017 vorgeschriebenen Mindestlohns im Gebäudereinigungsgewerbe von 10 Euro pro Stunde. Und auch unterhalb des 2017 geltenden Mindestlohns im Verleihgewerbe von 9,23 Euro. Eigentliche hätte Georgi nach dem allgemeinverbindlichen Mindestlohn für Gebäudereiniger*innen entlohnt werden müssen, denn als solcher hat er gearbeitet.

Mit Schreiben vom 17.11.2017 erhielt Georgi die schriftliche Kündigung: „Leider müssen wir das bestehende Beschäftigungsverhältnis zum 17.11.2017 wegen Auftragsbeendigung von Reinigungsarbeiten kündigen“. Betriebsbedingt fristlos. Völlig neben jeder Rechtsnorm. Jeder Leiharbeitstarif enthält eine Kündigungsfrist von mindestens 2 Wochen nach vier Monaten innerhalb der Probezeit. Auch die im Arbeitsvertrag dokumentierte Angaben zur Kündigungsfrist widersprechen jeder Arbeitsrechtsnorm. Dort steht „Nach Ablauf der Probezeit beträgt die Kündigungsfrist zwei Wochen“. Das bürgerliche Gesetzbuch sieht nach der Probezeit eine Mindestkündigungsfrist von einem Monat vor. Eine Probezeit war im Arbeitsvertrag ausdrücklich nicht benannt. Aber selbst die im eigenen Arbeitsvertrag genannte Frist von 2 Wochen wird ja mit der sofortigen – „fristlosen“ – Kündigung vom selben Tag widersprochen.

Nun könnte man einwenden, dass es sich bei einem derartigen arbeitsrechtlichen Rückschritt um einen Einzelfall handelt. Doch das ist nicht der Fall. Diese Formen von Arbeitsverhältnissen grassieren in einem riesigen Ausmass. Die Zuwanderung von Menschen aus EU-Ländern – vornehmlich aus Polen, Rumänien und Bulgarien – wird von hier ansässigen Unternehmen genutzt um millionenfach derartige Arbeitsverhältnisse durchzusetzten. In der öffentlichen Wahrnehmung finden solche ausbeuterischen Verhältnisse allenfalls auf dem Bau oder in den Schlachthöfen statt. Diese Wahrnehmung ist zu viel kurz gegriffen.

Das Daimler Werk in Bremen etwa wird von einem Heer zugewanderter Lohnarbeiter*innen vornehmlich aus der EU sowie von Geflüchteten sauber gehalten. Das evangelische Diakonissenkrankenhaus in Bremen wird mittels hauseigener Facility Firma überwiegend „bulgarisch“ geputzt. Die Arbeitsverhältnisse haben zu grossen Teilen keine vertraglich vereinbarte Mindestarbeitszeit und somit auch kein kalkulierbares Einkommen. Da wird bei einzelnen Lohnarbeiter*innen auch der Sprung zwischen sozialversicherungspflichtigem Arbeitsverhältnis, bei hohem Arbeitsanfall und einem Minijob, bei geringer Auftragslage gemacht. Hin und Her, je nach Auftragslage des Verleihers oder anderweitigen „Auftragnehmern“.

Für einzelne Grossfirmen des Facility Management mit ihren eigenen oder fremden Verleihfirmen sind inzwischen zehntausende Lohnarbeiter*innen tätig. Die gewerkschaftliche Organisierung liegt in den in diesem Unternehmenssektor vorherrschenden „mittelständischen Familienbetrieben“ im Promillebereich, „Betriebsrat“ ist ein Fremdwort. In diesen Firmen ist der Haupteinsatzort der zugewanderten Lohnarbeiter*innen aus der EU und von Geflüchteten. Lang und mühsam ist der „Aufstieg“ in die Stammbelegschaften, meistens gelingt er nicht.

Zu einem Teil liegt die geringe Organisationsbereitschaft auch an den Erfahrungen der Zuwander*innen. In vielen Herkunftsländern sind „Gewerkschaften“ Teil der korrupten Staatsgebilde oder Bestandteil der Unternehmensführungen, von denen sich niemand eine Verbesserung seiner Verhältnisses erhofft. Zum anderen sind mitteleuropäische Arbeitsrechtsstandards vielen Zuwander*innen unbekannt. In ihren Heimatländern ist Tagelöhnerei der gesellschaftliche Standard, Fristen bei der Entlassung, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind weitgehend unbekannt.

Das deutsche EU-Aufenthaltsrecht schafft das Repressionsmittel zur Durchsetzung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Schaffung eines besonderen Niedriglohnsektors. Durch geringe Löhne und durch besondere Flexibilität wird dazu beigetragen, die Lohnkosten des „Exportweltmeisters“ zu drücken. Das EU-Aufenthaltsrecht kombiniert mit Hartz IV ist als ein Geniestreich des deutschen Staates hierzulande längst wirksam, in den meisten mitteleuropäischen Staaten durch Kämpfe der dortigen Gewerkschaften bisher verhindert worden.

In den ersten fünf Jahren des Aufenthalts in Deutschland erhält man nur ein Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen (Hartz IV), wenn die Arbeitnehmereigenschaft (Mensch geht Lohnarbeit nach) gegeben ist. Verliert man den Job (Arbeitnehmereigenschaft) erlischt der Hartz IV Anspruch nach 6 Monaten und im Falle der „selbstverschuldeten“ Arbeitslosigkeit sofort. Dann treten die Ausländerämter in Aktion und beenden den Aufenthalt – im Falle der Weigerung auch mit Abschiebung ins Heimatland und einem Wiedereinreiseverbot. Das wirkt. Anpassung im Betrieb ist wesentlicher Bestandteil der Überlebensstrategie der so Entrechteten zur Sicherung des Verbleibs in Deutschland.

Mit dem „Integrationsgesetz“ von 2016 wurden auch Geflüchtete einem ähnlichen Sanktionsregime unterworfen. Die Verlängerung des Aufenthalts wird zukünftig nicht nur an das Fortbestehen der Fluchtursachen geknüpft, sondern auch an die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. In einer ähnlichen Intention argumentiert das Eckpunktepapier der SPD zu einem Einwanderungsgesetz. Die SPD schlägt hier das Recht auf den Hartz IV Bezug erst nach fünf Jahren vor. Diese Rechtsstellung hat durchaus Parallelen zur Situation von Wanderarbeiter*innen in den Golfstaaten, etwa in Saudi Arabien.

Betriebliche Solidarität ist hier die Ausnahme, denn die allermeisten Zugewanderten sind befristet und prekär als Aussenseiter*innen in den Betrieben beschäftigt. Solidarität findet auch wegen der zusätzlichen Sprachgrenzen ihre Schranken. Es haben sich neben der ohnehin schon existierenden Hierarchie in Stammbelegschaft, Befristete, Leiharbeiter*innen und oder Menschen, die über Werkverträgen in den Grossbetrieben arbeiten, weitere Abstufungen gebildet. In den „untersten“ Rängen am Rande der betrieblichen Wertschöpfung finden sich Menschen, deren arbeitsrechtlicher Status aus oben beschriebenen Gründen eine weitere Absenkung unter bestehende Arbeits-, bzw. tarifrechtliche Standards ermöglicht. Bei entsprechender zahlenmässiger Ausweitung werden solche Arbeitsstandards in der Logistik, dem Facility Mangament oder dem Bau zur Norm für alle Beschäftigungsverhältnisse.

Der Fall von Georgi hat uns dies verdeutlicht. Wir haben ihm vorgeschlagen mittels Arbeitsgericht erhebliche Lohnnachforderungen gegen seinen Ex-“Arbeitgeber“ durchzusetzten. Georgi hat einen anderen Weg gewählt. Das Jobcenter hat ihm kurz vor Ablauf der 6-monatigen Gnadenfrist im Rahmen von Harz-IV-Bezug die Pistole auf die Brust gesetzt. Arbeit oder Verhungern oder raus. Georgi arbeitet jetzt wieder bei seinem alten Chef als Minijobber für 400 Euro. Die Arbeitszeit ist die gleiche wie im Herbst 2017. Der Stundenlohn hat sich dadurch reduziert und dürfte jetzt bei ca. 4 Euro liegen. 100 Euro Schwarzgeld gab es nach dem ersten Monat extra, bar auf die Hand. Der Chef hat sich dies quittieren lassen. Damit kann er Georgi erpressen – wegen Sozialleistungsbetrug.

Das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit, das IAB, hat vor Jahren bereits errechnet: Der Arbeitsmarkt in Deutschland hat einen Bedarf von 6-8 Millionen Lohnarbeiter*innen allein durch Zuzug aus dem Ausland bis zum Jahre 2030. Die EU-Zuwanderung ist seit 2014 pro Jahr deutlich höher als der Zuzug von Geflüchteten im Jahr 2015. Die Bruttozuwanderung aus der EU lag im Jahre 2016 bei ca. 1,4 Millionen Menschen.

Im Jahr 2030 werden ca. 20 bis 25 Prozent der lohnabhängig Beschäftigten Zuzügler*innen der letzten 15 Jahren mit einem zum Teil ungesicherten Aufenthaltsstatus sein. Grosse Teile der Randbelegschaften der Industrie, des Baugewerbes und der Logistik werden sich völlig neu zusammensetzen. Dies bietet für das Kapital die einmalige Chance die arbeitsrechtlichen Normen völlig neu zu gestalten. Wie am oben aufgeführten Beispiel dargestellt, nutzten die Unternehmen diese Chance aus. Die Vorlagen dafür haben ihnen die arbeitsrechtlichen Abbrüche der letzten Bundesregierungen gegeben (Hartz IV, grundlose Befristung, Leiharbeit, Einschränkung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben etc.). Zudem verfügen die Unternehmen über das mittelbare Druckmittel des Aufenthaltsentzugs zur Knechtung eines grossen Teils der Lohnarbeiter*innen.

Die DGB Gewerkschaften haben sich in den vergangenen Jahren kaum um die Organisierung von Zuwander*innen gekümmert. IG Metall und Co. organisieren die Kernbelegschaften der deutschen Industrie, des Staates und einiger Grossunternehmen des Handels und Verkehrs. Die dort beschäftigten Stammbelegschaften bilden in der Produktionskette die Spitze des Eisbergs. Dies kann an einigen Zahlen zum Daimler Werk in Bremen verdeutlicht werden. Ca. 13.000 Menschen gehören dort zur fest angestellten Stammbelegschaft. Der Stundenlohn in der Produktion liegt für diese Kernbelegschaft zwischen 23 Euro und 30 Euro brutto. Einmal im Jahr gibt es eine Prämie von 5 bis 6 tausend Euro. Wer als Altgedienter seinen Job verliert, geht mit einer Abfindung nicht unter 100.000 Euro nach Hause.

Für die im Bremer Werk produzierten PKW sind aber fast 50.000 Menschen weltweit tätig, 30.000 davon im Umfeld des Werkes. Davon mehrere tausend über die Stammbelegschaft hinaus im Werk (Werkverträge oder Leiharbeit) selbst und in den umliegenden Zulieferbetrieben. Ein nicht unbeträchtlicher Teil arbeitet in Billiglohnländern und schraubt dort Zulieferteile zusammen.

In dieser Produktionskette stellt die Stammbelegschaft eine kleine, aber überdurchschnittlich privilegierte Gruppe dar. Dieser Kern nimmt in Bezug auf Entlohnung, Arbeitsplatzsicherheit, etc. die Rolle einer „Arbeiteraristokratie“ ein. Nur diese kleine Gruppe wird von der DGB Gewerkschaft IG Metall organisiert. Nur diese kleine Gruppe profitiert von den Erfolgsbeteiligungsprämien. Wenn die IG Metall einen Lohnforderung von 6 Prozent für die Kernbelegschaft aufstellt, was einer Anhebung des Stundenlohns von mindestens 1,38 Euro bedeuten würde, so entsprächen diese 1,38 Euro einer Lohnanhebung von 50 Prozent in vielen Zulieferbetrieben an den Rändern Europas und schon von 15 Prozent einer Leiharbeiter*in in der untersten Lohngruppe. Die üblichen Prozentforderungen der DGB Gewerkschaften begünstigen die „Arbeiteraristokratie“ und vernachlässigen die Randbelegschaften.

Ein bezeichnendes Beispiel für die Vernachlässigung der Randbelegschaften ist die tarifvertraglich mit den Unternehmen vereinbarte Verlängerung der Einsatzzeit von Leiharbeiter*innen bis zu vier Jahren in der Metallindustrie. Das Gesetz, allerdings mit Öffnungsklausel durch Tarifverträge, sieht maximal 18 Monate vor.

Wer sich die Trägerschaft der aus EU-Mitteln eingerichteten Beratungsstellen für Zuwander*innen aus EU-Ländern anschaut wird feststellen, dass sich dort hauptsächlich Wohlfahrtsverbände von der AWO bis zur Caritas tummeln. DGB-Gewerkschaften sind hier kaum zu finden. Die staatlich geförderten Beratungsstellen lösen eben auch keine politischen Kampagnen oder betriebliche Aktionen aus. Ihre Aufgabe besteht in der reibungslosen „Integration“ der Zuwander*innen in den Ausbeutungsbetrieb am Standort Deutschland. Gelegentliche Rechtshilfe schliesst dies nicht aus, sondern erhöht nur die Akzeptanz dieser staatlichen Einrichtungen.

Aus der Analyse dieser Situation entstehen wichtige Fragen: Können die im deutschsprachigen Raum schwachen Basisgewerkschaften und die radikale Linke diese Lücke schliessen? Wie kann unsere Kooperation mit den Zugewanderten und ihren Organisationsansätzen aussehen? Die Forderung nach Abschaffung aller Einschränkungen der EU-Freizügigkeit ist richtig. Kann eine solchen Kampagne geführt werden?

IWW - BEV / lcm