Das Landgericht Hamburg fällte am Dienstag, den 3. September sein Rondenbarg-Urteil Geht es vor Gericht wirklich nicht darum, ob ‚es' politisch richtig war, sondern darum, ob ‚es' legal war? (Teil E)
Politik
Ich hatte in Teil C. (untergrundblättle vom 18.09.2024) geschrieben: Im „Aktionskonsens des Bündnisses ‚Fight G20' […] soll […] u.a. […] von ‚verantwortungsvolle[r] Militanz' die Rede gewesen sein – habe ich politisch nichts dagegen, ist aber halt strafbar.
Nun – jedenfalls der Staat, der die Regeln für Gerichtsverfahren festlegt, hat ein Interesse daran, dass es vor Gericht nicht darum geht, ob ‚es' (das angeklagten Tun) politisch richtig war. Grundsätzlich ist Legalität (und in demokratischen Systemen: demokratische Gesetzgebung) seine Legitimationsressource – und folglich kann er nicht dulden, dass Gesetzesbrüche (Abweichungen von dem, was die demokratisch gewählten Gesetzgebungsorgane anordnen) mit dem Resultat des Freispruchs politisch gerechtfertigt werden. (Was die blosse politische Bewertung der Taten anbelangt, kann der Staat grosszügiger sein.)
Und da Legalität seine Legitimationsressource ist, wird der Staat, wenn es vor Gericht um seine eigenen Gesetzesbrüche geht, eher bestrebt sein, sie zu vertuschen als offensiv politisch zu rechtfertigen.
Als Einschränkung zu alle dem hatte ich eh bereits zugestanden: „Nun kann zwar versucht werden, einen Strafprozess zu politisieren und zu sagen: ‚Wir sagen zwar nicht, ob wir das gemacht haben, was uns vorgeworfen wird, aber finden richtig, dass solche Dinge passiert sind.'“ (Und ich hatte – mit vielleicht kritischem [?] Unterton – hinzugefügt: „Aber so wird in Bezug auf den Rondenbarg-Komplex nicht argumentiert“.)
Sind weitere Relativierungen – oder zumindest Präzisierungen – meines Satzes, „vor Gericht geht es nicht darum, ob es politisch richtig war, sondern darum, ob es legal war“, erforderlich?
Giessen wir die Antwort auf diese Frage in Thesen, und wiederholen wir dabei den fraglichen Satz noch mal als These 1:
These 1: Vor Gericht geht es nicht darum, ob es politisch richtig war, sondern darum, ob es legal war.
These 2: These 1 steht nicht im Widerspruch zu These 3 und 4.
These 3: Gerichtsentscheidungen können politische Auswirkungen haben und haben oft auch tatsächlich politische Auswirkungen.
These 4: Gerichtsentscheidungen sind vom jeweiligen politischen (vielleicht eher: gesellschaftlich-ideologischen) Kräfteverhältnis beeinflusst – aber nicht linear. Gerichte können durchaus auch in Opposition zu aktuellen WählerInnen- und Parlamentsmehrheiten sowie Regierungen entscheiden (siehe die Entscheidungen, mit den denen das Bundesverfassungsgericht der BRD die sozialliberale Reformpolitik zu erheblichen Teilen blockierte [Liberalisierung des § 218 BRD-StGB i; Bildungsreformii; interpretatorische Auflagen hinsichtlich des Grundlagenvertrags mit der DDRiii; …]).
These 5: RevolutionärInnen haben kein Interesse daran (oder sie sind Nur-Möchte-Gern-RevolutionärInnen) die Abhängigkeit von Gerichtsentscheidungen vom politischen Kräfteverhältnisse zu verstärken – dies nicht nur und nicht vor allem, weil sie zur Zeit eine verschwindende Minderheit sind (also dabei den Kürzeren ziehen würden), sondern vor allem deshalb, weil sich RevolutionärInnen (wenn auch nicht unbedingt als Individuen, so doch als Bewegung) zu ihren Gesetzesbrüchen bekennen1, denn der Gesetzesbruch ist jedenfalls ein Element des Unterschiedes zwischen Revolution und Evolution.
These 6: Das Bekenntnis zu Gesetzesbrüchen (statt zu deren Vertuschung) hat – ausser dem in These 5 benannten revolutionären Aspekt auch einen materialistischen Aspekt: Wird der Gesetzesbruch unter Berufung auf ein angeblich höheres Recht vertuscht, so liegt darin eine Ent-Politisierung durch idealistische philosophische Verhimmelung (‚das [ewige] Recht' – jenseits der politischen Rechtssetzung; „die Gerechtigkeit“2 an und für sich).
These 7: Otto Kirchheimer3 bezeichnete als „Verrechtlichung“ das Phänomen, dass bestimmte Fragen „der jeweiligen sozialen Kräfteverteilung entr[iss]en und in die Sphäre des Rechts [lies: der Philosophie, dg] entrückt“ werden. Ich setze hinzu: Dies gilt gerade dann, wenn ein angeblich höheres Recht, den wirklichen Gesetzen entgegengesetzt wird.
These 8: Mein Plädoyer, das gewissermassen ein Plädoyer für eine Entpolitisierung der Rechtsprechung ist, ist im Sinne meines Zusatzes in These 7 gerade kein Plädoyer für eine Entpolitisierung des Rechts (also: der Gesetzgebung), sondern vielmehr gerade für die Anerkennung, dass das Recht weder etwas Ewiges noch etwas Göttliches noch etwas Natürliches, sondern ein Produkt von Politik ist4: „Über-positives Recht, Naturrecht, zu propagieren, ist nicht emanzipatorisch, sondern eine autoritäre Geste. Es behauptet individuelle oder Gruppen-Präferenzen als allgemein verbindlich; es umgeht – wie auch immer (parlamentarisch, rätedemokratisch, direktdemokratisch, …) organisierte – Gesetzgebung. Es untergräbt die Rechtssicherheit (die Nachlesbarkeit des geltenden Rechts in den Gesetzblättern), auf die gerade diejenigen angewiesen sind, die nicht die Macht haben, ihre Interessen jederzeit durchsetzen zu können, sondern auf schützende Formen angewiesen sind. Das Postulieren einer natürlichen Ordnung, eines Naturrechts, das über kollektiven, expliziten Entscheidungen (Rechtssetzungsakten) steht, ist nicht post-kapitalistisch, sondern prä-bürgerlich; eine Restaurierung mittelalterlicher, antiker und noch älterer Ordnungsvorstellungen. Eine sich ‚emanzipatorisch' nennende Linke sollte tunlichst die Finger davon lassen.“ (aus meinem Text: Warum Globale Soziale Rechte nicht antikapitalistisch sind, aber linke Politik trotzdem Rechtsforderungen braucht, in: trend. onlinezeitung 5/2008; http://www.trend.infopartisan.net/trd0508/Buko%20GSR-Debatte_KURZ-FIN.pdf, S. 5, li. Sp. oben)
These 9: Es ist materialistisch und emanzipatorisch, den ‚Produkt-Charakter' von Recht (Recht als als Produkt von Gesetzgebung und letztlich der „sozialen Kräfteverteilung“) offenzulegen und ihn nicht idealistisch zu vertuschen. Dieser Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus bedarf vermutlich keiner Erläuterung.5 Der emanzipatorisch Aspekt der Offenlegung des ‚Produkt-Charakters' von Recht liegt darin, dass die Anerkennung des ‚Produkt-Charakters' von Recht auch künftige Rechtsänderungen erleichtert (also die Geschichte offen lässt) – und zwar 1. überhaupt für künftige Rechtsänderungen und 2. gerade für gesellschaftliche Rechtsänderungen, während philosophische und juristische ExpertInnendiskurse elitärer6 sind als politische Diskurse und Gesetzgebungsprozesse:
„Trotz der fast durchgängigen Unbekanntheit des geltenden Rechts in der Bevölkerung kann bei brisanten Rechtsänderungen während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens soviel Aufmerksamkeit für die Austragung öffentlicher Kontroversen erzeugt werden, dass trotz der Selektivität politischer Wahlmechanismen eine rudimentäre demokratische Kontrolle der Rechtssetzung noch erhalten bleibt. Aber selbst dieses Minimum demokratischer Legitimation des Staatshandelns über die demokratische Kontrolle läuft ins Leere, wenn das Recht eine Struktur annimmt, die die Staatsapparat immer weniger bindet.“ (Ingeborg Maus, Verrechtlichung, Entrechtlichung und Funktionswandel von Institutionen, in: dies., Rechtstheorie und Politische Theorie im Industriekapitalismus, Fink: München, 1986 (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00040886-9), 277 - 331 [279])
These 10: Zwar sind Gerichtsentscheidungen vom jeweiligen politischen (vielleicht eher: gesellschaftlich-ideologischen) Kräfteverhältnis beeinflusst, aber es wird vor den Gerichten des bürgerlichen Staates niemals Erfolg bringen, zu sagen: „Ich bin LinksradikaleR; der Linksradikalismus hat Recht; also zu müssen Sie mir Recht geben.“
Nur wenig erfolgsträchtig wäre, einem von der CDU durchgesetzten Richter ins Gesicht zu sagen: „Ich bin CDU-Mitglied; Sie wurden von der CDU im RichterInnenwahlausschuss durchgesetzt; also müssen Sie mir Recht geben.“
These 11: Die Art und Weise, in der die politischen (oder vielleicht eher: gesellschaftlich-ideologischen) Kräfteverhältnisse Gerichtsentscheidungen beeinflussen, ist also eine indirekte. Es gibt mindestens zwei aussichtsreiche Möglichkeiten, für Entscheidungen im eigenen (politischen) Interesse zu argumentieren: a) die nachvollziehbar (das heisst: u.a. konkret) begründete Berufung auf die geltenden Gesetze (es kommt durchaus ab und an vor, dass in den Gesetzen etwas steht, was auch für Linksradikale und RevolutionärInnen erfreulich ist, zum Beispiel: ‚keine Strafe ohne Gesetz' [Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz]; dass es überhaupt zulässig, dass sich die BürgerInnen versammeln – wenn auch nur friedlich und ohne Waffen; … usw.).
b) Das eigene politische Interesse wird in etwas Allgemeines (‚das Allgemeinwohl', ‚die Gerechtigkeit' oder etwas ähnliches) übersetzt.
These 12: Aber jedenfalls MarxistInnen stehen den zuletztgenannten Floskeln kritisch gegenüber; sie wollen die gesellschaftlichen Interessengegensatz und Widersprüche vielmehr offenlegen:
„Die französische sozialistisch-kommunistische Literatur [… hörte] in der Hand des Deutschen auf[...], den Kampf einer Klasse gegen die andre auszudrücken, so war der Deutsche sich bewusst, die ‚französische Einseitigkeit' überwunden, statt wahrer Bedürfnisse das Bedürfnis der Wahrheit und statt der Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt vertreten zu haben, des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört.“ (MEW 4, 459 - 493 [486]; Kommunistische Manifest [1848])
„Was ist ‚gerechte' Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, dass die heutige Verteilung ‚gerecht' ist? […]. Haben nicht auch die sozialistischen Sektierer die verschiedensten Vorstellungen über ‚gerechte' Verteilung?“ (MEW 19, 11 - 31 [18] / MEGA I/25, 3 - 25 [12]; Kritik des Gothaer Programms [1875])
„Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ (MEW 4, 459 - 493 [493]; Kommunistische Manifest [1848])
Marx und Engels kritisierten an den Autoren des „kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus“: „Die unentwickelte Form des Klassenkampfes wie ihre eigene Lebenslage bringen es aber mit sich, dass sie weit über jenen Klassengegensatz erhaben zu sein glauben. Sie wollen die Lebenslage aller Gesellschaftsglieder, auch der bestgestellten, verbessern. Sie appellieren daher fortwährend an die ganze Gesellschaft ohne Unterschied, ja vorzugsweise an die herrschende Klasse. Man braucht ihr System ja nur zu verstehen, um es als den bestmöglichen Plan der bestmöglichen Gesellschaft anzuerkennen. Sie verwerfen daher alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine, natürlich fehlschlagende Experimente, durch die Macht des Beispiels dem neuen gesellschaftlichen Evangelium Bahn zu brechen.“ (MEW 4, 459 - 493 [490, 491]; Kommunistische Manifest [1848])
Und rund 30 Jahre nach dem Kommunistische Manifest stellten Marx und Engels (an Hand von Äusserungen einiger deutscher Sozialdemokraten) immer noch kritisch fest: „Wo der Klassenkampf als unliebsame ‚rohe' Erscheinung auf die Seite geschoben wird, da bleibt als Basis des Sozialismus nichts als ‚wahre Menschenliebe' und leere Redensarten von ‚Gerechtigkeit'.“ (MEW 19, 150 - 166 [164] / MEGA I/25, 171 - 185 [184]; Zirkularbrief [1875])
These 13: a) Vielleicht hätte ich statt: „vor Gericht geht es nicht darum, ob es politisch richtig war, sondern darum, ob es legal war“ eher schreiben sollen: „vor Gericht kommt es nicht darauf an, ob es politisch richtig war, sondern darum, ob es legal war“. b) Aber meistens geht es vor Gericht tatsächlich nicht darum, ob ‚es' (das in Rede stehende Tun) politisch richtig war:
aa) (Wie eingangs von Teil E. bereits gesagt:) Jedenfalls der Staat, der die Regeln für Gerichtsverfahren festlegt, hat ein Interesse daran, dass es vor Gericht nicht darum geht, ob das in Rede stehende Verhalten politisch richtig war. Grundsätzlich ist Legalität (und in demokratischen System: demokratische Gesetzgebung) seine Legitimationsressource – und folglich kann er nicht dulden, dass Gesetzesbrüche (Abweichungen von dem, was die demokratisch gewählten Gesetzgebungsorgane anordnen) mit Freisprüchen als Ergebnis politisch gerechtfertigt werden.
bb) Auch den meisten Verfahrensbeteiligten leuchtet der Unterschied zwischen Rechtssetzung (Legislative) und Rechtsanwendung (Judikative und teilweise: Exekutive) grundsätzlich ein. Und auch dem Marxismus ist es (mit seiner Kritik der Gewaltenteilung) nicht um eine Verstärkung der Verselbständigung von Exekutive und Judikative zu tun, sondern deren beamtenapparat-mässige Verselbständigung zu überwinden: Marx kritisierte die Unabhängigkeit der „Gerichtshierarchie […] von der Gesellschaft“7 und affirmierte statt dessen: „The Commune was to be a working, not a parliamentary, body, executive and legislative at the same time.“ (MEGA 22, 119 - 162 [139]; The Civil War in France [1871] – Original-Text von Marx) „Die [Pariser] Kommune [von 1871] sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.“ (MEW 17, 313 - 365 [339]; Bürgerkrieg in Frankreich [1871] – Übersetzung von Engels aus dem Jahr 1871)
„The judges were also to be elected, revocable, and responsible.“ (MEGA 22, 83 - 117 [105, Zeile 37 - 38]; The Civil War in France (Second Draft) [1871]; Hv. hinzugefügt – Original-Text von Marx) „Die Richter sollten ebenfalls gewählt, absetzbar und verantwortlich sein.“ (MEW 17, 572 - 610 [596]; [Zweiter Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“] [1871] – Übersetzung vermutlich von der MEW-Redaktion)
„Since the judges of the Civil tribunal of the Seine, like the other magistrates always ready to function under any class government, had run away, Commune appointed an advocate to do the most urgent business until the reorganization of tribunals on the basis of general suffrage; (26 April)“ (MEGA 22, 15 - 81 [46, Zeile 35 - 39]; The Civil War in France (First Draft) [1871]; Hv. hinzugefügt – Original-Text von Marx) „Da die Richter vom Zivilgericht des Seine-Departements, die wie die andren Beamten immer bereit sind, unter jeder Klassenregierung zu amtieren, geflohen waren, ernannte die Kommune einen Advokaten für die Erledigung der dringendsten Geschäfte bis zur Reorganisation der Gerichte auf der Basis allgemeiner Wahlen (26. April).“ (MEW 17, 493 - 571 [530]; [Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“] [1871]; Hv. hinzugefügt – Übersetzung vermutlich von der MEW-Redaktion)
These 14: Selbst wenn ich geschrieben hätte: „vor Gericht kommt es nicht darauf an, ob es politisch richtig war, sondern darum, ob es legal war“, so wäre auch das nicht ganz zutreffend gewesen; denn manchmal und in einem bestimmten Sinne, kommt es doch darauf an; siehe noch einmal These 4 und 11.
These 14: Das Ziel der staatlichen Verfahrensführung in politischen Strafprozessen ist es, das angeklagte Verhalten (die eingesetzten Mittel) zu delegitimieren und zu diesem Behufe die politischen Zwecke, denen die eingesetzten Mittel dienen sollen, zu dethematisieren: Aus RevolutionärInnen (manchmal auch: ReaktionärInnen) sollen TerroristInnen; aus DemonstrantInnen ChaotInnen gemacht werden.
These 15: Es ist fraglich, ob der Gerichtssaal überhaupt das geeignete Terrain ist, um dieser staatlichen Absicht entgegenzutreten. Jedenfalls dann, wenn die Angeklagten nicht in Untersuchungshaft sitzen, ist vielleicht ist eine Kundgebung unmittelbar vor Prozessbeginn oder eine Saalveranstaltung an anderem Orte einige Tage vor oder nach dem Prozess geeigneter; wenn die Angeklagten in Untersuchungshaft sitzen und Post nach draussen kommt, ist vielleicht eine Zeitschriften- oder Buchveröffentlichung geeinigter. Wenn es um die Tat einer klandestinen Organisation geht, äussert sich vielleicht besser die Organisation (aus dem Schutz der Klandestinität) als die Angeklagten (in der Hand des Staates).
These 16: a) Aber wenn entschieden wird, auf dem gerichtlichen Terrain die politische Auseinandersetzung zu führen (was – wie gesagt – nicht richtig sein muss; siehe noch einmal These 15), dann sollten dies die Angeklagten übernehmen statt dies auf ihre AnwältInnen abzuschieben (was die Argumente der Angeklagten – wegen der unterschiedlichen Rollen8 von Angeklagten und VerteidigerInnen im Prozess und wahrscheinlich auch wegen tatsächlich bestehender politischer Differenzen – zwangsläufig verzerren würde). Und wenn schon entschieden wird, die politische Auseinandersetzung auf dem gerichtlichen Terrain zu führen, dann sollte den heiklen Fragen ([Warum] war das angeklagten Verhalten richtig? Oder [warum] war das angeklagte Verhalten falsch?)9 nicht ausgewichen werden: Wenn es bei einem Prozesses darum geht, dass bei einer Demo gegen den G20-Gipfel der Fahrplanhalter einer ÖPNV-Haltestelle beschädigt worden ist, dann heisst, die politische Auseinandersetzung auf dem gerichtlichen Terrain zu führen nicht (wie gesagt: ich bin skeptisch, ob es überhaupt richtig ist, dort die politische Auseinandersetzung zu führen – aber wenn, dann bitte konsequent!10),
• nur einige kritische Worte über G20, die auch von der evangelischen Organisation „Brot für die Welt“ oder der revisionistischen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) stammen könnten, zu sagen,
• zu ignorieren, dass der staatliche Vorwurf nicht lautet, dasselbe wie „Brot für die Welt“ oder die DKP zu sagen, sondern dass der Fahrplanhalter beschädigt wurde.
Um aus dem Vorwurf des Staates eine revolutionäre Affirmation zu machen, müsste vielmehr dargelegt werden, welchen politisch-revolutionärem Kalkül es (vermutlich; s. noch einmal FN 9) folgen sollte, den Fahrplanhalter zu beschädigen – oder, dass es halt ein Fehler war: „Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist das Merkmal einer ernsten Partei, das heisst Erfüllung ihrer Pflichten, das heisst Erziehung und Schulung der Klasse und dann auch der Masse.“ (LW 31, 1 - 106 [42]) b) Eine vor Gericht geäusserte Kritik nicht des Staates, sondern bestimmter linker Praxis mag (heutzutage) ungewöhnlich sein, wäre aber nicht ohne Vorbild. So sagte Brigitte Mohnhaupt als Zeugin11 im ersten Stammheimer Prozess unter anderem folgendes aus:
„es war eine autonome entscheidung und ne autonom durchgeführte aktion der hamburger gruppen. nach der aktion gab es starke kritik in den anderen gruppen. ulrike Ist daraufhin nach hamburg gefahren, um dort genau rauszufinden, regelrecht zu ermitteln, wie das möglich war, weil die raf grundsätzlich nie aktionen mit der Implikation konzipiert hat, dass dabei zivilisten getroffen werden könnten. das war ein wesentlicher grundsatz in allen diskussionen, und die kritik an der gruppe in hamburg war, dass sie die aktion durchgeführt hat, ohne sich darüber klar zu sein, ohne in ihre konzeption mit einzubeziehen, dass springer natürlich nicht räumen lassen wird. also genau darauf nicht gefasst war. zu diesem zweck ist ulrike damals nach hamburg gefahren, um das zu klären, herauszufinden.“ (zit. nach Pieter Bakker Schut, Stammheim, 1997, 359 f.12)13
These 17: Die AnwältInnen sollten dagegen die juristische Arbeit erledigen – statt vor Gericht wie [wegen ‚falscher' Berufswahl ;-)] verhinderte politische AktivistInnen zu argumentieren. Sie würden ihren MandantInnen mehr nützen, wenn sie sich mit den geltenden Gesetzen und den Beweis(behauptung)en des Staat auseinandersetzen, als wenn sie die politischen Positionen ihrer MandantInnen in weichgespülte, pseudo-juristische Formen zu giessen. „[D]ie juristische Arbeit erledigen“ und „sich mit den geltenden Gesetzen und den Beweis(behauptung)en des Staat auseinandersetzen“ heisst z.B.: „Ein juristischer Beweisantrag muss für Rechtsfragen (und nicht für Gesellschaftsanalyse) relevant sein.“ (aus meinen Folien: Über die Probleme des juristischen Politisierens und der politizistischen Juristerei; https://web.archive.org/web/20210123142555/http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Folien_Gefahren_jur_Pol.pdf, Folie 6)
Und „die politischen Positionen“ nicht dadurch weichspülen, dass sie in „pseudo-juristische Formen“ gegossen werden heisst: „Im Rahmen einer gesetzesimmanenten Argumentation geht es darum, dass der Staat nicht zu unserem Nachteil von seinen Gesetzen abweichen soll. Da hat es durchaus Sinn, das grössere vom kleineren Übel zu unterscheiden.14
Bei einer politischen Argumentation geht es aber nicht um die Gesetze des Staates, sondern um unsere eigenen Inhalte und Positionen. Da sollten nur Sachen gesagt werden, von denen wir voll überzeugt sind, und nicht aus ‚taktischen' Gründen Falsches.“ (ebd., Folie 7)
Falsch wäre, am Sonntag noch Propaganda für den Kommunismus zu betreiben, und sich dann aber am Montag vor Gericht auf die Harmlosigkeit einer Mitgliedschaft im Bund der deutschen katholischen Jugend zu berufen – ausser vielleicht, es würde sich tatsächlich um einen Fall von ‚Spontan-Konversion' handeln.
Auch sollten der „Historischen Materialismus, Imperialismus-Analysen und das autonome Weltbild nicht in juristische Anträge“ gezwängt werden. „Diese geben jenen nicht nur eine andere Form, sondern machen aus ihnen einen anderen Inhalte“ (ebd., Folie 8). Der juristische Diskurs hat andere ‚Regeln' – hat eine andere „Problematik“15 – als zum Beispiel der Diskurs des Historischen Materialismus:16 „Die Arbeiterklasse […] kann [… ihre] Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille in ihrer Wirklichkeit anschaut.“ (MEW 21, 491 - 509 [494] / MEGA 31, 397 - 413 [399]; Juristensozialismus) Ich möchte – vielleicht etwas ketzerisch – noch hinzusetzen: Umkehrt kann auch das geltende Recht, das von seinen Determinationsfaktoren zu unterscheiden ist, nur erkannt werden, wenn die Brille des Historischen Materialismus und erst recht die Brille blosser politische Parteilichkeit abgesetzt wird.
Oder das Vorstehende stichwortartig ausgedrückt: „Unsere politischen Wünsche nicht vorschnell auf ‚das Recht' projizieren und in das Justizsystem einspeisen. Dadurch werden unsere politische Wünsche nämlich nicht Wirklichkeit, sondern entwertet, verdreht – und teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt.“ (ebd., Folie 9; vgl. auch Folie 4, letzter Aufzählungspunkt sowie Folie 5)
These 18: Politisch sympathische, aber am aktuellen Verfahrens(gegen)stand vorbeigehende Argumente, nützen dagegen weder juristisch noch produzieren sie revolutionäres Bewusstsein; sie produzieren vielmehr Rechtsillusionen17.
These 19: So ist das Folgende zwar irgendwie politisch sympathisch: „Die Verteidigung sieht in dem heutigen Urteil einen Rückfall hinter den sogenannten Brokdorf-Beschluss von 1985. Dieser Beschluss stellt klar, dass der Schutz der Versammlungsfreiheit ‚für die Teilnehmenden auch dann erhalten bleiben muss, wenn mit Ausschreitungen durch Einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist.'“ (https://gemeinschaftlich.noblogs.org/pressemitteilung-ein-angriff-auf-die-versammlungsfreiheit-revision-wird-geprueft/) Als Einwand gegen das Rondenbarg-Urteil des Landgerichts Hamburg ist das aber – jedenfalls in dieser Abstraktheit – gleich aus zwei Gründen untauglich:
• Es ignoriert den Unterschied zwischen dem Brokdorf-Urteil, bei dem es um die Frage ging, unter welchen Voraussetzungen ganze Versammlungen vorab wegen der blossen Gefahr, dass es bei der Demo vielleicht zu Gewalttätigkeiten kommen wird, verboten werden dürfen. In Strafverfahren geht es dagegen um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Leute bestraft werden dürfen, nachdem die Demo schon stattgefunden hat und es tatsächlich zu Gewalttätigkeiten kam. RechtsanwältInnen bekamen den Unterschied in ihrer Ausbildung erklärt; und auch politische AktivistInnen sollten nachvollziehen können, dass es sich um zwei unterschiedliche Fragen handelt, und naheliegend finden, dass für beides im geltenden Recht unterschiedliche Voraussetzungen festgelegt sind.
• Der in oben stehendem Zitat teilweise angeführte Satz aus dem Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 lautet vollständig: „Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt (vgl. § 13 I Nr. 2 VersG) oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben (vgl. § 5 Nr. 3 VersG) oder zumindest billigen, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen“. (BVerfGE 69, 315 - 372 [361])
Das Landgericht Hamburg ist ja nun aber der Auffassung, dass die Rondenbarg-Demo den „von Anfang an gebilligten unfriedlichen Verlauf genommen hat“ und dass die Angeklagten zu diesen „Ausschreitungen“ Beihilfe geleistet haben. Es handelte sich im Rondenbarg-Fall also gerade um einen anderen Sachverhalt, als den Sachverhalt, für den das Bundesverfassungsgericht sagt, dass „für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben [muss], wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen“. Dass solche TaschenspielerInnen-Tricks, wie sinnentstellendes Zitierens des Bundesverfassungsgerichts, vor dem Bundesgerichtshof und zumal dem BVerfG selbst nicht gerade FreundInnen produzieren, sondern geringe Chancen haben – zumal, wenn linke AnwältInnen von linksradikalen oder revolutionären Angeklagten so rumtricksen – sollte doch wohl allen Leuten klarsein.
These 20: Diejenigen, die suggerieren, „Beihilfe zur versuchten gefährlichen Körperverletzung, […] Beihilfe zum tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte und […] Beihilfe zur Sachbeschädigung“ sei nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts noch friedliches – von Versammlungsfreiheit gedecktes – Demonstrieren und deshalb falle das Rondenburg-Urteil des Landgerichts Hamburg hinter das Brokdorf-Urteil zurück, produzieren linksradikale Illusionen in das Bundesverfassungsgericht (und den bürgerlichen Staat im allgemeinen18) statt – auf der Grundlage realistischer Analyse der Lage – taugliche Strategien zu entwickeln (von revolutionärer Aufklärung gar nicht erst zu reden).
PS.:
Mein in These 8 genannter sechsseitiger Text Warum Globale Soziale Rechte nicht antikapitalistisch sind, aber linke Politik trotzdem Rechtsforderungen braucht hatte folgende Zwischenüberschriften:
• Zu den Argumenten der GSR [= Globale Soziale Recht]-KritikerInnen
? Ausgrenzung
? Blütenträume versus Machtfragen
? Kann allen alles zustehen?
? Taktik und die Realität politischer Praxis
? Revolutionäre Ergebnisse ohne Revolution?
? Zu den Grenzen der ‚Basishuberei'
? Politische Verantwortung übernehmen
? „Alltagskämpfe“ und Solidarität
• Zu den Argumenten der BefürworterInnen des GSR-Konzeptes
? Rechtsforderungen – eine kontroverse Geschichte
? Die Grenzen des juristisch Sagbaren
? Wasch' mir den Pelz, aber mach' mich nicht nass
? Freiheit und Gleichheit – nicht Verschleierung, sondern Wahrheit des kapitalistischen Warentauschs
? Gleichheit vor dem Gesetz – was sie bedeutet und was sie nicht bedeutet
? Prinzipielle Gleichheit oder individuelle Vielfalt?
? Von Bananenbäumen bitte keine Himbeeren und auch vom Recht nicht mehr verlangen, als es leisten kann
? Rosa Luxemburg, ‚negative' Freiheiten und ‚positive' Rechte
? Menschenrechtsdiskurs und die begrenzte Reichweite sozialer Grundrechte
? Fundamental(ist) rights und das Ende der Politik
• Wo bleibt das Positive? – Einige Überlegungen zu anti-kapitalistischer Rechtspolitik
? Begriffliche und politische Unterscheidungen
? Warum die Berufung auf Naturrecht eine autoritäre Geste ist
? Die Durchsetzung des geltenden Verfassungsrechts – ein Mittel vor allem zum Abbau rassistischer Herrschaft
? Grundrechtsausübung erleichtern – ohne Autopoiesis
? Demokratische Reformalisierung statt ent-demokratisierender Pseudo-Materialisierung
? Civil rights & liberties – Partizipationsrecht statt Religionsersatz
? Re-Politisierende Legalstrategien statt ent-politisierender Menschenrechtsphilosophie
Siehe ergänzend:
• Über die Probleme des juristischen Politisierens und der politizistischen Juristerei; https://web.archive.org/web/20210123142555/http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Folien_Gefahren_jur_Pol.pdf und dazu: https://www.freie-radios.net/41483, Min. 29:57 bis 50:12 (Anmoderation und Beitrag).
Fussnoten:
1 „Es ist keineswegs links, sondern idealistisch und opportunistisch alles, was politisch richtig ist, auch als (schon) rechtmässig auszugeben.“ (http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2024/01/Schleppender_Auftakt.pdf, S. 49) / „RevolutionärInnen flennen nicht um eine Legalität, die sie – beim Akt der Revolution (und auch bei manchen Vorbereitungsschritten) – nicht haben können“ (https://kontrapolis.info/12970/).
2 Marx und Engels kritisierten die Kategorie der „Gerechtigkeit“ teils Leerformel, teils als Ausdruck, dessen Verwendung die herrschenden Verhältnisse affirmiere: „Was ist ‚gerechte' Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, dass die heutige Verteilung ‚gerecht' ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige ‚gerechte' Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen? Haben nicht auch die sozialistischen Sektierer die verschiedensten Vorstellungen über ‚gerechte' Verteilung?“ (MEW 19, 11 - 31 [18]; vgl. MEGA I/25, 3 - 25 [12])
„Wo der Klassenkampf als unliebsame ‚rohe' Erscheinung auf die Seite geschoben wird, da bleibt als Basis des Sozialismus nichts als ‚wahre Menschenliebe' und leere Redensarten von ‚Gerechtigkeit'.“ (MEW 19, 150 - 166 [164] / MEGA I/25, 171 - 185 [184])
Vgl. zur inhaltlichen Unbestimmtheit des Gerechtigkeits-Postulats auch noch Hans Kelsen, Was ist juristischer Positivismus?, in: Juristenzeitung 1965, 465 - 469 (468):
„Die Trennung des Rechts von der Moral bedeutet […] nicht – wie vielfach missverstanden wird – die Ablehnung der Forderung, dass das Recht der Moral und insbesondere Moralnorm der Gerechtigkeit entsprechen, dass das Recht gerecht sein soll. Aber wenn diese Forderung gestellt wird, muss man sich bewusst sein, dass es sehr verschiedene und miteinander in Konflikt stehende Ideale der Gerechtigkeit gibt – z.B. den kapitalistischen Liberalismus und den Sozialismus –; […].“ (Hv. i.O.)
Wieso sollte die Entscheidung, ob die Gerechtigkeits-Ideale des „kapitalistischen Liberalismus“ oder „Sozialismus“ (oder Anarchismus etc.) vorzuziehen seien, gerade bei RichterInnen (noch dazu des BRD-Staatsapparates) in besonders guten Händen sein?
3 Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, in: Zeitschrift für Politik 1928, 593 - 611 (597).
4 „Recht und Politik [sind] keine getrennten Sphären; aber sie sind zu unterscheiden. Recht ist das Produkt von Politik; und Politik (politische Praxis) kann sowohl rechtmässig als auch rechtswidrig sein.“ (http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2024/01/Schleppender_Auftakt.pdf, S. 49)
5 Falls doch: „MaterialistInnen bekennen sich (wenn auch nicht unbedingt als Individuen, so doch als Bewegung) zu ihren revolutionären Gesetzesbrüchen; nur IdealistInnen verklären ihre Gesetzesbrüche zum ‚wahren Recht'. Deshalb ist juristischer Positivismus epistemologisch materialistisch und deshalb politisch tendenziell links; und juristischer Antipositivismus idealistisch und deshalb politisch tendenziell konservativ (bis hin zum faschistischen Gesetzesbruch [siehe Carl Schmitts Diktum: ‚Der Führer schützt das Recht'). („Positivismus“ wird in Rechtswissenschaft und Rechtstheorie die Auffassung genannt, die nur das gesetzte [lat. p?nere (Perfekt: positum) = legen, setzen, stellen, hinlegen, hinsetzen, hinstellen, aufstellen u.ä. http://www.zeno.org/nid/20002574012] Recht als Recht anerkennt.)“ (scharf-links vom 01.05.2024; https://www.scharf-links.de/news/detail-topnews/neuer-autoritarismus-oder-leidlich-funktionierende-gesetzesbindung-der-justiz)
6 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses [1970], in: ders., Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Fischer: Frankfurt am Main, 201413, 7 - 49 (26): „Niemand kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht gewissen Erfordernissen genügt, wenn er nicht von vornherein dazu qualifiziert ist. Genauer gesagt: nicht alle Regionen des Diskurses sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast allen Winden offenstehen und ohne Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen.“ (Hv. hinzugefügt)
7 „The governmental power with its standing army, its all directing bureaucracy, its stultifying clergy and its servile tribunal hierarchy, had grown so independent of society itself, that a grotesquely mediocre adventurer with a hungry band of desperadoes behind him sufficed do wield it.“ (MEGA 22, 83 - 117 [105, Zeile 37 - 38]; The Civil War in France (First Draft) [1871]; Hv. hinzugefügt – Original-Text von Marx)
„Die Regierungsgewalt mit ihrem stehenden Heer, ihrer alles dirigierenden Bürokratie, ihrer verdummenden Geistlichkeit und ihrer servilen Gerichtshierarchie war“ im zweiten französischen Kaiserreich (1852 bis 1870) „von der Gesellschaft selbst so unabhängig geworden, dass ein lächerlich mittelmässiger Abenteurer mit einer gierigen Bande von Desperados hinter sich genügte, sie zu handhaben.“ (MEW 17, 493 - 571 [540]; [Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“] [1871] – Übersetzung vermutlich von der MEW-Redaktion)
8 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses [1970], in: ders., Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Fischer: Frankfurt am Main, 201413, 7 - 49 (27): „Das Ritual definiert die Qualifikation, welche die sprechenden Individuen besitzen müssen (wobei diese Individuen im Dialog, in der Frage, im Vortrag bestimmte Positionen einnehmen und bestimmte Aussagen formulieren müssen); es definiert die Gesten, die Verhaltensweisen, die Umstände und alle Zeichen, welche den Diskurs begleiten müssen; es fixiert schliesslich die vorausgesetzte oder erzwungene Wirksamkeit der Worte, ihre Wirkung auf ihre Adressaten und die Grenzen ihrer zwingenden Kräfte. Die religiösen, gerichtlichen, therapeutischen Diskurse, und zum Teil auch die politischen, sind von dem Einsatz eines Rituals kaum zu trennen, welches für die sprechenden Subjekte sowohl die besonderen Eigenschaften wie die allgemein anerkannten Rollen bestimmt.“
9 Die Beantwortung dieser Fragen erfordert nicht, dass die Angeklagten sagen, ob sie das, was ihnen vorgeworfen wird, gemacht haben – es ist auch möglich (und durchaus nicht ungewöhnlich), fremdes Verhalten für richtig oder falsch zu halten.
10 Politisierung von Gerichtsverfahren in Form von seichtem oder schein-radikalem Gerede, ohne sich mit dem staatlichen Vorwurf auseinanderzusetzen, bringt weder juristisch noch politisch voran. Politisch führt es allenfalls zu Kinderspielchen Marke „Aber die andere Seite hat angefangen…“ / „Aber die andere Seite hat doller zugehauen“, was materialistischer Konfliktanalyse unwürdig ist (vgl. LW 21, 295 - 341 [301]; Sozialismus und Krieg [1915]). Materialistische Konfliktanalyse fragt vielmehr, welche Interessen sich gegenüberstehen und ob die eingesetzten Mittel zur Zweckerreichung geeignet sind.
11 Sie war nicht in Stammheim angeklagt, sondern war – wegen einer früheren Verurteilung – in Westberlin inhaftiert.
12 Die Seitenzählung des Buches von Bakker Schut ist vermutlich – abgesehen von den Vorwörtern – in allen drei Auflagen identisch. –
Mittlerweile sind die Stammheim-Protokolle (in Gross- und Kleinschreibung auch in der Aussage von Brigitte [war ja eh mündlich – hat also eh keine authentische Schreibweise]) wissenschaftlich editiert worden; die hier interessierende Stelle ist dort:
https://www.stammheim-prozess.de/wp-content/uploads/2021/10/129.-Verhandlungstag-Text-S.-10675-10766.pdf auf S. 45 (nach dem editierten [und auch als scan veröffentlichten S. 43 der digitalen bzw. S. 10717 der gestempelten Seitenzählung] Protokoll zu urteilen, wurde die von Bakker Schut zitierte Version sprachlich leicht geglättet).
13 Sie äusserte ausserdem u.a. folgendes: „zu sagen [ist], die strategische konzeption, die die raf 72 entwickelt hat, sich gegen die militärische und politische us-präsenz in der bundesrepublik gerichtet hat, dass die einzelnen taktischen operativen schritte dazu der angriff auf das cia-headquarter in frankfurt, der angriff auf das headquarter der us-armee in heidelberg und die entführung der drei stadtkommandanten in berlin waren. dass diese entscheidung, dieses konzept entwickelt worden ist im kollektiven diskussionsprozess von allen, die in der raf organisiert waren, das heisst, es gab darüber konsens aller gruppen, aller einzelnen einheiten in den städten. und so ein klares bewusstsein von jedem, was das bedeutet, die funktion dieser angriffe. insofern sind wir alle für diese angriffe auf die militärische präsenz der usa in der bundesrepublik verantwortlich, das heisst, wir sind alle verantwortlich für die anschläge, für die angriffe auf die headquarters.“ (zit. nach Pieter Bakker Schut, Stammheim, 1997, 358; vgl. https://www.stammheim-prozess.de/wp-content/uploads/2021/10/129.-Verhandlungstag-Text-S.-10675-10766.pdf, S. 42)
14 Zum Beispiel wäre es unproblematisch, wenn eine Verteidigung wie folgt argumentiert: „Nach unserer Überzeugungen ist aus – aus den vorgenannten Gründen – nicht gelungen, den Angeklagten die Tat nachzuweisen. Sollte das Gericht aber trotzdem überzeugt sein, dass die Angeklagten die TäterInnen sind, so beantragen wird eine Strafe von x, weil es sich bei der Tat eh nur um einen minder schweren Fall handelt. Keinesfalls wäre aber – wie die Staatsanwaltschaft beantragt, eine Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zulässig, denn die Staatsanwaltschaft wirft unseren MandantInnen nur Hochverrat gegen ein Bundesland (Strafrahmen: ‚Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren'), aber nicht gegen den Bund (Strafrahmen: ‚lebenslange Freiheitsstrafe oder […] Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren') vor. Auch das Gericht hat keinen rechtlichen Hinweis erteilt, dass eine andere rechtliche Beurteilung in Betracht käme.“
(Im Falle von Hochverrat gegen ein Bundesland beträgt der Strafrahmen für „minder schwere Fälle“ gemäss § 82 Absatz 2 BRD-StGB „Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren“.)
15 „Marx begründet in der Tat eine neue Problematik, eine neue systematische Art, der Welt Fragen zu stellen, neue Prinzipien und eine neue Methode.“ (Louis Althusser, Marxismus und Humanismus [1965], in: ders., Für Marx, Suhrkamp: Berlin, 2011, 282 - 318 [281]) In Vorwort: Heute [1965] in: Für Marx (a.a.O., 17 - [34]) sagte Althusser er habe „von Jacques Martin den Begriff Problematik entl[ie]hen […], um die spezifische Einheit einer theoretischen Formation und folglich den Bestimmungsort dieses spezifischen Unterschieds“ zwischen dieser theoretischen Formationen und anderen theoretischen Formationen „zu bezeichnen“.
16 Vgl. allgemeiner
• Louis Althusser, Vom Kapital zur Philosophie von Marx [1965], in: ders. et al., Das Kapital lesen. Vollständige und ergänzte Ausgabe mit Retraktationen zum Kapital, Westfälisches Dampfboot: Münster, 19 - 103 (37, 38): „die Wissenschaft überhaupt [kann] nur ein Problem als solches stellen […], indem sie sich auf dem Terrain und im Horizont einer als solche definierten theoretischen Struktur bewegt, nämlich ihrer Problematik […]. Jedes Objekt oder jedes Problem ist sichtbar, das sich auf dem Terrain und in dem Horizont befindet, d.h. in dem als solchem definierten strukturierten Feld der theoretischen Problematik einer gegebenen theoretischen Disziplin. […]. Das Feld der Problematik definiert und strukturiert das Unsichtbare als ein bestimmtes Ausgeschlossenes, als etwas, das aus dem Feld der Sichtbarkeit ausgeschlossen ist und zugleich, aufgrund der Existenz und der eigentümlichen Struktur des Feldes dieser Problematik, als [etwas] Ausgeschlossenes definiert wird nämlich als das, was die Reflexion des Feldes auf sein[en] Objekt[bereich] verbietet und verdrängt“.
und
• Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses [1970], in: ders., Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Fischer: Frankfurt am Main, 201413, 7 - 49 (22 und 23, wobei er dort aber nach einem nicht genannten Kriterium zwischen „Wissenschaften“ und „Disziplinen“ unterscheidet): „eine Disziplin […] definiert sich durch einen Bereich von Gegenständen, ein Bündel von Methoden, ein Korpus von als wahr angesehenen Sätzen, ein Spiel von Regeln und Definitionen, von Techniken und Instrumenten: […]. ein Satz [muss], damit er zur Botanik oder zur Medizin gehöre, Bedingungen entsprechen, die in gewisser Weise strenger und komplexer sind, als es die reine und einfache Wahrheit ist: jedenfalls Bedingungen anderer Art. Er muss sich auf eine bestimmte Gegenstandsebene beziehen“.
Auf Seite 25 illustriert Foucault dies mit folgendem Beispiel: Der Begründer der modernen Gentik „Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht ‚im Wahren' des biologischen Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet. Es musste der Massstab gewechselt werden, es musste eine ganz neue Gegenstandsebene in der Biologie entfaltet werden, damit Mendel in das Wahre eintreten und seine Sätze (zu einem grossen Teil) sich bestätigen konnten.“ Und auch noch auf S. 25: „im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei' gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss.“
Das heisst: Um im Wahren des juristischen Diskurses zu sein, müssen andere Regeln befolgt werden als, um im Wahren des Historischen Materialismus zu sein, womit hier (anders als vielleicht seitens Foucaults) keinem epistemologischen Relativismus das Wort geredet werden soll: Jedenfalls lassen sich die Unterschiede zwischen beiden (oder überhaupt zwischen unterschiedlichen Diskurs[gattung]en) nicht einfach auf einen unterschiedliche politische „Standpunkt“ oder unterschiedlich materielle „Interessen“ reduziert.
17 „Rechtsillusionen zu produzieren ist nicht links, sondern idealistisch und voluntaristisch – und kann zu Leichtfertigkeit führen (wenn Legalitätsspielräume überschätzt werden und gebotene Konspiration unterbleibt […].“ (http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2024/01/Schleppender_Auftakt.pdf, S. 49)
18 „Der bürgerliche Staat ist aber keine Wohlfühlveranstaltung für Linksradikale sowie KommunistInnen und andere RevolutionärInnen, sondern verteidigt sein Gewaltmonopol auch schon, bevor seine Existenz als Staat gefährdet ist; und der spezifisch-deutsche ideologischen Staatsschutz setzt traditionell noch früher ein.“ (https://kontrapolis.info/12970/)
i BVerfGE 39, 1 - 68 (1, Leitsatz 1 und 4): „Der Lebensschutz der Leibesfrucht geniesst grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden. […]. Im äussersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.“
Es folgt auf den S. 68 - 95 ein abweichendes Foto von Richterin Rupp-v. Brünneck und Richter Simon.
Die Entscheidung erging auf Normenkontrollantrag von CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten sowie der von CSU bzw. CDU geführten Landesregierungen von Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein sowie des Saarlandes.
ii BVerfGE 34, 165 - 200 (165, Leitsatz 6): „Die wesentlichen Merkmale einer als Pflichtschule eingeführten Förderstufe müssen durch Gesetz festgelegt werden.“ (Nur steht in Artikel 6 und 7 Grundgesetz und an anderen Stellen des Grundgesetzes gar nichts davon, dass bestimmte Fragen der Schulpolitik durch Gesetz geregelt werden müssen – und die Parlamente den Regierung nicht soviel Spielraum lassen dürfen, wie sie wollen – und sich dafür dann vor den WählerInnen verantworten müssen.)
BVerfGE 35, 79 - 148 (79, Leitsatz 1): Dort machte die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts aus der Wissenschaftsfreiheit, die im wirklichen Grundgesetz keinen begrenzten TrägerInnenkreis hat, ein Recht insbesondere von ProfessorInnen: „Organisationsnormen müssen den Hochschulangehörigen, insbesondere den Hochschullehrern, einen möglichst breiten Raum für freie wissenschaftliche Betätigung sichern, andererseits müssen sie die Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Hochschule und ihrer Organe gewährleisten.“ (Hv. hinzugefügt) Daraus leitet die BVerfG-Mehrheit dann wiederum u.a. ab: „Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muss der Gruppe der Hochschullehrer ein […] ausschlaggebender Einfluss vorbehalten bleiben.“ [ebd., 80, Leitsatz 8. c)]
Es folgt auf den S. 148 - 170 ein abweichendes Votum von Richter Simon und Richterin Rupp-v. Brünneck.
iii BVerfGE 36, 1 - 39 (2 f.): „Das Gesetz zu dem Vertrag […] zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik […] ist in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.“
Das Bundesverfassungsgericht hatte dort aus den blossen Formulierungen in der Präambel (!) des Grundgesetzes in der bis 1990 geltenden Fassung, „vom Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren“ und „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ (https://lexetius.de/GG/-0,2; Hv. hinzugefügt), eine „Wiedervereinigungsgebot“ deduziert, aus dem z.B. folge: „Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken – das schliesst die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach aussen beharrlich zu vertreten – und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.“ (BVerfGE 36, 1, Leitsatz 4)
Die Entscheidung erging (ohne abweichende Voten) auf Antrag der bayerischen Staatsregierung.