Das „linke“, „kritische“ Gerede über den Abbau von elementaren Grundrechten Wer hat Angst vorm Virus?

Politik

Warum delektieren sich unbestechliche Kritiker:innen "des Ganzen" an der kaum haltbaren These, delektieren, Angst vor dem Virus werde eigens geschürt, um das staatsgläubige "Volk" besser beherrschen und fundamentaler Rechte berauben zu können? Was treibt sie um?

COVID-19 Signet, aufgenommen in Berlin, Mai 2020.
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COVID-19 Signet, aufgenommen in Berlin, Mai 2020. Foto: image_author

31. August 2021
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Seit das Corona-Virus in Deutschland angekommen und die Debatten darüber, wie es einzuschätzen und wie ihm zu begegnen sei, nicht verstummt sind, also seit dem Frühjahr 2020, versteifen sich besonders linke und libertäre Kritiker*innen auf die Behauptung, die Regierenden „nutzten“ Corona, um mittels der von ihnen in diesem Kontext geschürten Angst ihre Absichten durchzusetzen, v.a. indem unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung elementare Rechte, womöglich auf unabsehbare Zeit, beschnitten würden. Was lässt insbesondere Leute, die sich als besonders kritisch und unabhängig denkend begreifen, so beharrlich an dieser These festhalten, für die, auf Deutschland bezogen, nichts spricht?

Die Regierenden, so dieser Diskurs, schürten also gemeinsam mit den ihnen ergebenen Medien und den offenbar ebenfalls dem Regierungswillen vorauseilenden „Expert*innen“, „der Wissenschaft“ (die in diesem Kontext zur „Religion“ erhoben werde), die Angst der Bevölkerung, indem sie das Schreckensszenario vor einem lebensbedrohlichen Virus befeuerten, das sich rasant und schwer kontrollierbar verbreite und gegen das noch kein Kraut gewachsen sei. Systematisch werde dabei gegen ein wissenschaftliches Grundprinzip verstossen, das fordere, Zahlen, etwa Todesraten, in ein Verhältnis zu anderen Faktoren zu setzen.

Diese Behauptung von einer geschürten, von oben erzeugten Angst hat Implikationen: 1. Diese Angst ist festzustellen. 2. Sie ist unbegründet, zumindest übertrieben; denn das Virus ist nicht, allenfalls in überschaubaren Ausnahmefällen, lebensbedrohlich. 2. Es verbreitet sich, wenn ungehindert, nicht exponentiell, und seine Verbreitung lässt sich leicht unter Kontrolle bringen (oder auch: Die in absehbarer Zeit zu erwartende Herdenimmunität wird es schon richten). 3. Man – die Medizin, das Gesundheitssystem – ist jederzeit in der Lage, die wenigen durch das Virus schwer Erkrankten ausreichend zu behandeln. 4. Wie bei einer normalen Grippe bedarf es keiner besonderen Massnahmen, um sich zu schützen – und überhaupt, warum sollte kein Kraut gegen dieses Virus gewachsen sein? 5. Die Bevölkerung ist jedoch völlig kopflos, panisch durch die von den Regierenden geschürte Angst.

Nun kann sich jede*r selbst fragen, ob sie*er bei 2. - 4. zustimmend nickt: Ja, so ist es. Mit diesem Abnicken werden en passant die mehr als 4 Millionen im Zusammenhang mit dem Covid19 Verstorbenen mit abgenickt, die es in Ländern vor allem des Globalen Südens und in den Sperrzonen des Globalen Nordens gab und gibt, wo Regierende, Mächtige, Verantwortliche ihr Handeln nach dem in (in 2. – 4.) skizzierten Verharmlosungsschema ausrichten oder ausgerichtet haben: so in Indien, in den Favelas Brasiliens, unter den POC in den USA, in den Lagern der Fliehenden und Geflüchteten in Europa und an seinen Grenzen…

Manche derjenigen, die in jeder Hinsicht abgesichert sind und Zugang zu einer ordentlichen Gesundheitsversorgung haben, vergessen also diese Opfer (und ich rede hier nur von den Todesopfern) der Pandemie bzw. von Regierungshandeln oder Nicht-Handeln. Sie verlieren aus dem Auge oder weigern sich, ins Auge zu fassen, von was für einem unverschämt privilegierten Standpunkt aus sie sprechen. Dabei besteht die Unverschämtheit darin, dass das Privileg (für das sie/wir nichts können) manche von uns blind macht für diejenigen, die Mehrheit auf dieser Welt, die, wie wir sehr wohl wissen (können), nicht wie sie/wir diese Privilegien geniesst. Privilegien als Vorrechte sind aber eigentlich ungeniessbar.

Es ist bezeichnend, dass etwa die Zapatist*innen, die sich von keiner Regierung gängeln lassen, aber auch von keinem staatlichen Gesundheitssystem auch nur die geringste Fürsorge zu erwarten haben, anders als Gescheiten im Globalen Norden, sehr wohl wissen, dass die Epidemie für Menschen in ihrer Lage nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist. Daher haben sie sich für Präventionsmassnahmen entschieden, wie sie in ihrer Verlautbarung vom Oktober 2020 (Ein Gebirge auf hoher See) ausführlich erklären.

Die präventiven Massnahmen, für die sie sich nach Konsultation mit solidarischen Wissenschaftler*innen entschieden haben, ähneln denen in Deutschland angewandten, die als Quatsch und unerträgliche Beeinträchtigung von rechten wie linken Kritiker*innen abgelehnt werden: Masken, Abstand halten zwischen Personen, Vermeiden direkter Kontakte mit urbanen Zonen, 15-tägige Quarantäne für jemanden, der möglicherweise in Kontakt war mit einer infizierten Person, häufiges Händewaschen.

Trotz der Anwendung dieser Massnahmen heisst es weiter, sind dennoch drei Kamerad*innen gestorben, nachdem sie zwei oder mehr der mit Covid19 verbundenen Symptome gezeigt hatten. Acht weitere mit jeweils nur einem der typischen Symptome verstarben ebenfalls im Verlauf dieses Zeitraums. „Für diese zwölf Tode sind wir verantwortlich“, schreiben die Zapatist*innen, sie hätten noch sorgsamer sein müssen. Ihre Konsequenz: eine Verbesserung der Präventionsmassnahmen. Selbstverständlich nicht von irgendeinem „Oben“ dekretiert, das sie mit Angst gefügig gemacht hätte, sondern in einem gemeinsamen Lernprozess unter Einbeziehung wissenschaftlicher Ratgeber*innen entwickelt und beschlossen.

Aus Chiapas zurück nach Deutschland.

Das „linke“, „kritische“ Gerede von der Angst ist schlicht nicht nachvollziehbar, nachdem in Deutschland kaum jemand Angst vor der Pandemie zu haben braucht. Es war und ist, wie mir scheint, den meisten Menschen in Deutschland – dank der jeder und jedem zugänglichen Informationen, einschliesslich jeder Menge sinniger und unsinniger Kritik am Regierungshandeln und an von Expert*innen-Seite geäusserten unterschiedlichen Hypothesen – möglich, sich zu orientieren. Wie fast alle Menschen, denen ich begegne, habe ich die Möglichkeit, die Gefahr – für die meisten von uns dank unserer privilegierten Situation, keine dramatische (s.o.) – sowie auch Sinn oder Unsinn von Empfehlungen oder einschränkenden Massnahmen staatlicherseits einzuschätzen. Daher hat kaum jemand Angst, Panik, die kopflos, verwirrt, unterwürfig machen würde.

Auch zu den von den Regierenden (in Deutschland) ergriffenen Massnahmen, sehr weitgehend in Form von Ratschlägen, und weniger von Anordnungen, deren Einhaltung überprüft und deren Nichteinhaltung geahndet würde, kann ich mich selbstbestimmt verhalten – selbstbestimmter als zur Strassenverkehrsordnung. D.h. ich prüfe die Argumente, sehe ein oder auch nicht und richte mein Verhalten im Wesentlichen nach meiner Einsicht, so wie in vielen anderen Zusammenhängen auch. Dasselbe gilt für die Ausführungen von Fachleuten/Expert*innen.

Ich habe Zugang zu unterschiedlichen, auch stark divergierenden Expert*innen-Einschätzungen des neuen Phänomens Covid19, erfahre jederzeit, was inzwischen als bekannt gelten kann, was noch nicht, kann auch als Laiin Argumentationen immanent auf ihre Konsistenz hin prüfen und mir ein Bild machen. So wie ich mir als Nicht-Naturwissenschaftlerin, wenn ich will, ein Bild davon machen kann, was dran ist am Klimawandel. „Die Wissenschaft“ stellt sich sich mir in Deutschland seit über einem Jahr in ihren Äusserungen zu einer noch längst nicht vollständig erforschten Pandemie nicht als unfehlbar oder monolithisch dar. (Dann wäre es im Übrigen auch keine Wissenschaft.) Dazu gehört beispielsweise auch, dass Inzidenzen und andere Werte ins Verhältnis gesetzt und auf ihre Aussagekraft hin abgeklopft werden.

(Selbstverständlich ist es Nonsens, die „Überschätzung“ von Corona beweisen zu wollen, indem man sich etwa darauf beruft, dass die durchschnittlichen Todesraten in Deutschland im Jahr 2020 nicht wesentlich über denen im Jahr 2019 lagen. Wie wäre es, diese Feststellung mit dem Umstand ins Verhältnis zu setzen, dass in Deutschland rechtzeitig relativ gut greifende Massnahmen zur Eindämmung der neuen Pandemie ergriffen wurden?) Was treibt erklärte linke, sich als besonders staatskritisch und kapitalismuskritisch begreifende und darstellende Menschen, im Kontext von Corona dazu, ihre Kritikfähigkeit auszuschalten, um eine angeblich weitverbreitete Angst herbeizureden? (s.o. Implikation 1.) Wie verhält es sich, wenn ohne jede reale Grundlage eine Angst „der Bevölkerung“, der ahnungslosen, der ohnmächtigen Regierten beschworen wird (s.o.: Implikation 5.)?

Damit nicht genug, diese exklusiv Durchblickenden bestehen darauf, über ein weiteres, den meisten von uns verschlossenen Wissen zu verfügen. Sie durchschauen nämlich, warum die Herrschenden diese Angst schüren: Die eingeschüchterte Bevölkerung glaube der Regierung, den Medien, den Expert*innen, dass die Gefahr es erforderlich mache, auf Rechte und Freiheiten zu verzichten, sich zu unterwerfen, sich rundum kontrollieren zu lassen. Weil andernfalls – was über sie/uns, das verwirrte Volk, hereinbricht?

Dieses Narrativ vom blöden Volk ist nun so langweilig wie selbstgefällig und hermetisch. Hermetisch ist dieses Narrativ gegenüber möglicher diskursiver Einsicht, einer Perspektive des gemeinsamen Verstehens und des gemeinsamen Aufbegehrens und intelligenten Angehens gegen Herrschaft. Die, allerdings, ist kein Phantom.

Das Phantasma vom Volk, das sich angeblich durch Corona-Angst beherrschen lässt, trägt absolut nichts dazu bei, der überall tatsächlich herrschenden gnadenlosen Maschinerie des neoliberalen Kapitalismus mit seinen unterschiedlichen Formen von Manipulation, Vereinnahmung, good governance, Management, Verlockung, Kontrolle oder unverhohlener Gewalt etwas entgegenzusetzen. Wie wäre es mit kollektiver Intelligenz, gemeinsamen Erkenntnisprozessen und entsprechendem solidarischen Handeln?

In Italien, in Frankreich, in der Schweiz, in Belgien, in Deutschland und anderswo gab es nicht Wenige, die schnell begriffen, dass die Pandemie tatsächlich diejenigen beängstigend, lebensbedrohlich trifft, die weitgehend ausgeschlossen sind von allem, was wir „geniessen“: die an den Grenzen und in Lagern ausharrenden Geflüchteten und Fliehenden, die in extrem beengten Wohnverhältnissen oder auf der Strasse (Über)Lebenden, die rassistischer Polizeigewalt Ausgesetzten, z.B. in den französischen Vorstädten.

In mehreren der genannten Länder, zuerst in Italien, bildeten sich zu Beginn der Pandemie die „Brigate di solidarieta popolare“, die zunächst vor allem Suppenküchen, Lebensmittel, Zelte, Kleidung – ja und selbstverständlich auch Masken und Desinfektionsmittel – für die vollkommen schutzlos Ausgesetzen organisierten. Darüber hinaus vernetzen und verstärken sie inzwischen längst politische Kämpfe, widerständige Solidarität, auch gegen die staatliche Pandemie-Politik. Zur Illustration hier eins von vielen Beispielen (vom März dieses Jahres).

Auf einer französischen Facebook-Seite der „Brigades“ ist zu lesen: „… besonders seit November 2020 gibt es Demos und andere Aktionen in Lüttich (Belgien) gegen die Ausgangssperre als sicherheitspolitische und autoritäre Massnahme und für ein der Gesundheit tatsächlich zuträgliches und solidarisches Vorgehen. Dabei geht es um Massnahmen, wie sie von den Betroffenen selber eingeführt wurden und die ihre Bedürfnisse und ihre sozio-ökonomische Realität berücksichtigen und darauf ausgerichtet sind, das Virus/die Viren kollektiv, tatsächlich und nachhaltig zu bekämpfen.“

Bei der fraglichen Demo, bei der zu diesem Zweck auch Geld gesammelt wurde, und an der vor allem Menschen teilnahmen, die sowieso in prekären Lebensumständen, oft ohne Papiere, durch die Pandemie zusätzlich unter Druck geraten sind und noch mehr durch die staatliche Repression, wurden 400 Menschen von der Polizei eingekesselt und erkennungsdienstlich behandelt. Jeder*m von ihnen drohte eine Ordnungsstrafe von 250 Euro – und das nicht etwa, weil sie (bis zur Einkesselung) keinen Abstand voneinander gehalten, oder weil sie keine Maske getragen hätten. An den Bericht schliessen sich Überlegungen an, wie „wir“ kollektiv die Betroffenen nicht mit dieser Geldstrafe alleinlassen, und wie es gemeinsam weitergehen kann. Das Emblem der Brigate/Brigades ist eine schwarze Maske mit rotem Stern.

In Deutschland, wo die Pandemie vergleichsweise vernünftig, diskursiv und vergleichsweise wenig autoritär angegangen wurde und soziale Härten ausgeglichen wurden, dachten Viele gleich in den ersten Monaten weniger an sich und die Einschränkungen, denen sie unterworfen waren, sondern an diejenigen, die in mehr als einer Hinsicht existenziell bedroht sind, vor allem die Geflüchteten in Lagern in- und ausserhalb von Europa. Die Forderung, sie umgehend und bedingungslos aufzunehmen, war immer wieder auf Bannern an Fenstern oder Balkonen und auf Postern an den Wänden zu lesen. Die diese Forderung kundtaten waren und sind sich ihrer/unsere Privilegien und Möglichkeiten bewusst.

Die fortgeschrittensten nationalen Kapitalismen, die Spitzenreiter, zu denen Deutschland zweifellos gehört, bedürfen für ihr geschmeidiges Funktionieren der Rechtsstaatlichkeit (Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, eine einigermassen unabhängige Presse und Wissenschaft etc.). Folglich leisten sie sich diese. Sie bedürfen gewisser sozialer Standards und leisten sich diese. Sie leisten es sich, auch das, weil es durchaus funktional, „zielführend“ in ihrem Sinne ist, manche Dinge breit diskutieren zu lassen, nicht einfach von oben zu dekretieren.

Die deutschen Regierenden haben selbstverständlich nicht die Ursachen der Pandemie angehen und den weltweiten Raubbau an Mensch und Natur – also den neoliberalen Kapitalismus – in Frage stellen wollen. Das ist nicht ihr Job. Sie haben vielmehr dafür Sorge getragen, dass die Kiste so bald wie möglich und so hochtourig wie möglich wieder anlaufen kann, damit das heilige Wachstum wieder aufersteht (falls es überhaupt ein leichtes Straucheln zu Beginn der Pandemie gab) bzw. aufrecht erhalten bleibt. Das ist die absolute Priorität.

Sie leisten es sich, die Pandemie im Land mit einigermassen vernünftigen Massnahmen zu bekämpfen, die Bevölkerung dabei „mitzunehmen“. Das ist good governance, die man „der deutschen Wirtschaft“ schuldig ist, nebenher auch den Bürger*innen. Und sie leisten es sich, Rechte behutsam und nur vorübergehend, an Kontrollmechanismen gekoppelt, einzuschränken. Sie haben es nicht nötig, mit Angst zu regieren.

Anderswo, und in Bezug auf das Aussen allemal, ist es anders. Aus guten kapitalistischen Gründen. Konkurrenz belebt das Geschäft. Konkurrenz setzt Unterschiede voraus. Manchmal, ziemlich oft, müssen die leider – auch durch liberale Demokratien – mit Gewalt aufrechterhalten werden. Da, wo das der Fall ist, besteht tatsächlich Grund zur Angst: das rettende Ufer nicht zu erreichen, die lebensrettende Beatmung nicht zu bekommen, den kümmerlichen Lebensunterhalt zu verlieren. Alleingelassen zu krepieren.

Sophia Deeg