Und wenn das kippt? Deutschland: Kritik an Israel und der Vorwurf des Antisemitismus

Politik

Auch angesichts des in Realzeit übertragenen genozidalen Krieges gegen die Bevölkerung in Gaza kann nichts den deutschen pro-israelischen Fanatismus[1] ins Wanken bringen, kein Argument und keine menschliche Regung.

Israelische Soldaten im Gaza Streifen, März 2024.
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Israelische Soldaten im Gaza Streifen, März 2024. Foto: IDF Spokesperson Unit (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

2. April 2024
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Eine solche Unbedingtheit – über jeden Zweifel erhaben, somit unreflektiert – kann auch kippen.

Als ich neulich las, dass Alfred Grosser gestorben ist – am 7. Februar diesen Jahres – dachte ich daran zurück, wie ich ihn vor annähernd 20 Jahren „entdeckt“ hatte, überrascht und beeindruckt. Ich gestehe, der französische Historiker, Journalist, Autor zahlreicher Werke über die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich nach 1945 war für mich in jungen Jahren jemand, der zum „Establishment“ gehörte und mich nicht besonders interessierte.

Damals, 2005, machte mich ein Kollege auf das Protokoll einer Sitzung aufmerksam zu der Vertreter*innen aller Bundestagsparteien eingeladen hatten. Einer der Geladenen war Alfred Grosser.

Es handelte sich um eine Sitzung, bei der darüber beraten wurde, wie die Beschlüsse umzusetzen seien, die auf einer vorausgegangenen Berliner Antisemitismus-Konferenz gefasst worden waren. Diese wiederum war Teil einer europäischen Kampagne (die ähnlich auch in den USA in Gang gekommen war, angeregt durch Israel bzw. seine Hasbara[2]). Diese Zusammenhänge ahnte ich damals noch nicht, hielt jedenfalls das Unterfangen, womöglich zunehmenden Antisemitismus ernst zu nehmen und über Gegenmassnahmen nachzudenken, selbstverständlich für legitim.

Ich ahnte auch nicht, dass es der Beginn jener Entwicklung war, die in Deutschland seither jede klärende, rationale Unterhaltung darüber, was antisemitisch ist und was nicht, ebenso wie eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik Israels gegenüber den Palästinenser*innen verunmöglicht, und das, obwohl Israel ein enger Partner (diplomatisch, wirtschaftlich, militärisch, kulturell) ist und nicht irgendein Land „weit weg“, Deutschland also in diesem Zusammenhang besondere Verantwortung trägt.

Wie gesagt, von diesen Zusammenhängen und dieser Entwicklung ahnte ich vor 20 Jahren noch nichts. Nur so viel realisierte ich: Jenes Protokoll einer Ausschusssitzung war bizarr. Erschreckend. Ich konnte es mir eigentlich nur als eine punktuelle Entgleisung deutscher Parlamentarier*innen, von Beamt*innen aus dem Innen- und dem Aussenministerium und fragwürdiger deutscher „Expert*innen“ vorstellen. Diese schienen sich parteienübergreifend darin einig zu sein, die aus dem Ausland eingeladene Gäste Alfred Grosser und Brian Klug in grotesker Weise, jenseits jeglicher Minimalgebote des Anstands attackieren bzw. den letztgenannten übergehen zu dürfen, als wäre er gar nicht da.

Es ist ganz anders gekommen. Was ich in jenem Protokoll kopfschüttelnd las, war nichts Punktuelles. Es ist deutsche Normalität geworden. Es wird von einer Flut (deutscher) wissenschaftlicher Arbeiten, Papers, von Forschungsaufträgen, Regierungs- und NGO-Kampagnen zur „Bekämpfung jeden Antisemitismus“ unablässig genährt, wobei man immer Gleiches formelhaft wiederholt.

Angesichts dieser Ungeheuerlichkeit fing ich in den Jahren seit damals an, Essays zu schreiben, zunächst ohne an Veröffentlichung zu denken. Es war meine Form, dem Wahnsinn, der in Deutschland zur Normalität wurde, auf den Grund zu gehen.

Im ersten Essay, ausgelöst durch die Lektüre jenes Sitzungsprotokolls, schrieb ich unter anderem: „Ein (seinerzeit hierzulande wenig bekannter) Philosoph aus Oxford, dessen Forschungsschwerpunkt das Vorurteil ist, auch das gegen Jüdinnen und Juden, ist eingeladen, den Begriff vom ‚Existenzrecht Israels' zu erläutern und der Frage nachzugehen, ob es antisemitisch sei, das Recht Israels auf Existenz zu verneinen. Zunächst klopft er den Begriff vom ‚Existenzrecht Israels' ab, das ‚Existenzrecht' eines Staates, und lotet aus, was der Begriff besagen oder bedeuten könnte, um die gemeinsame Grundlage des Gesprächs zu umreissen: Wovon sprechen wir eigentlich? Bei näherer Begriffsbesichtigung erweist sich die Unklarheit des Begriffs. Es stellt sich heraus, dass es gedanklich nicht nachvollziehbar ist, wie etwas Existierendes ein Recht auf Existenz haben kann, das ihm auch abgesprochen werden könnte. Die Verneinung des ‚Existenzrechts Israels', wie man es auch verstehen mag, lässt sich jedenfalls laut dem Philosophen aus Grossbritannien nicht mit Antisemitismus in Verbindung bringen. Selbstverständlich könne man das So-Sein eines jeden Staates kritisieren, also seine Verfasstheit oder seine Politik sehr grundsätzlich in Frage stellen oder mehr oder weniger scharf kritisieren. Auch eine solche Kritik kann wiederum kritisiert und möglicherweise zurückgewiesen werden. Aber sein Recht zu existieren? Keinem Staat dieser Welt spricht man es zu oder ab, weil das schlicht keinen Sinn macht.[3]

Nach seinem Input stellt ihm keiner der Anwesenden eine Frage oder richtet das Wort an ihn. Ein namhafter deutscher ‚Experte' in Sachen Antisemitismus redet lediglich über ihn und von etwas anderem: Der Professor aus England verkenne ‚den Vernichtungswillen der Hamas'.

Ein ebenfalls geladener bekannter deutsch-französischer Intellektueller beantwortet aus seiner Sicht die Frage, was es heisse, Israel zu kritisieren, da die Abgrenzung von einer solchen Kritik und Antisemitismus Thema der Anhörung sei. Er stellt fest, es gehe nicht nur um die Politik Israels, es gehe um Verbrechen, und er begründet seinen kritischen Blick mit seinem jüdischen Hintergrund, wie er sein kritisches Engagement während des Algerienkrieges mit seiner französischen und sein kritisches Engagement gegenüber Nachkriegsdeutschland mit seiner deutschen Herkunft und seinen republikanischen Überzeugungen begründet habe. Diese hätten ihm geboten sich einzumischen, als die Bundesrepublik von demokratischen Prinzipien abzuweichen drohte wie zu Zeiten der Berufsverbote. Schliesslich wirft er die Frage auf, was Juden gegen Antisemitismus tun könnten und stellt fest, es fördere den Antisemitismus, wenn man nicht zugleich (mit dem Kampf gegen Antisemitismus) andere Rassismen bekämpfe. In diesem Zusammenhang macht er dem Zentralrat der Juden den Vorwurf, sich zu wenig für diejenigen einzusetzen, die in Deutschland heute unter Rassismus zu leiden hätten.

Ein deutscher Experte und ein geladener israelischer Abgeordneter äussern sich ‚befremdet' darüber, dass man diese Positionen überhaupt zur Diskussion stelle, und befinden, der Referent gehöre ‚normalerweise nicht in diese Runde' – ohne mit einem Wort inhaltlich auf seine Aussagen einzugehen.

Ein paar Jahre nachdem ich das Protokoll dieser Veranstaltung gelesen hatte, lernte ich den Professor aus Oxford kennen und sprach ihn auf die Anhörung an. Er erinnerte sich: Sowas habe er überhaupt noch nie – und glücklicherweise auch nie wieder erlebt: Nach seinem Beitrag habe kein Mensch mehr mit ihm gesprochen! Oder ihn auch nur angesehen. Gespenstisch. Es war ganz offensichtlich, dass beide geladenen Referenten auf unterschiedliche Art nicht den Erwartungen entsprochen hatten, die man mit der Einladung an sie verbunden hatte.

Der eine war eingeladen worden, um zu bestätigen: Israels Existenzrecht steht ausser Frage, und es zu leugnen ist antisemitisch. Ein deutscher ‚Antisemitismus-Experte' sprach aus, was man zudem von dem Gelehrten aus Oxford zumindest implizit unterschrieben haben wollte: Die Hamas stellt das Existenzrecht Israels in Frage, ist somit antisemitisch. Und schliesslich: Ein Zeuge oder am besten zwei sollten für eine weitere der bereits feststehenden Thesen des Gremiums aussagen: dass der ‚neue Antisemitismus' von ‚da draussen' kommt, nichts mehr mit uns (Deutschen oder Europäer*innen) zu tun hat, wir ihn vielmehr – anders als einst – bekämpfen, und zwar, indem wir für das ‚Existenzrecht' Israels einstehen.

Dass der Philosoph aus Oxford stattdessen den Begriff vom ‚Existenzrecht Israels' abklopfte und fragte, was heisst das genau? – hatte niemand erwartet von einem jüdischen Gelehrten, der das Unfassbare noch weiter trieb, indem er zwischen einer Verneinung dieses – wie auch immer, jedenfalls kaum tatsächlich zu verstehenden – ‚Existenzrechts Israels' und Antisemitismus keinen Zusammenhang feststellen konnte.

Der britische Gast verblüffte und verunsicherte die (ganz überwiegend) deutsche Versammlung, weil er vollkommen sachlich und text- oder begriffsimmanent argumentierte, woraus sich ergab, dass das Gebäude von Argumentationsversatzstücken und Annahmen, in dem sich die Zuhörer*innen behaglich eingerichtet hatten, möglicherweise auf Sand gebaut war. Das schien ihnen gedanklich und emotional unerträglich. In solchen Fällen bleibt als Ausweg nur noch: ignorieren oder in einer Art Übersprunghandlung von etwas anderem, in dem Fall der Hamas und deren ‚Vernichtungswillen' zu reden.

Der andere Referent bezog sich auf grössere historische bzw. zeitgeschichtliche Zusammenhänge und wie er sich in ihnen orientiere und seine Rolle und Verantwortung sehe. Er sprach sehr persönlich, man könnte sagen, leidenschaftlich. Dabei schien er davon auszugehen, dass nicht unbedingt jede*r in diesem Gremium zustimmen mochte, seinem Gedankengang aber folgen und ihn zumindest respektieren würde, wenn er darlegte, dass etwa seine biographische Verbundenheit mit Frankreich sein Engagement gegen dessen Kolonialverbrechen motiviert hätten und sein jüdischer Hintergrund seine entschieden kritische Stellungnahme zu dem, was er als Verbrechen Israels bezeichnete, die es im Namen der Juden begehe.

Doch auch er war eingeladen worden, um ein bereits zuvor feststehendes Ergebnis der Anhörung zu bestätigen und durchaus nicht, wie er vermutlich annahm, um seine Einsichten oder Gedanken zu Gehör zu bringen. Vielmehr sollte er bescheinigen, dass Kritik an Israel wahrscheinlich in den meisten Fällen antisemitisch motiviert sei.

Ganz sicher hatte das Gremium nicht erwartet, dass dieser jüdische Referent eine der Grundannahmen der deutschen (nicht-jüdischen) Gastgeber*innen in Frage stellen würde, dass nämlich Antisemitismus das Problem schlechthin sei, andere Formen des Vorurteils, der Ausgrenzung und Diskriminierung dagegen zweitrangig und ganz sicher nicht etwas, worum sich ausgerechnet Jüdinnen und Juden zu kümmern hätten. Doch genau das hatte er gesagt: Gerade die jüdischen Gemeinden hätten eine Verantwortung, gegen den antimuslimischen Rassismus in Europa aufzustehen, und die deutsche jüdische Gemeinde vernachlässige dies.

Er, der seine persönlichen Beweggründe als deutsch-französischer Jude mit ‚republikanischen' Grundüberzeugungen offengelegt hatte, bekam den ganzen Zorn der enttäuschten deutschen Gastgeber ab, während sein britischer Kollege sie durch sein, wie es schien, leidenschaftsloses Ausloten der Frage, was bestimmte Begrifflichkeiten überhaupt besagen, in vollkommener Ratlosigkeit zurückliess, ein Zustand, aus dem heraus ein Angriff schwer möglich ist. Stattdessen betretenes Schweigen.“

Während ich all das schreibend auslotete, kam mir ein Gedanke, bei dem ich tief erschrak: Zwei Fachleute waren nicht als solche, aufgrund ihrer Kompetenz in einer zu untersuchenden Angelegenheit geladen worden – sie waren als Juden eingeladen worden. Von ihnen als Juden erwarteten sich die deutschen Parlamentarier*innen, dass sie bestätigen würden, was jene von ihnen hören wollten. Die so Instrumentalisierten erwiesen sich als untauglich. Da gab es für sie nur noch Verachtung.

Mich beschlich damals zum ersten Mal der Gedanke: Und wenn das kippt?

Wenn die von den Deutschen imaginierten „Juden“ sich als nicht der Projektion entsprechend erweisen? Oder wenn sich die Verhältnisse ändern und es für die eigenen Interessen nicht mehr taugt, um diese „Juden“ und „ihren“ Staat herum die eigene grandiose Identität zu konstruieren? Wenn man sie eines Tages besser fallen lässt?

Sophia Deeg

Fussnoten:

[1] https://www.972mag.com/germany-israel-palestine-solidarity-repression/

[2] „hasbara“ (Hebr.) = „Erklärung“, Terminus für die staatliche israelische Kommunikationsstrategie, Öffentlichkeitsarbeit, Propaganda. In meinen Augen ist es normal, dass, so wie die Welt der konkurrierenden Staaten beschaffen ist, diese alle, mehr oder weniger massiv, mehr oder weniger propagandistisch PR betreiben, um die Gesellschaften anderer Staaten zu beeinflussen, dort Präsenz zu zeigen, z.B. in Form von Kulturinstituten oder von Radio- oder Fernsehsendern oder von Lobby-Organisationen. Das ist also keine Besonderheit Israels.

[3] Mehr dazu: https://mondoweiss.net/2011/09/on-saying-that-israel-has-a-right-to-exist/; oder auch: https://newrepublic.com/article/177768/israel-right-to-exist-rhetorical-trap