Sternstunde der Demokratie Deutschland: Bundestagswahl 2021

Politik

Fiebert das Wahlvolk dem 26. September entgegen oder hat es vom Wahlkampf schon genug? Überlegungen zum Nutzen des Wahlakts.

Armin Laschet beim Programmausschuss der CDU Rheinland-Pfalz am 23. Januar 2021.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Armin Laschet beim Programmausschuss der CDU Rheinland-Pfalz am 23. Januar 2021. Foto: Olaf Kosinskykosinsky.eu (CC BY-SA 3.0 cropped)

14. September 2021
7
0
19 min.
Drucken
Korrektur
Wahlen gelten als die Sternstunden der Demokratie, so auch die Bundestagswahl 2021. Das Ereignis wird als Gütesiegel der herrschenden Staatsform gefeiert, selbst wenn ein Grossteil der verehrten Wähler und Wählerinnen auf Enthaltung (oder „weiss nicht“) plädiert, so mancher Journalist den Wahlkampf als langweilig bis abstossend empfindet und die Wahlforscher lauter Defizite entdecken.

Auf den einen Tag, dieses Mal den 26. September, soll es ankommen. Schliesslich ist dann der Bürger gefragt. Von seiner einsamen und leider so schwer kalkulierbaren Entscheidung soll Entscheidendes abhängen – und damit zeigt sich laut einhelliger Expertenmeinung, dass er in der Demokratie die bestimmende Grösse darstellt. Nur sollte man einmal nachfragen, wer eigentlich von der Wahl was hat, worüber das Wahlvolk entscheidet und wie es zu seiner Entscheidung gelangt.

Das Kreuz mit der Wahl

Die massgebliche Beteiligung des Bürgers am demokratischen Geschehen besteht in zwei Kreuzchen in einem Kreis, angebracht auf einem Wahlzettel, der verdeckt in einer Kabine abgegeben wird, so dass die Entscheidung ganz unbeeinflusst und damit „frei“ erfolgen kann. Es ist kein Akt, bei dem sich jemand mit Gründen zu Wort meldet, um Rückmeldung bittet oder sich mit anderen abspricht. Wer seine Stimme demokratisch abgibt, ist frei, er kann ganz seiner Willkür folgen, denn der Vorgang ist, so die letzte Bestimmung in Artikel 38 Grundgesetz, „geheim“.

Gewählt werden zum einen der Wahlkreiskandidat bzw. die -kandidatin, zum anderen eine Partei mit der Liste ihrer führenden Vertreter. Den Wahlkreiskandidaten muss der Wähler gar nicht kennen, die aufgestellten Personen stehen hier für eine Partei und damit für deren Programm. Das Programm muss der Wähler ebenso wenig kennen, denn Optionen, die sich auf Inhalte des Wahlprogramms beziehen, stehen nicht zur Wahl, sondern nur Repräsentanten dieses Programms; d.h. Personen, die gewählt werden wollen, um in Zukunft das Land zu regieren.

Die Kandidaten wollen demnächst über Gesetze und die Besetzung der Regierungsämter beschliessen und damit festlegen, was die Bürger zu tun und zu lassen haben, was ihnen der Staat vom Einkommen wegnimmt und was er ihnen zukommen lässt usw. Mit der Wahl werden also Personen ermächtigt, über den Rest des Landes zu herrschen. Und bei der Ausführung dieser Aufgabe sind sie keinem Programm, sondern nur ihrem Gewissen verpflichtet. Ein so genanntes imperatives Mandat, das die Gewählten zu irgendetwas verpflichtet, sieht eine Demokratie, die etwas auf sich hält, ausdrücklich nicht vor.

Gewählte Vertreter sind ebenso frei in ihren Entscheidungen wie andere Herrscher auch. Durch die Wahl erhalten sie aber die Legitimation, dass ihre Herrschaft im Sinne der Bürger stattfindet, ganz gleich wie viele sie gewählt haben und ob der Einzelne, der von ihrem Handeln betroffen ist, sie als Regierende gewollt hat oder nicht. Sie sind von der – nach bestimmten (oft für Laien undurchschaubaren) Rechenverfahren zu ermittelnden – Mehrheit der zur Wahl Berechtigten gewählt und damit zum Regieren berechtigt. Also bestimmt der Wahlbürger nur das: wer von den verschiedenen Kandidaten zur Herrschaft ermächtigt wird. Dass es die Obrigkeit vor und nach der Wahl gibt, steht a priori fest.

Weil die Personen verschiedenen Parteien angehören, soll die Entscheidung auch immer eine Entscheidung in der Sache sein, nämlich darüber, wie und zu welchem Ende das Land zu regieren ist. Dafür gibt es Wahlprogramme und dafür stehen auch die Parolen auf den Plakaten, mit denen die Kandidaten für sich werben, wobei ihre Auskünfte von professionellen Beobachtern meist als zu plakativ und zu wenig gehaltvoll bemängelt werden. Profis sähen das Ganze gern geschickter angepackt, mit mehr Strahlkraft versehen – eine geschmäcklerische Kritik, die über die Sache schnell hinweggeht. Die besteht in Folgendem:

Der Wahlkampf – ein Krampf?

Die Programme der verschiedenen Parteien kennen die meisten Bürger nicht, wenn sie zur Wahl schreiten. Die Medien versuchen zwar, Unterschiede in den Programmen herauszupräparieren, und führen ihrem Publikum etwa vor, welche Aussagen zu Steuern oder Renten in den diversen Papieren zu finden sind. Die Parteien selber rechnen aber gar nicht gross damit, dass die Wähler die Programme studieren und vergleichen. Sie beauftragen Werbeagenturen damit, Wahlparolen in die Welt zu setzen, mit denen sie auf sich aufmerksam machen wollen. (Alle Zitate im Folgenden stammen von den Websites der Parteien.)

So wirbt die CDU: „Alles was wir tun, tun wir #wegenmorgen – Gemeinsam blicken wir aufs Morgen“. Die SPD stellt ihren Kanzlerkandidaten in den Vordergrund und lässt diesen sprechen: „Respekt – das ist meine Idee für unsere Gesellschaft. Dafür kämpfe ich mit Leib und Seele, mit Herz und Verstand“. Die Grünen sind: „Bereit, weil ihr es seid“. Die FDP weiss zu vermelden: „Nie gab es mehr zu tun“ und zeigt ihren sinnierenden Vorsitzenden. Die Linke will die „Existenzangst abschaffen“ und die AfD tritt ein für „Deutschland, aber normal“.

Schon diese Auswahl zentraler Aussagen zeigt: Es ist eine Mär, dass die Parteien sich durch Wahlversprechen auszeichnen, die sie dann – so geht die Klage – nicht halten würden. Was wird denn versprochen, wenn gemeinsam aufs Morgen geschaut wird? Das Morgen kommt sowieso und wie es aussehen wird und was die Politik dafür tun wird, bleibt bei der christdemokratischen Ankündigung zielstrebig im Nebulösen. Nur eins ist dabei klar: Der Mann (oder die Frau) im Amt wird sie gestalten.

Die Forderung nach Respekt klingt irgendwie gut, könnte man meinen. Aber wer soll denn vor wem Respekt haben? Und nicht zuletzt: Wer Respekt fordert, geht doch von Gegensätzen in der Gesellschaft aus, die bleiben werden, aber höflicher abgewickelt werden sollen. Und die Opposition? Wozu sind die Grünen bereit? Hier äussert man fast Klartext: Versprochen wird nicht mehr oder weniger, als dass die Partei an die Macht will, dazu ist sie bereit und unterstellt dieselbe Sehnsucht wohl auch bei ihrer Anhängerschaft. Wenn die FDP bemerkt, dass es viel zu tun gibt, dann steckt darin natürlich der Vorwurf an die Adresse der Koalition, vieles nicht getan zu haben. Die Oppositions-Partei braucht das nicht auszuführen, bietet sich stattdessen gleich für die Zukunft als Koalitionspartner an, der wie die Grünen bereit zum Zupacken ist – bei was auch immer, auf jeden Fall bei den drängenden Herausforderungen, vor die sich eine Herrschaft gestellt sieht.

Etwas anders der Zugang bei der Linken, sie spricht nicht als Erstes den herrschaftlichen Bedarf, sondern die Nöte einfacher Menschen an. Doch wer die Existenzangst abschaffen will, greift der Sache nach die unsichere Existenz der Menschen auf, die von Lohn und Gehalt leben müssen. Die daraus resultierende Angst zu beseitigen, würde einschliessen, die Grundlage anzugreifen. Von der Abschaffung der Lohnarbeit, die die Unsicherheit bewirkt, ist aber gerade nicht die Rede. Man soll eher an eine Herrschaftsausübung denken, die bei ihrem Geschäft ‚die da unten' nicht vergisst.

Die AfD ist gleich wieder beim Höchstwert, vor dem alle Einzelfragen verblassen, bei der Nation. Auch sie versteht es, etwas zu fordern, bei dem sich jeder Wähler sein Teil denken kann. Was das genau sein soll, wenn Deutschland normal wird, soll er sich wohl eher im Blick auf die grossartige nationale Tradition ausmalen.

Die Parteien belassen es aber nicht dabei, allgemeine Wahlslogans in die Welt zu setzen, die ihren Machtwillen, pardon: ihre Gestaltungskompetenz benennen. Sie untermauern dies auch mit Schlagworten, mit denen sie einmal für sich werben und sich zweitens von den anderen absetzen wollen. Denn schliesslich sollen dem Wähler ja Alternativen geboten werden, damit er hier ankreuzt und nicht da.

Lauter Alternativen für Deutschland

Alle Parteien treten an, um – an die Macht gekommen – Politik für Deutschland zu gestalten. Sie unterstreichen, dass sie Alternativen kennen, um den Erfolg des Landes zu sichern. Die CDU unterstreicht ihre Wahlparole mit Stichworten wie Covid 19, Wirtschaft, Digitalisierung, Jobs, Infrastruktur, Klimaschutz, Familie, Sicherheit, Bildung, Freihandel und Europa. Das alles sind Bereiche, um die sich die Partei in der Regierung kümmern will. Bezeichnend ist, dass auch hier nicht gesagt werden muss, was im Einzelnen auf den Bürger zukommt. Es reicht offenbar, ihn daran zu erinnern, dass dies alles Politikfelder sind, die ihn berühren. Es wird mit seiner Abhängigkeit von den Entscheidungen der Regierung geworben. Die Aspiranten auf die Ämter versprechen, sich darum zu kümmern, dass er abhängig ist.

Und wenn Wirtschaft – neben Gesundheit und Klima – ganz vorne steht, soll dem Wahlvolk klar sein, dass dies ein ganz wichtiger Bereich ist. Dabei ist „Wirtschaft“ schon eine Abstraktion von dem, worum es in der Sache geht. „Die Wirtschaft“ ist ja kein Anliegen von uns allen. In dieser Gesellschaft zielt sie nicht darauf, alle Gesellschaftsmitglieder mit den notwendigen und schönen Dingen des Lebens zu versorgen. Die Versorgung ist vielmehr Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen – eben Kapitalismus. Investiert wird dort, wo es sich lohnt, und unterbleibt, wo es sich nicht rechnet. Deshalb gibt es neben Luxusgütern schäbige Massenware, neben überbordendem Reichtum jede Menge Mangel.

Die normale Armut ist bei der Wahl allerdings nie Thema. Ihre Folgen kommen dafür vor. Wenn in der Liste der Handlungsbereiche die Forderung nach Arbeitsplätzen – nach ihrem Erhalt, ihrer Schaffung, ihrer Transformation im Zeitalter der Digitalisierung etc. – auftaucht, dann ist eben die Kehrseite der herrschenden Wirtschaftsweise Thema: nämlich die Abhängigkeit der Mehrheit der Bürger vom Gang der Geschäfte, zu deren Gelingen sie mit ihrer Arbeit beitragen und für deren Wachstum ihr Einkommen eine Kost darstellt. Deswegen ist der Alltag für viele Bürger alles andere als ein Zuckerschlecken und zeitigt jede Menge politischen Handlungsbedarf.

Da die Wirtschaft die Natur und die Menschen ruiniert, braucht es Klimaschutz, der so gestaltet werden soll, dass sich neue Geschäftsmöglichkeiten erschliessen lassen und bestehende nicht zu sehr belastet werden. Kinder zu bekommen stellt Familien vor Existenznöte, weswegen sie gefördert werden müssen. Gesundheit ist ein teures Gut, deshalb muss für den Normalbürger eine Zwangsversicherung her, damit der Verbrauch des Guts nicht gleich zum Ruin der Arbeitskraft führt usw.

Auch die anderen Parteien verstehen diese Art der Werbung für sich, wobei der Unterschied darin besteht, wie sie die einzelnen Handlungsbereiche der Politik ansprechen. Die SPD setzt folgende Prioritäten: „Klimaschutz, der Arbeit schafft“. Eine gelungene Kombination, verweist doch der Zusatz vom Arbeit-Schaffen darauf, dass sich Klimaschutz immer daran messen lassen muss, ob er auch der Wirtschaft nützt, denn sonst gibt es keine Arbeitsplätze. Die Tatsache, dass die Wirtschaft massgeblich dazu beiträgt, dass Klimaschutz überhaupt zum Thema wird, weil rücksichtslos gegen die Belange von Mensch und Natur produziert wird, fällt dabei unter den Tisch. Es wird der Eindruck erweckt, Unternehmen hätten nichts anderes im Sinn, als die Menschen mit Arbeit zu versorgen, und würden bei zu radikalem Klimaschutz in diesem Anliegen behindert. Auch auf diese Weise kann man sich für die Wirtschaft stark machen.

Die Grünen halten der Regierung vor, in Sachen Klimaschutz nur gesagt zu haben, was nicht geht. Damit grenzen sie sich zugleich vom Vorwurf ab, eine Verbotspartei zu sein. Doch auch sie beherrschen die Kombination von Klimaschutz und Wirtschaft, wenn sie auf ihr Plakat schreiben: „Wirtschaft und Klima ohne Krise“. Wie das gehen soll, wirft einige Rätsel auf: Das Klima kann nicht in eine Krise geraten. Durch die Schädigung der Natur ändert sich das Wetter, schmelzen Gletscher, steigen die Meeresspiegel, gibt es mehr Starkregen oder extreme Hitze. Die Natur verändert sich und das ist kein vorübergehender Zustand wie eine Krise. In die Krise kommen allerdings die Menschen, deren Lebensgrundlage damit ruiniert wird.

Wenn die Grünen eine Wirtschaftspolitik ohne Krise versprechen, dann lässt dies ebenfalls aufhorchen. Lernt man doch schon in der Schule, dass zum Wirtschaftsleben nun mal der Zyklus von Aufschwung, Boom, Abschwung und leider auch immer wieder Krise gehört. Unternehmen konkurrieren mit Massenware um Marktanteile und irgendwann sind die massenhaften Produkte nicht mehr absetzbar, weil den Kunden das ausreichende Geld fehlt, um das in der Ware vorgeschossene Geld mit Gewinn an die Unternehmen zurückfliessen zu lassen. Dann ist Krise, weil es von allem zu viel gibt: zu viele Produkte, die so mancher brauchen könnte, aber nicht bezahlen kann; zu viele moderne Fabriken, die zu Schrott werden, weil sich ihr Betrieb nicht mehr lohnt; zu viele Menschen, die arbeitslos werden, obwohl sie die Arbeit für ihren Lebensunterhalt brauchen usw. Diese Gesetze des Marktes oder besser des Kapitals wollen die Grünen offensichtlich ausser Kraft setzen, ohne den Kapitalismus zu beseitigen – wahrscheinlich können ihre Spitzenkräfte dann auch übers Wasser laufen.

Um ihre Regierungsfähigkeit zu beweisen, haben sie ein Klimaschutz-Sorfortprogramm vorgelegt: Es soll „Wirtschaft und Industrie auf Klimaneutralität ausrichten“. Denn sie wollen erkannt haben: „Zugleich ist Klimaneutralität mittlerweile die entscheidende Grösse auf den Märkten der Zukunft“. Sie treten also nicht mehr als Kritiker der Industrie auf, sondern wollen mit ihrer Klimapolitik das Erfolgsrezept für die deutsche Wirtschaft gefunden haben. Wobei es etwas gemogelt ist, wenn behauptet wird, Klimaneutralität sei die entscheidende Grösse für den Erfolg auf den Märkten der Zukunft. Entscheidend dürfte nach wie vor die Rentabilität sein, sprich: auch der Klimaschutz muss sich rechnen. Doch bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Kanzler Schröder haben die Grünen bereits bewiesen, wie radikal sie für den Erfolg der deutschen Wirtschaft eintreten, schliesslich haben sie die Hartz-Gesetze mit beschlossen und die Wirtschaft mit billigen Arbeitskräften versorgt.

Die FDP macht die Digitalisierung, den Klimaschutz und die bedrohte Freiheit zum Thema. Unter Digitalisierung läuft vieles, vom digitalen Antragstellen bei Behörden bis hin zu Rationalisierungen in Industrie und Verwaltung. Für beides soll der Bürger sich unterschiedslos einsetzen, geht es doch um den Erfolg Deutschlands in der Welt. Dass der Einsatz dieser Technologien in Produktion und Kommerz massenhaft Arbeitsplätze kosten wird, daraus wird in der Öffentlichkeit kein Geheimnis gemacht, ist aber im Wahlkampf kein besonderes Thema. Für Klimaschutz ist die FDP ebenfalls, sieht freilich insgesamt die Freiheit bedroht. So kann man sich gleichzeitig gegen zu viele Einschränkungen – sei es nun bei der Pandemie oder im Wirtschaftsleben – wenden. Irgendwie sollen diese Sorgen das Gleiche und bei der FDP gut aufgehoben sein.

Die AfD, die bestrebt ist, sich von den „Systemparteien“ abzugrenzen und deswegen auch viele Einschränkungen für überflüssig hält, lässt einen Unternehmer zu Wort kommen: „Mein Unternehmen ist nicht im Dax, sondern in Deutschland“. Die Partei fordert dann ganz alternativ: „unseren Mittelstand stärken“. In der Form reiht sie sich in den Chor derjenigen ein, die als oberstes Ziel die Stärkung der Wirtschaft im Auge haben, also die Vermehrung des Reichtums derer, die über Reichtum verfügen, wobei der Mittelstand im Gegensatz zu vielen Grossbetrieben besonders deutsch sein soll.

Die Linke scheint da etwas aus dem Rahmen zu fallen, wenn sie die „Existenzangst abschaffen“ will und eine „Infrastruktur, die Armut abschafft“ fordert. Wie die aussehen soll, wird auch dargelegt: „Statt Aufstocken, mindestens 13 Euro pro Stunde“ und eine Grundsicherung von 1.200 Euro. Mit ihren Forderungen wendet sich die Partei an die Opfer des Wirtschaftswachstums, will aber nicht die Quelle der Armut – die Lohnabhängigkeit – beseitigen, sondern diese sozial gestalten, d.h. die Härten, die daraus entstehen, abmildern. Dass es die weiter geben wird, daraus macht die Linke kein Geheimnis und hält auch so der herrschenden Wirtschaftsordnung die Stange.

Mit ihrem Einsatz für die Opfer des Wirtschaftswachstums steht die Linke jedoch nicht allein. Alle Parteien haben deren Nöte im Auge, wenn sie die Mieten, die familiären Belastungen oder die Ausbildungssituation thematisieren. Schliesslich braucht eine erfolgreiche Wirtschaft Menschen, die diesen Reichtum herstellen und verwalten. Deren Existenz muss daher irgendwie gesichert sein und dazu gehört eben, dass sie eine Wohnung finden oder dass für ihre Kinder gesorgt wird, wenn beide Elternteile arbeiten müssen. Der Nachwuchs muss zudem ausgebildet werden, damit er als zukünftige Arbeitskraft tauglich ist, und der übliche Verschleiss in der Arbeit und durch Gifte in Lebensmitteln, Kleidung, Atemluft etc. muss durch ein Gesundheitswesen betreut werden.

Last but not least ist neben den Nöten des Alltags auch immer – in der einen oder anderen Form – Sicherheit ein Thema, das Aufmerksamkeit erregen soll. Die CDU hat es ebenso im Programm wie AfD oder Linke. Auch hier bemühen sich die Parteien darum, Unterschiede deutlich zu machen, wie das Thema den Bürger betreffen oder ansprechen soll. Für die CDU reicht das Stichwort als Zusage, dass sie sich darum kümmert. Von der SPD weiss man seit geraumer Zeit, dass unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird – auch wenn sich momentan zeigt, dass da noch viel zu tun ist. Die Grünen (die zusammen mit der SPD Deutschland in den Afghanistan-Krieg geführt haben) wissen das, sie wollen „Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zukunftsfähig und krisenfest gestalten“. Wobei Bevölkerungsschutz gerade in Kriegszeiten gebraucht wird.

Die AfD lässt auch zu diesem Thema den Bürger, genauer gesagt: eine Bürgerin sprechen, denn dem Volk soll ja nicht länger der Mund verboten werden. „Ich liebe die Nacht, aber nicht den Nachhauseweg“ meint die Dame und fordert daher „Recht und Ordnung für unsere Städte“. Das ist eben das Schöne am Stichwort „Sicherheit“, dass man sowohl die Sicherung deutscher Ansprüche in der Welt wie auch die Sicherung staatlicher Ordnung im Inneren darunter verstehen und sich so für die Ausstattung des staatlichen Gewaltapparats in Form von Bundeswehr und Polizei stark machen kann. Alles nur deswegen, damit man vom Kneipenbesuch heil nach Hause kommt.

Die Linke tritt für Frieden ein und will die Waffenexporte stoppen. Dabei könnte sie eigentlich merken, dass für Frieden alle Staaten dieser Welt sind, dass nur die Staatsmänner und -frauen von Zeit zu Zeit zur Sicherung des Friedens Krieg für notwendig erachten. Die Linkspartei tut sich zurzeit noch schwer, die von der Regierung für notwendig gehaltenen Kriege zu unterstützen. Aber um regierungsfähig zu werden, wird sie sicher auch diese Hürde nehmen.

„Waffenexporte stoppen“ hört sich gut an, scheitert in der Regel aber daran, dass sich die Bundesrepublik damit – ganz abgesehen vom drohenden Arbeitsplatzabbau – eines wichtigen Mittels der internationalen Einflussnahme berauben würde. Schliesslich streben viele Staaten nach den technisch ausgereiften Produkten deutscher Tötungsindustrie. Ihre Ausstattung mit diesen Produkten zu gewähren oder zu verweigern ist eine Form, in der Deutschland in aller Welt auf andere Herrschaften Einfluss nimmt. Und so fordert auch die Linke nicht die Schliessung dieser Betriebe, sondern weiss z.B. ein Bodo Ramelow seine Waffenschmiede in Suhl als Wirtschaftsfaktor zu schätzen – genau so wie ein Winfried Kretschmann seine in Oberndorf am Neckar oder ein Armin Laschet in Düsseldorf.

Von solchen militärpolitischen Bedenken abgesehen, die sich auch bei der AfD finden, erweisen sich die Parteien grundsätzlich einig, was die Aufgaben der zukünftigen gewählten Politiker betrifft und worum sich diese zum Wohl der Nation in der anstehenden Grossmachtkonkurrenz zu kümmern haben. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass sich gerade ein deutsches Kriegsschiff ins Südchinesische Meer aufmacht, um dort deutsche Sicherheitsinteressen anzumelden, und dabei darauf vertrauen kann, dass sich sein Auftrag durch die Wahl im September nicht ändern wird; dass es höchstens ein paar Nuancen bei der Definition bzw. Legitimation seiner friedenspolitischen Mission geben wird.

Die verschiedenen Themen des Wahlkampfs geben die Staatsaufgaben wieder, die nicht zur Wahl stehen und an denen sich die verschiedenen Parteien und Kandidaten bewähren wollen. Die Unterschiede, mit denen die Parteien bei den Wählern für sich werben, betreffen ihre Selbstdarstellung und die Art, wie sie die einzelnen Aufgabenbereiche angehen wollen. Während die einen die Reichen steuerlich entlasten wollen, weil es um die Vermehrung ihres Reichtums in dieser Gesellschaft geht, wollen die anderen die Armen entlasten, damit diese durch ihren Konsum helfen, die Produkte der Unternehmen zu versilbern, und das Geld reibungslos an die Unternehmen mit Gewinn zurückfliesst. So haben beide Varianten dasselbe Ziel vor Augen, wenn sie auch auf unterschiedlichem Wege dorthin gelangen wollen, und propagieren somit unisono nur eins, den Erfolg für Deutschland. Das soll den Wähler beeindrucken!

Im Schlafwagen zum Ziel oder heisser Wahlkampf?

Dass die Parteien sich nicht gross unterscheiden, wird von Journalisten mal als Mangel, ein andermal als in der Natur der Sache liegend aufgefasst. Die Klagen über den langweiligen, zuweilen einschläfernden Wahlkampf wollen daran festhalten, dass es bei der Wahl um programmatische Fragen der Politik gehen müsse, die dem Volk als Souverän vorzulegen seien. Auf der anderen Seite gibt es den Realismus, dass es schliesslich darum geht, bei feststehenden Staatsaufgaben diejenigen Personen auszuwählen, die sie ausführen sollen. Also dreht sich alles um deren Führungs- oder Führerqualität, heutzutage natürlich ebenso um die Führerinnenqualität!

Und so sorgen sich ganze Abteilungen der Öffentlichkeit und parteilichen Öffentlichkeitsarbeit um die Vertrauenswürdigkeit der Wahlkämpfer. Da macht es sich schlecht, wenn Kandidaten ihren Lebenslauf beschönigen oder einen nicht ganz stringenten Erfolgsweg aufzuweisen haben. Die eigene Kompetenz durch abgeschriebene Publikationen aufzuhübschen wirft Zweifel auf – dann nämlich, wenn's auffällt. Am besten ist es, wenn Kandidat oder Kandidatin bereits durch tatkräftiges Regieren ihr Führertum bewiesen und durch Wahlen bestätigt bekommen haben.

Denn schliesslich sollen sich die Wähler nicht einfach einem Herrscher unterwerfen, weil er die Macht hat, sondern ihm zustimmen, weil er über Kompetenz verfügt. Die Wahl soll das Vertrauen in die Person ausdrücken. Und so ist die verbreitete öffentliche Kritik, in diesem Wahlkampf kämen (wie in vielen früheren) die wichtigen Themen nur am Rande vor und würde misslungenen Büchern bzw. Auftritten von Politikern oder Politikerinnen zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, ausgesprochen verlogen.

Es stellt sich hier doch als Erstes die Frage, wer denn das Feixen von Laschet hinter Steinmeiers Rücken zum Thema, wer von den Ausrutschern und stilistischen Fehlgriffen so viel Aufhebens macht. Es sind doch dieselben Journalisten, die dann an anderer Stelle das Fehlen einer Sachauseinandersetzung beklagen.

Wenn die Aufgaben der Politik feststehen, an denen die zukünftigen Herrscher sich zu bewähren haben, dann kommt es eben ganz auf die Personen und ihre Selbstdarstellung an. Von daher verwundert es nicht, dass dieser Wahlkampf so läuft, wie er läuft, und es spricht alles dagegen, sich daran konstruktiv zu beteiligen.

Suitbert Cechura

Zuerst erschienen bei telepolis