Wenn binäres Schubladen-Denken über "politische" vs. "soziale" Gefangene zur Selektion von "guten" von "schlechten" Menschen führt Die Ödnis der Trennungen bei Gefangenen

Politik
In letzter Zeit tauchen verstärkt aus antiimperialistischen und kommunistischen Gruppen Parolen auf wie "Freiheit für alle politischen Gefangenen" oder auch "Freiheit für alle Antifas".
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Luftbild der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen (Ansicht von Süden). Foto: Carsten Steger (CC-BY-SA 4.0 cropped)

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Gehen wir der Sache doch mal auf den Grund, also reissen wir die Fassade ein, gehen wir doch mal hinter die Fassade und zwar ganz brutal und ganz offen. Leute, die diese Trennung machen, sind für Repression, die sind für Knast, die sind für Justiz, die sind für Strafen. Alle, die nicht ihrer Szene entsprechen können, diese Gefangenen sind für sie nur "Kriminelle".
G: Unser heutiges Thema ist, warum müssen wir Gefangene immer in Schubladen stecken. Gut, draussen stecken wir auch viele Leute in Schubladen, was ich da nicht okay finde. Aber in Bezug auf den Knast, da taucht immer wenn ich den Leuten erzähle, dass ich jemanden im Knast besuche, die erste Frage ist immer, warum sitzt der? Draussen, wenn mensch irgendwie Leute besucht, wenn ich sage, ich besuche jetzt irgendwie einen Bekannten, keine r fragt mich, was die oder der macht oder was er oder sie sonst so tut. Aber bei den Gefangenen ist es offensichtlich so üblich .Und eine der häufig gängigen Unterscheidungen ist eben, politische oder soziale Gefangene, also ich tue mich schwer mit diesen Begrifflichkeiten. W. du warst ja auch im Knast, warst du eigentlich ein politischer oder ein sozialer Gefangener?
W: Ja weder noch, ich war ein Gefangener. Aber was du sagst ist genau das trifft auch auf mich und viele andere zu. Ich wurde als politischer Gefangener offiziell angesehen und auch mit den ganzen Sonderbehandlungen wie "von Hand zu Hand" Einzelhofgang und dies und jenes. Das war sozusagen die Einstufung der Justiz. Bei den Gefangenen selber, die guckten erstmal, auch aufgrund dieser Einstufung oder aufgrund der Schilder vor der Tür. Aber es war ziemlich schnell dann aber auch vorbei. Die haben mich dann irgendwann auch als normalen Gefangenen gesehen. Kommt auch darauf an, wie du selber auftrittst. Also wenn du selber das Gefühl hast, ein Politischer zu sein, du dich dann abgrenzt von den sogenannten normalen Gefangenen, dann bleibst du in der Kategorie. Nur wenn du halt sagst, ich bin ein Gefangener genauso wie die anderen auch, dann ist es im Grunde genommen kein Unterschied mehr. Also von innen jetzt, von den Gefangenen selber. Von aussen immer noch dasselbe. Ist wegen irgendwelcher politischen Aktivitäten im Knast, also bekommt er Sonderbehandlung. Und wie gesagt, auch manche Gefangenen selber wachsen ja quasi auch in diese Aufgabe mit rein, das so zu fühlen. das haben wir bei der RAF gesehen, die sich ja selber abgrenzen.
G: Also ich hatte es da zugegebenermassen leichter. Als ganz normaler Bankräuber war ich einfach automatisch ein sozialer Gefangener. Ich musste mich da nicht gross verbiegen. Die Probleme habe ich übrigens im Knast so überhaupt nicht festgestellt. Also ich habe keinen gefragt, weshalb er einsitzt. Und mich hat eigentlich auch niemand gefragt. Entweder erzählt man es, wenn man die Leute in der Zeit kennt, erzählt man es von selbst. Das Problem war eigentlich immer draussen. Also ich kam zum Beispiel nach meiner Knastzeit raus und wurde auf das erste Thema gefragt, warst du ein politischer oder ein sozialer Gefangener? Dann habe ich gesagt, ich war zum Glück ein sozialer Gefangener. Weil wenn ich mich entscheiden muss zwischen politisch und sozial, dann bin ich lieber sozial.
W: Ja, eben auch vom Wort sozial erstmal sowieso, weil die Politik ja nun für mich auch einen negativen Touch hat. Aber genau was du sagst, weisst du, es ist im Grunde genommen immer wichtig auch, wie du dich selber verhältst. Und wenn du den anderen als Gefangener begegnest, dann ist im Grunde genommen diese ganze Stufung, die ja von aussen gemacht wird, im Grunde genommen erstmal abzulehnen. Langweilt auch irgendwann mal. Nur der Anlass heute Abend ist halt wahrscheinlich von Köln aus gesehen, neue Erfahrung, dass immer noch dieser Begriff existiert und immer noch Gefangene sozusagen separiert oder ausgrenzt. .
G: Aber mit dem Ende der Nazizeit war ja nicht Schluss mit dieser Kategorisierung, mit diesem Schubladen, die Gefangenen in unterschiedliche Kästen wegpacken. Denn die Bundesrepublik hat das ja weitergeführt. Bis in die 70er Jahre waren die Hosen von den Gefangenen mit Streifen versehen. Anhand der Farbe der Streifen kannst du sehen, warum jemand einsitzt.
W: Der Begriff Asozial wurde von Sozialdemokraten und Kommunisten geprägt, der hat quasi überlebt. Auch heute noch, wenn wir die Zeit ein bisschen geändert haben, gibt es offizielle Anerkennung seit zwei Jahren. Anerkennung auch der Menschen, die schwarzen Winkel getragen haben. Aber bis dato, weil der Begriff Asozial hat sich quasi durch die ganzen Jahrzehnte hinweg durchgesetzt Wo die Leute immer noch zum Beispiel nach ihrem Wert der Arbeit, nach ihrem Arbeitswert sozusagen bemessen worden sind. Und so Anfang der 70er Jahre, da war dann eine Zeitenwendung.
Das war eine Aufbruchstimmung. Da sind auch viele Leute aus sogenannten sozialen Bewegungen in Knast eingefahren. Teilweise nur drei oder sechs Monate. Aber die haben sich verhalten wie ganz normale Gefangene. Da war überhaupt kein Gedanke drüber, sie könnten was Elitäres sein. Und Knast war in diesen Bewegungen auch sehr präsent. Ich denke, dass RAF gefangene in die Knäste eingefahren sind, da hat das Ganze gewandelt. Da kam glaube ich genau diese Aufteilung, die wir momentan besprechen, die im Grunde genommen nur langweilt und nur anödet. Aber ich denke, da gab es einen Schnitt, auch in der Gefangenenbewegung. Dass da irgendwo durch diese RAF halt sozusagen, das Avantgarde mit ihrem Kriegsgefangenenstatus, Weigerung der Integration mit den normalen Gefangenen, dass da auch in der Szene irgendwo dann irgendwas umgekippt ist. G: Ja, genau das war nämlich der Schnittpunkt, die zum Beispiel unsere übliche Technikerin festgestellt hat Ja, aber genau diese RAFZeit war genau der Schnittpunkt, sich nicht mehr als Gefangene ins Zentrum zu stellen, wir sind alle Gefangenen, sondern irgendwie zu sagen, es gibt unterschiedliche Klassen von Gefangenen. Auch bei den politischen Klassen, da gibt es dann politische Gefangene 1. Klasse, 2. Klasse. Und dann gab es noch diese sogenannten kämpfenden Gefangenen in deren Ideologie. Wobei ich es typisch fand, also diese sogenannten kämpfenden Gefangenen, das waren halt politisch Engagierte, in deren Terminologie soziale Gefangene. Und die haben sich teilweise den Kämpfen der RAF angeschlossen, wenn die einen Hungerstreik gemacht haben. Umgekehrt haben sich die politischen Gefangenen nie den Kämpfen der kämpfenden Gefangenen angeschlossen
W: Das war immer eine Einbahnstrasse. Das war eine Frage der Ideologie halt. Ich kann mich erinnern, als ich nach Tegel kam, von Moabit nach Tegel, da sass dann auch einer von den RAF Gefangenen irgendwo. Und wir hatten versucht, da so ein bisschen eine kleine, kleine, überschaubare Gruppe aufzubauen. Er hat sich daran nicht beteiligt, weil wir nämlich keine politischen Gefangenen waren. Wir waren dann irgendwie, also abgesehen von mir, waren das irgendwelche Diebe, Eierdiebe und Leute, die auch irgendwo, keine Ahnung, eine Gewalttat begangen haben. Mit denen wollte er nichts zu tun haben, obwohl Gewalttat war soweit okay, wenn das Ganze mit einer politischen Aktion verbunden war. Aber auf jeden Fall hat er sich dann geweigert, mit uns zu reden, weil wir nicht sein Niveau entsprochen haben
G: Ja, das ist genau der Kern unserer Diskussion hier. Wir könnten das ja alles beiseite liegen lassen, wenn es nicht praktische Auswirkungen hat. Weil es steckt immer das Bewusstsein dahinter, ja, wir sind ja anders, wir sind ja die Guten, und denen geschieht es eigentlich zurecht.
W: Aber es heisst im Grunde genommen, gehen wir doch den Sachen mal wirklich auf den Grund, also nehmen wir die Fassade, die wir momentan hier versuchen irgendwie mit aufzubauen oder auch niederzureissen, gehen wir doch wirklich mal hinter die Fassade, und zwar ganz brutal und ganz offen. Leute, die diese Trennung machen, sind für Repression, die sind für Knast, die sind für Justiz, die sind für Strafen. Alle, die nicht ihrer Szene entsprechen können, welche Gefangenen in irgendeinem Sinne sind, sind eigentlich für sie Kriminelle.
G: Ja, Wilfried, wir waren jetzt an einem Punkt stehen geblieben, wo wir sagen, was hat das für konkrete Auswirkungen. Und ich denke, was du zum Schluss gesagt hast. Ja, Leute, die so denken, die sind nicht grundsätzlich gegen den Knast, sondern nur gegen den Knast für bestimmte Leute. Also mir ist im Ohr hängen geblieben bei der Kundgebung vor einigen Wochen gegen eine Zwangsräumung. Also wir haben uns gegen eine Zwangsräumung gewehrt. Und dann hat einer der Redner gesagt, ja, ihr könnt es doch nicht wie Verbrecher behandeln. Also unterschwellig klingt da mit, aber Verbrecher darf man so behandeln.
W: Genau. Klar gibt es auch Verhaltensweisen, die wir, die Antiknastarbeit machen, immer wieder konfrontiert werden mit Gewalttätern, Vergewaltiger und so weiter. Aber was nutzt es mir, wenn ein Vergewaltiger im Knast krepiert, wenn trotzdem weiterhin Patriarchat existiert, weiterhin Sexismus existiert. Und da ist genau die Geschichte, die ich dann auch den Leuten, die diese Gefangenen-Symbolik da rumtragen, wirklich auch immer wieder wiederholen muss. Ihr verkörpert ein bestimmtes System, was wir eigentlich alle bekämpfen. Ein System der Repression, der Unterdrückung, der Ausgrenzung. Und indem ihr diese Trennung macht, stabilisiert und unterstützt ihr das System auch.
G: Ja, ich denke mal, das hat eben auch viel mit diesem Schubladendenken und Einigeln draussen zu tun. Also viele Leute, die wir, ich sag mal so, als Linke bezeichnen, wobei ich mit dem Begriff Links total Schwierigkeiten habe, weil es ein Sammelsurium von unterschiedlich engagierten Leuten ist. Genau, die nach dem Begriff Linke inzwischen sehr infrage stellen. Die kann man wirklich sehr bezweifeln, also wirklich anzweifeln. Aber viele von diesen Leuten haben eben auch die Tendenz, sich einzuigeln, sich in ihren Gruppen zu isolieren. Zu sagen, ja, wir sind die, die den Durchblick haben. Und die anderen, die Hartz-IV-Empfänger*innen oder so, die wählen sowieso alle AfD oder in bestimmten Stadtteilen. Da brauchst du nicht hingehen, Flugblätter oder sonst was verteilen, weil die sind sowieso ganz anders drauf. Und so konzentriert sich viel von dem politischen Engagement halt auf das eigene Zirkel
W: Genau, also wie du gerade sagst, das ist wirklich dann meist noch von, wenn man die betrachtet heute, die Sozialisation, ist es meistens halt nur weisse BürgerInnen-Schicht oder so. Das eben, jetzt mal da weiterzuspielen die Gedanken, du hast die 70er-Jahre erwähnt, 70er-Jahre waren geprägt davon, irgendeiner von uns war immer im Knast. Weil die Kämpfe, die waren viel gestaltiger, die hatten jede Menge Baustellen, da waren soziale Kämpfe und da gab es keine Unterscheidungen. Die Leute waren einfach, die kämpften halt, die haben nicht gefragt, woher du kommst oder was du bist, sondern die haben gekämpft. Und da war immer eine im Knast, wegen irgendetwas. Und da war die Solidarität und die Horizontalität viel deutlicher, als es heute war. Und es kam dann zu einer Art Intellektualisierung irgendwie dann, dass Leute immer mehr, diese Aktivisten, immer aus einer bestimmten weissen Schicht gekommen sind, so ein bisschen privilegiert waren , die den Ton angeben, die es gelernt haben, auch die entsprechenden Medien zu bedienen, die es gelernt haben zu reden, die es gelernt haben auch irgendwie Diskussionen die Oberhand zu behalten, während wir, ich sag mal ganz generell wir, sozusagen die Subproletarier oder die Gefangenen, eigentlich nur drauf erpicht waren, wie können wir versuchen Widerstand zu leisten, ohne es da irgendwo besonders gut ausdrücken zu können oder besonders gut Netzwerke knüpfen zu können. Und das ist, glaube ich, der Punkt, der immer noch da ist. Es gibt den Begriff Klassismus, der ist auch geprägt worden von Akademikern, aber der gibt es im Grunde noch ein bisschen wieder, dass immer noch so eine Art Hierarchie-Denken da ist, dass immer noch gesagt wird, ja, von gebildeten Leute, ihr braucht Bildung, ihr braucht das und jenes. Dabei habe ich Leute kennengelernt, die waren von der offiziellen Bildung weit entfernt. Es waren aber geradlinige, direkte und kämpferische Leute.
G: Wilfried, ich find's auch immer komisch, wenn in politischen Prozessen von Klassenjustiz gesprochen wird. Weil ich hab einen anderen Begriff von Klassenjustiz. Weil die politischen Prozesse, die zeichnen sich eigentlich dadurch aus, dass in der Regel alle Beteiligten aus der Mittelschicht kommen. Das heisst, die kommen aus einer Klasse. Der Richter, der Staatsanwalt, der Rechtsanwalt, der Angeklagte. Also die Politiker und Politikerinnen, die die Gesetze gemacht haben. Alles aus der eigenen Klasse. Also es ist kein Klassenkampf. Der Klassenkampf, der spielt sich in anderen Verfahren ab. Der spielt sich ab, wenn es um Ladendiebstahl geht, um Schwarzfahren, um Einbrüche, um kleine Klauereien. Da spielt sich der Klassenkampf ab. Aber das sind politische Prozesse und das andere ist Klassenjustiz. Und das muss man schon auch trennen. Und wenn man das leider so unzulässig miteinander verwischt, dann ist das verwirrend.
W: Guck dir das mal genau an, du sagst gerade von wegen Ladendiebstahl usw. In der momentanen aktuellen Situation, wo die Preise an Lebensmitteln immer weiter ansteigen, wo die Preise zum Teil über die Hälfte angestiegen sind pro Produkt, dann finden immer mehr, was ich ja vollkommen okay finde, wirklich dann auch sogenannte Ladendiebstähle in Anführungszeichen statt, weil die Menschen sonst nichts zu essen haben, weil die sonst irgendwie Hunger haben oder sonst irgendwas, weil einfach der entsprechende Gegenwert nicht da ist. Aber das wird dann in der Regel gar nicht so wahrgenommen. Ein politischer Kampf ist ein politischer Kampf, weil die Politik heisst in dem Fall, dass Konzerne ihre Preise doppelt, dreifach erhöhen, dass mit den Mitteln spekuliert wird an der Börse und an die Millionen nachher gar nicht gedacht wird, die vielleicht darunter leiden können. Das machen die Millionen, die klauen, in Anführung. Ist nicht politisch genug für die Fahnenträger*innen, ist nicht legitim, ist nicht unterstützungswert, wird nicht so wahrgenommen von aussen, auch nicht so angenommen von aussen, als wenn es eine politische Aktion wäre oder so.
G: Also ich gehe da mal zum Ausgang zurück zu der Frage, ob ich denn politisch oder sozial sei. Also ich sage mal so, politisch sind alle in den Parlamenten. Ob sie sozial sind, das möchte ich jetzt zumindest behaupten, bei allen würde ich auf gar keinen Fall sagen. Also da mag es einzelne geben, aber ich würde sagen, politische sind grundsätzlich nicht sozial.
W: Ja, genau. Weil das System, in dem wir leben, kann gar nicht anders sein, als dass wir es bekämpfen müssen und das eben mit Mitteln, die vielleicht politisch genannt werden, weil die Politik die Systeme auch rundherum bestimmt. Das ist im Grunde um 24 Stunden lang in jeder Sparte in dem Bereich ist es politisch. Also im Grunde, wenn wir uns dagegen wehren, auch Alternativen aufzeigen, sind wir in dem Sinne politisch. Man kann auch sagen, wir sind sozial, aber das System, das wir leben, ist nicht sozial. Das ist antisozial. Und da kann man vielleicht sagen, okay, weil wir uns sozial verhalten, also gemeinschaftlich verhalten, gegenseitige Hilfe und so weiter, sind wir sozial. Ich denke, wir können uns auch einigen, dass wir alle politisch gefangen sind. Drinnen wie draussen.
G: Ja, das ist sehr gut, wenn man so ein spannendes Thema hat. Aber ich sag jetzt mal, ich persönlich bezeichne mich ja nicht so als Teil von einer politischen Bewegung. Ich bezeichne mich lieber als Teil von einer sozialen Bewegung. Weil politische Bewegungen, die AfD ist eine politische Bewegung, ist aber keine soziale Bewegung.
W: Da müssen wir dann genau trennen zwischen Politik und Sozial. Dann ist alles, was wir bekämpfen, ist Politik. Und alles, wofür wir einstehen ist sozial.
G: Ja, das finde ich auch. Aber wie kommen wir aus diesem Schlamassel raus? Wie kommen wir dazu, dass wir mehr Leute davon überzeugen, dass diese Trennung, die ja spalterisch ist, also diese Begrifflichkeit, ist ja nicht nur die Begrifflichkeit, sondern man will sich ja abgrenzen. Wir sind die Guten, das sind die Schlechten.
W: Und es kam dann zu einer Art Intellektualisierung irgendwie dann, dass Leute immer mehr, diese Aktivisten, immer aus einer bestimmten weissen Schicht gekommen sind, so ein bisschen privilegiert waren , die den Ton angeben, die es gelernt haben, auch die entsprechenden Medien zu bedienen, die es gelernt haben zu reden, die es gelernt haben auch irgendwie Diskussionen die Oberhand zu behalten, während wir, ich sag mal ganz generell wir, sozusagen die Subproletarier oder die Gefangenen, eigentlich nur drauf erpicht waren, wie können wir versuchen Widerstand zu leisten, ohne es da irgendwo besonders gut ausdrücken zu können oder besonders gut Netzwerke knüpfen zu können. Und das ist, glaube ich, der Punkt, der immer noch da ist. Es gibt den Begriff Klassismus, der ist auch geprägt worden von Akademikern, aber der gibt es im Grunde noch ein bisschen wieder, dass immer noch so eine Art Hierarchie-Denken da ist, dass immer noch gesagt wird, ja, von gebildeten Leute, ihr braucht Bildung, ihr braucht das und jenes. Dabei habe ich Leute kennengelernt, die waren von der offiziellen Bildung weit entfernt. Es waren aber geradlinige, direkte und kämpferische Leute.
G: Wilfried, ich find's auch immer komisch, wenn in politischen Prozessen von Klassenjustiz gesprochen wird. Weil ich hab einen anderen Begriff von Klassenjustiz. Weil die politischen Prozesse, die zeichnen sich eigentlich dadurch aus, dass in der Regel alle Beteiligten aus der Mittelschicht kommen. Das heisst, die kommen aus einer Klasse. Der Richter, der Staatsanwalt, der Rechtsanwalt, der Angeklagte. Also die Politiker und Politikerinnen, die die Gesetze gemacht haben. Alles aus der eigenen Klasse. Also es ist kein Klassenkampf. Der Klassenkampf, der spielt sich in anderen Verfahren ab. Der spielt sich ab, wenn es um Ladendiebstahl geht, um Schwarzfahren, um Einbrüche, um kleine Klauereien. Da spielt sich der Klassenkampf ab. Aber das sind politische Prozesse und das andere ist Klassenjustiz. Und das muss man schon auch trennen. Und wenn man das leider so unzulässig miteinander verwischt, dann ist das verwirrend.
W: Guck dir das mal genau an, du sagst gerade von wegen Ladendiebstahl usw. In der momentanen aktuellen Situation, wo die Preise an Lebensmitteln immer weiter ansteigen, wo die Preise zum Teil über die Hälfte angestiegen sind pro Produkt, dann finden immer mehr, was ich ja vollkommen okay finde, wirklich dann auch sogenannte Ladendiebstähle in Anführungszeichen statt, weil die Menschen sonst nichts zu essen haben, weil die sonst irgendwie Hunger haben oder sonst irgendwas, weil einfach der entsprechende Gegenwert nicht da ist. Aber das wird dann in der Regel gar nicht so wahrgenommen. Ein politischer Kampf ist ein politischer Kampf, weil die Politik heisst in dem Fall, dass Konzerne ihre Preise doppelt, dreifach erhöhen, dass mit den Mitteln spekuliert wird an der Börse und an die Millionen nachher gar nicht gedacht wird, die vielleicht darunter leiden können. Das machen die Millionen, die klauen, in Anführung. Ist nicht politisch genug für die Fahnenträger*innen, ist nicht legitim, ist nicht unterstützungswert, wird nicht so wahrgenommen von aussen, auch nicht so angenommen von aussen, als wenn es eine politische Aktion wäre oder so.
G: Also ich gehe da mal zum Ausgang zurück zu der Frage, ob ich denn politisch oder sozial sei. Also ich sage mal so, politisch sind alle in den Parlamenten. Ob sie sozial sind, das möchte ich jetzt zumindest behaupten, bei allen würde ich auf gar keinen Fall sagen. Also da mag es einzelne geben, aber ich würde sagen, politische sind grundsätzlich nicht sozial.
W: Ja, genau. Weil das System, in dem wir leben, kann gar nicht anders sein, als dass wir es bekämpfen müssen und das eben mit Mitteln, die vielleicht politisch genannt werden, weil die Politik die Systeme auch rundherum bestimmt. Das ist im Grunde um 24 Stunden lang in jeder Sparte in dem Bereich ist es politisch. Also im Grunde, wenn wir uns dagegen wehren, auch Alternativen aufzeigen, sind wir in dem Sinne politisch. Man kann auch sagen, wir sind sozial, aber das System, das wir leben, ist nicht sozial. Das ist antisozial. Und da kann man vielleicht sagen, okay, weil wir uns sozial verhalten, also gemeinschaftlich verhalten, gegenseitige Hilfe und so weiter, sind wir sozial. Ich denke, wir können uns auch einigen, dass wir alle politisch gefangen sind. Drinnen wie draussen.
G: Ja, das ist sehr gut, wenn man so ein spannendes Thema hat. Aber ich sag jetzt mal, ich persönlich bezeichne mich ja nicht so als Teil von einer politischen Bewegung. Ich bezeichne mich lieber als Teil von einer sozialen Bewegung. Weil politische Bewegungen, die AfD ist eine politische Bewegung, ist aber keine soziale Bewegung.
W: Da müssen wir dann genau trennen zwischen Politik und Sozial. Dann ist alles, was wir bekämpfen, ist Politik. Und alles, wofür wir einstehen ist sozial.
G: Ja, das finde ich auch. Aber wie kommen wir aus diesem Schlamassel raus? Wie kommen wir dazu, dass wir mehr Leute davon überzeugen, dass diese Trennung, die ja spalterisch ist, also diese Begrifflichkeit, ist ja nicht nur die Begrifflichkeit, sondern man will sich ja abgrenzen. Wir sind die Guten, das sind die Schlechten.
Quelle: https://digitalresist.blogspot.com/2025/07/die-odnis-der-trennung-zwischen-den.html
Anmerkungen:
- Das Thema hat viel mit dem jeder Politischen Ausrichtung zugrunde liegenden Menschenbild zu tun, was stets zu reflektieren wäre, bevor sich mensch in politische Arbeit stürzt.
- Wem die Kennzeichnung durch "schwarze" oder "grüne" Winkel in den KZs nichts sagt oder wer die problematische Nutzung und Etablierung des Begriffs "asozial" auch durch "Linke" (hier SPD + KPD) nicht kennt, sei auf folgende Artikel hingewiesen:
https://www.spiegel.de/geschichte/vergessene-ns-opfer-niemand-sass-zu-recht-im-kz-das-ist-jetzt-amtlich-a-06ea3a2d-eacb-4019-956f-f97ec0bb7fa7
https://www.die-linke-schwabach-roth.de/geschichte/vergessene-ns-opfergruppen-asoziale-und-berufsverbrecher/
- Die VVN-BdA hat erst vor wenigen Jahren mit einer Selbstkritik ihrer Ausgrenzungspolitik im postfaschistischen Deutschland begonnen, z.B. https://antifa.vvn-bda.de/2017/09/24/als-asoziale-abgestempelt/, https://antifa.vvn-bda.de/2013/09/05/stigma-asozial/ oder https://antifa.vvn-bda.de/2023/01/07/aus-dem-raster-gefallen/. Eine tiefergehende politische und v.a. selbstkritische Analyse der VVN fehlt mir bis heute.
Anmerkungen:
- Das Thema hat viel mit dem jeder Politischen Ausrichtung zugrunde liegenden Menschenbild zu tun, was stets zu reflektieren wäre, bevor sich mensch in politische Arbeit stürzt.
- Wem die Kennzeichnung durch "schwarze" oder "grüne" Winkel in den KZs nichts sagt oder wer die problematische Nutzung und Etablierung des Begriffs "asozial" auch durch "Linke" (hier SPD + KPD) nicht kennt, sei auf folgende Artikel hingewiesen:
https://www.spiegel.de/geschichte/vergessene-ns-opfer-niemand-sass-zu-recht-im-kz-das-ist-jetzt-amtlich-a-06ea3a2d-eacb-4019-956f-f97ec0bb7fa7
https://www.die-linke-schwabach-roth.de/geschichte/vergessene-ns-opfergruppen-asoziale-und-berufsverbrecher/
- Die VVN-BdA hat erst vor wenigen Jahren mit einer Selbstkritik ihrer Ausgrenzungspolitik im postfaschistischen Deutschland begonnen, z.B. https://antifa.vvn-bda.de/2017/09/24/als-asoziale-abgestempelt/, https://antifa.vvn-bda.de/2013/09/05/stigma-asozial/ oder https://antifa.vvn-bda.de/2023/01/07/aus-dem-raster-gefallen/. Eine tiefergehende politische und v.a. selbstkritische Analyse der VVN fehlt mir bis heute.