Der zionistische Kreislauf der vergeltenden Gewalt Verfolgung abschliessbar und unabschliessbar
Politik
Dieser im US-amerikanischen Parapraxis[1] Magazin erschienene Essay ist Teil von deren fortlaufenden Online-Ausgabe über Palästina, die aus dem sich entfaltenden Völkermord in Gaza nach dem 7. Oktober und den anhaltenden Auseinandersetzungen mit den internationalen Ausstrahlungen der so genannten „Palästinafrage“ entstanden ist.

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Israelische Soldaten im Gaza Streifen, 13. Februar 2024. Foto: IDF Spokesperson's Unit (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)
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Der Schauplatz ist das Amsterdam der Nachkriegszeit, ein leeres Feld am
Rande von Rivierenbuurt, dem einst überwiegend jüdischen Viertel,
in dem Anne Frank und ihre Familie lebten, bevor sie untertauchten.
Dort spielten mein Vater Yehudi und sein bester Freund Kees, beide
jüdische Kinder, die die Nazi-Besatzung überlebt hatten, oft mit
nicht-jüdischen Jungen Fussball. Dabei kam es immer wieder zu
Streitigkeiten über das Spiel: „Das war ein Tor!“ „Das war
kein Tor!“ „Es war doch eins!“
Unvermeidlich schleuderte ein Mitglied der gegnerischen Mannschaft die
beleidigenden Worte heraus: „dreckiger Jude“. Daraufhin stellte Kees, der „nicht
so gross war, aber … grosse Hände hatte“, den Jungen zur Rede.
In der Erzählung meines Vaters ist es immer „der längste Junge,
der grösste Junge, mit den meisten Muskeln, den meisten Schultern
und dem grössten Kopf“, den Kees auswählt. Trotzig nach
oben blickend und mit stotternder Stimme besteht Kees darauf, dass
das Schimpfwort wiederholt wird. „Dreckiger Jude“, antwortet der
grössere Junge. „H-h-höre ich das richtig?“ fragt Kees und
ballt eine Hand zu einer Faust. „Dreckiger Jude“, heisst es dann
wieder; daraufhin schlägt der Freund meines Vaters dem Jungen direkt
auf die Nase, so dass das Blut spritzt. Er hebt den Fussball auf und
klemmt ihn triumphierend unter einen Arm, „wie ein Makkabäer, wie
ein Held“, wie mein Vater erzählt. „Komm Yehudi“, sagt Kees,
„wir gehen nach Hause.“ Als mein Vater im Sommer 2022 starb, sah ich mir sein Videozeugnis
für die Shoah Foundation an, ein audiovisuelles Geschichtsprojekt,
das in den 1990er Jahren von Steven Spielberg gegründet wurde. In
viereinhalb Stunden erzählt mein Vater von seinen Erlebnissen als
Kind während der Besetzung der Niederlande durch die Nazis. Er
beschreibt, wie er während des Krieges von seinen Eltern getrennt
und im nördlichen Friesland versteckt wurde, weit weg von den
Strassen seiner frühesten Kindheitstage. Nicht weniger wichtig für
mein eigenes Verständnis seiner Vergangenheit sind seine
Überlegungen zu den Nachkriegsjahren in Amsterdam, einer Zeit, in
der der Antisemitismus auf dem Kontinent noch immer virulent war und
viele jüdische Überlebende ein tiefes Gefühl der Scham über ihre
Identität empfanden.
Wie die meisten Zeugnisse des Überlebens ist auch die Geschichte
meines Vaters erschütternd. Aber sie ist auch glücklicher als die
meisten. Während des Krieges wurde er im Alter zwischen 4 und 7
Jahren zwischen mehr als einem Dutzend Heimen hin- und hergefahren,
meist auf dem Rücken eines Fahrrads im Schutz der Nacht. Er wurde
von einigen, die ihn versteckten, körperlich misshandelt und entging
mehr als einmal nur knapp der Entdeckung und dem fast sicheren Tod.
Mein Grossvater starb im Versteck, als er für den niederländischen
Widerstand arbeitete, und die meisten Verwandten beider Seiten der
Familie wurden in den Vernichtungslagern von Auschwitz und Sobibor
ermordet. Meine Grossmutter überlebte jedoch und lebte als
Nichtjüdin im Osten Hollands, und mein Vater verbrachte die letzten
Monate der Nazi-Besatzung in den Händen fürsorglicher katholischer
Bauern. Mutter und Sohn konnten sich nach der Katastrophe wieder
vereinen und ein neues Leben aufbauen.
Es gibt Momente im Zeugnis meines Vaters, die mich zutiefst
berühren, etwa wenn er über die Angst und Scham nachdenkt, die ihn
überkamen, als er gezwungen wurde, mit anderen Kindern des
Bauernhofs, auf dem er sich versteckt hielt, nackt zu baden, weil er
sich schon als kleiner Junge bewusst war, dass seine Beschneidung
eine grosse Gefahr für ihn darstellte. Oder wenn er über das Verhör
durch einen SS-Soldaten spricht, dessen knurriges Gesicht ihn noch
jahrelang verfolgte und in seiner Jugend zum Gegenstand einer
Zeichnung wurde, die ich heute noch habe. Doch wenn es eine Episode
gibt, die mir mehr als alle anderen in Erinnerung geblieben ist, dann
ist es die Nachkriegsgeschichte von Kees Heldentum auf dem
Fussballplatz.
Das mag daran liegen, dass es eine der wenigen
Geschichten aus der Jugendzeit meines Vaters ist, die ich ihn
mehrmals persönlich erzählen hörte. Es gibt auch einen
schriftlichen Bericht, den er vor einigen Jahrzehnten in einem
Sammelband veröffentlicht hat. Es ist jedoch besonders
aufschlussreich, ihn die Geschichte auf Video erzählen zu sehen und
die Feinheiten seiner Sprache sowie die Bewegungen und Emotionen, die
seine Erzählung strukturieren, analysieren zu können.
Ich fühle mich vor allem von seinen Handgesten angezogen, die ich
so gut kenne und bei denen ich mich manchmal dabei ertappe, dass ich
sie unbewusst nachahme. Da ist die überraschend lebhafte, fast
komische Art und Weise, mit der er die Auseinandersetzungen zwischen
seinem Freund Kees und dem grösseren Jungen auf dem Fussballplatz
nachspielt. Und dann ist da die tränenreiche, überwältigende
Erleichterung, die ihn in dem Moment überkommt, als er beschreibt,
wie sein Freund den gemeinsamen Feind besiegt. Worauf ich jedoch
fixiert bin, vielleicht mit der gleichen Besessenheit, mit der mein
Vater seine Geschichte erzählte, ist die anschwellende Genugtuung,
die ich in ihm sehe, wenn er erzählt, was unvermeidlich und
beunruhigenderweise eine Geschichte von gewalttätiger Vergeltung
ist. Auf diese Verstrickung von Rechtfertigung und Dankbarkeit, auf
dieses Knurren, das Nadia Bou Ali als „hässliches Vergnügen“ bezeichnen könnte, werde ich gleich zurückkommen.
Denn es gibt noch einen zweiten Teil der Geschichte, die mein Vater
in seinem Zeugnis erzählt.
„Und dann, sozusagen um es ihm zurückzuzahlen,
aber nicht mit Absicht“, sagt mein Vater über seinen mutigen
Freund, „nahm ich ihn mit zu … Habonim“, der Jugendgruppe der
sozialistischen Zionisten, die gerade eine Ortsgruppe in Amsterdam
eröffnet hatte. Bei den wöchentlichen Treffen, „weit draussen …
am Rande der Stadt“, weit weg von den oft zerrütteten Familien,
lernten mein Vater und eine Generation von Kindern, die die Shoah
überlebt hatten, „eine andere Sicht der jüdischen Geschichte“
als die „nationalsozialistische Sicht“, die er, wie mein Vater
gesteht, „in der einen oder anderen Form verinnerlicht hatte“.
Als er diese letzte Bemerkung macht, fällt ein Schatten auf sein
Gesicht, der mich erschaudern lässt; er verschwindet im Nu, als er
den Faden seiner Erzählung wieder aufnimmt.
Obwohl viele
Habonim-Führer von linkem Gedankengut durchdrungen waren, zogen mein
Vater und seine Freunde aus ihren Erfahrungen vor allem einen stolzen
Sinn für die jüdische Identität. Es stellte sich heraus, dass
Juden im Laufe der Geschichte immer gut, mutig und trotzig waren -
sie setzten sich für sich selbst ein, sie waren nicht immer das
Opfer. Von einem Tag auf den anderen hatten sich die Kinder, die die
Shoah überlebt hatten, geistig und politisch verändert. Sie waren
zu glühenden Zionisten geworden. „Und kein Wort wurde je erwähnt“,
heisst es am Ende der Geschichte, „nicht über den Krieg, nicht
über das Untergetauchtsein, nichts über unsere Geschichte. Aber wir
sangen Lieder darüber, wie wir nach Israel gehen würden und wie ein
neues Leben beginnen würde, und wie wir die alten Wege hinter uns
lassen würden.“ „Von einem Tag auf den anderen veränderten sich die Kinder, die
die Shoah überlebt hatten, geistig und politisch. Sie waren zu
glühenden Zionisten geworden.“
Wenn ich diese beiden Episoden aus der Jugend meines Vaters
nebeneinander stelle, fällt mir auf, wie die erste Episode, seine
Erfahrung mit Kees auf dem Fussballplatz, durch die zweite, die
Einverleibung des Zionismus in das Gewebe seiner sich entwickelnden
Subjektivität, gefiltert zu sein scheint. Zunächst einmal
verkörpert Kees, wie mein Vater ihn beschreibt, nicht nur das
männliche Ideal des „muskulösen Judentums“ oder
„Muskeljudentums“, das von Zionisten des 19. Jahrhunderts
wie Max Nordau [1]
propagiert wurde, sondern, was noch überzeugender ist, den Prozess,
durch den der stereotype, nebulöse Diaspora-Jude negiert und durch
ein Bild des strammen Heldentums ersetzt wird. Philip Hollander
schreibt über die vorherrschende vorstaatliche zionistische
Vorstellung [2], dass „der Neue Jüdische Mann [3] (ha-yehudi he-hadash) in Palästina entstehen kann …
Elemente der diasporischen jüdischen Männlichkeit, insbesondere
jene, die durch den jiddischen Begriff Schlemiel hervorgerufen
werden, einer unbeholfenen, ungeschickten Person, einem Stümper …
mussten ausgerottet werden.“ Nur aus dieser Negation heraus konnte
„der Neue Jüdische Mann[,] robust und verwurzelt im Land wie der
Sabra-Kaktus“ entstehen.
In der Geschichte meines Vaters verwandelt
sich Kees während eines kurzen Vorfalls auf dem Spielplatz oder, wie
er andeutet, während einer Reihe von Vorfällen, die zu einer
einzigen Erzählung zusammengefasst werden, von einem zierlichen
Stotterer in das Bild der „robusten“ Männlichkeit.
Es ist bemerkenswert, dass eine vermeintlich „neu“-jüdische
Identität alte Mythen des jüdischen Heldentums wieder aufleben
lässt. Ich weiss nicht, inwieweit mein Vater die Diskurse um
zionistische Männlichkeit bewusst reflektiert – und nicht nur
verinnerlicht – hat. Aber als Literaturwissenschaftler, nicht
weniger als als praktizierender Jude, muss ihm klar gewesen sein, wie
sehr seine Geschichte mit biblischen Überlieferungen übereinstimmt.
Wenn er beschreibt, wie sein vertikal behinderter Freund seine
„grossen Hände“ benutzt, um den hochgewachsenen, muskulösen,
breitschultrigen und grossköpfigen Jungen zu erschlagen, der ihn
überragt, wie sollte er da nicht das Bild vom „Li'l David …
small, but oh my“ (wie in dem Gershwin-Song [4]),
berühmt dargestellt von Michelangelo mit übergrossen Händen, im
Kopf gehabt?
Die Geschichte von David und Goliath ist natürlich die Geschichte
des Aussenseiters der sogenannten jüdisch-christlichen Kultur
schlechthin. Im Alten Testament ist Goliath ein Krieger im Heer der
Philister, die das Gebiet südöstlich des Königreichs Israel,
einschliesslich des heutigen Gaza, besetzt halten. Davids Mut und
Gelassenheit im Kampf sichern die Zukunft und das Wohlergehen des
jüdischen Volkes, so wie die militärische Überlegenheit des
israelischen Staates heute von den Zionisten behauptet wird, um die
Sicherheit des jüdischen Volkes angesichts einer feindlichen, auf
seine Vernichtung ausgerichteten Welt zu gewährleisten. Für meinen
Vater, der damals gerade von Bildern jüdischer Tapferkeit
durchdrungen war, hätte der Fussball unter dem Arm seines Freundes,
als die beiden Jungen triumphierend über das provisorische Spielfeld
marschierten, genauso gut der abgeschlagene Kopf von Goliath sein
können. Was er tatsächlich sagt, nämlich dass Kees sich den Ball
unter den Arm klemmt „wie ein Makkabäer“, ist an sich schon
aufschlussreich. Die Makkabäer waren jüdische Krieger, die im
ersten Jahrhundert v. Chr. Judäa nicht nur zurückeroberten, nachdem
es unter hellenische Herrschaft geraten war, sondern das Reich auch
durch Eroberungen ausbauten.
Als ich ein Teenager und junger Erwachsener war, ermutigte mich
mein Vater immer wieder, eine Birthright-Reise[5]
nach Israel zu unternehmen. Ich weiss, dass er sich gewünscht hätte,
dass ich in meinen prägenden Jahren einige der gleichen Perspektiven
kennengelernt hätte, die er als junger Zionist kennengelernt hatte.
Als ich in den 1990er Jahren in Kanada und den Vereinigten Staaten
aufwuchs, inmitten einer „Welle der Holocaust-Erinnerung“, wie
sie der Historiker Quinn Slobodian vor kurzem beschrieben hat, die
mit der Veröffentlichung von Spielbergs Schindlers Liste
zusammenfiel, und mit einem Vater, der Israel sehr verbunden war und
die zweite Hälfte seines Lebens der Dokumentation der Shoah gewidmet
hatte, war die Teilnahme an Birthright ein gewöhnliches, fast
erwartetes Ritual. Aber aus Gründen, die mir erst später im Leben
voll bewusst wurden, war ich nie von der Idee angetan.
Freunde, die an einer Birthright-Reise teilnahmen, kehrten oft
verändert zurück. Sie erzählten, wie Yad Vashem, das
Holocaust-Gedenkzentrum in Jerusalem, ihnen geholfen hatte, die wahre
Bedeutung des Satzes „Nie wieder“ zu erkennen. Oder wie eine
Reise zu den Golanhöhen (syrisches Land, das seit mindestens 1973
dauerhaft von Israel besetzt ist) ihnen geholfen hat, die
geostrategische Bedeutung des Gebiets und damit die Absurdität der
Forderung nach einer Rückkehr zu den Grenzen von 1967 zu verstehen.
Fast immer sprachen sie von Masada, dem einst befestigten Plateau mit
Blick auf das Tote Meer, wo eine Gruppe jüdischer Rebellen
monatelang einer römischen Belagerung standhielt und sich angeblich
für den Massenselbstmord als Alternative zur Gefangennahme
entschied.
Ich bin dankbar, dass ich, als ich diese Orte mit Mitte zwanzig
besuchte, bereits eine kritische Perspektive auf die Geschichte und
die gegenwärtigen Folgen des Zionismus eingenommen hatte.
Rückblickend ist mir klar, dass meine Skepsis erstens durch einen
linken Internationalismus in der Familie meines Stiefvaters –
Juden, die um die Jahrhundertwende nach Kanada gekommen waren – und
zweitens durch die Erfahrung, dass mein politisches Bewusstsein erst
nach dem 11. September 2001 voll entwickelt wurde, als eine Mehrheit
der amerikanischen Öffentlichkeit ihre alarmierende Anfälligkeit
für rassistische Erzählungen von der „Klasse der Zivilisationen“
zusammen mit einem widerlichen Appetit auf blindwütige und völlig
fehlgeleitete militärische Zerstörung offenbarte, geschärft wurde.
Die Verwüstung, die der Libanon während der israelischen
Militäraktion gegen die Hisbollah im Jahr 2006 erlitten hat, hat
jede noch verbliebene Sympathie, die ich für den Zionismus meines
Vaters empfunden haben könnte, unter Haufen von gesprengtem Beton
und den massakrierten Überresten unschuldiger Zivilisten begraben.
Während meine Altersgenossen, die an Birthright-Reisen teilgenommen
hatten, Israel durch die Perspektive junger israelischer
Verteidigungssoldaten erlebten, die ihre Militanz rechtfertigen
wollten, konnte ich die Widersprüche des Staates mit meinen eigenen,
sich langsam öffnenden Augen sehen. Ich sah, wie der Enthusiasmus
meines Vaters für die wirtschaftlichen, technologischen und
landwirtschaftlichen Errungenschaften Israels – ganz zu schweigen
von den Konzertsälen, den Museen und dem pulsierenden Nachtleben –
ihn daran hinderte, die fortwährende Brutalität und Unterdrückung
zu erkennen, auf der der Staat aufgebaut ist. Aber es war nicht nur die Lebendigkeit der israelischen
Gesellschaft, die den Blick meines Vaters trübte. Die Tatsache, dass
er unter dem Nazi-Terror aufgewachsen und, wie er selbst sagte, „so
viele Jahre lang gedemütigt“ worden war, bedeutete, dass ihn jeder
Schimmer jüdischer Blüte, wo auch immer in der Welt, mit Stolz
erfüllte. Mehr noch, es bedeutete, dass jegliche Gewalt, die das
Projekt eines jüdischen Staates begründet und aufrechterhalten
hatte, schlimmstenfalls ein notwendiges Übel war. So wie seine
psychische Ökonomie ihm vorschrieb, es seinem Freund Kees für seine
Heldentaten „zurück … zu zahlen“, indem er ihn in den
zionistischen Schoss aufnahm, so würde er dem Staat Israel für die
kompromisslose Art und Weise, in der er das Leben von fast der Hälfte
der jüdischen Weltbevölkerung verteidigte, auf ewig zu Dank
verpflichtet bleiben.
Die Geschichte, wie sie vom Unterdrücker geschrieben und
gehandhabt wird, ist ein durchtriebenes Werkzeug. Die koloniale
Vorstellungskraft hat immer wieder versucht, die Machtverhältnisse
zwischen Siedlern und Eingeborenen umzukehren, die anfängliche
Landnahme auszulöschen und spätere Akte kolonialer Aggression in
Selbstverteidigung gegen Übergriffe der Enteigneten umzuwandeln. Wie
ich in meinem Buch Notes
on Trumpspace unter Berufung auf Arbeiten von Nicholas
Mirzoeff sowie von Stefano Harney und Fred Moten darlege, spiegelt
sich dieses Paradigma in der suprematistischen Ideologie der
Trump-Bewegung wider, die sich selbst als eine Kolonie vorstellt, die
von internen und externen Bedrohungen belagert wird, die nur durch
die Errichtung grösserer und besserer Sicherheitsbarrieren in Schach
gehalten werden können. Unter anderem aus diesem Grund fällt es den
Mitgliedern der extremen Rechten in der amerikanischen Politik und
weiten Teilen der israelischen Gesellschaft so leicht, sich
anzunähern.
„Die koloniale Vorstellungskraft hat immer wieder
versucht, die Machtverhältnisse zwischen Siedlern und Einheimischen
umzukehren, die anfängliche Landnahme auszulöschen und nachfolgende
Akte kolonialer Aggression in Selbstverteidigung gegen Übergriffe
der Enteigneten zu verwandeln.“
Seien Sie versichert, dass das umgekehrte Narrativ des verfolgten
Verfolgers nur dann an Macht und Überzeugungskraft gewinnt, wenn es,
wie im Falle Israels, durch die Behauptung der angestammten
Besiedlung und die lebendige Erinnerung an einen Ausrottungsfeldzug
untermauert wird, der so existenzbedrohend war, dass er die Angst vor
Verfolgung scheinbar ein für alle Mal in das Mark einer bereits
historisch verfolgten Gruppe eingeschrieben hat. „Ein Land ohne
Volk für ein Volk ohne Land“ beruhte immer auf einer
ungeheuerlichen Verfälschung der historischen Realität. Aber als
Idee erwies sie sich als schön genug für Juden, die noch immer
unter dem Holocaust litten – und als bequem genug für einen
europäischen Kontinent, in dem der Antisemitismus noch immer
brodelte – um die dauerhafte Vertreibung von einer dreiviertel
Million Menschen und die gross angelegte Zerstörung der
palästinensischen Gesellschaft vor 1948 zu rationalisieren.
Nach Sklaverei, Exodus, babylonischem Exil, den Römern, der
Inquisition, den Pogromen in Osteuropa und schliesslich dem Holocaust
ist es verständlich – um nicht zu sagen entschuldbar –, dass
eine Generation junger Juden, darunter mein Vater, ein koloniales
Unternehmen, das auf ethnischer Säuberung und Unterwerfung beruhte,
als Projekt der Erlösung missverstehen konnte. Zumindest kann ich
die stolze Kriegslust meines Vaters verstehen, die durch die
gewalttätige Weigerung seines Freundes, Hassreden zu dulden,
ausgelöst wurde; ich kann nachvollziehen, dass die von Kees
verkörperte „neue jüdische“ Männlichkeit, wie er sagt, „eine
Rolle war, in die man leicht hineinschlüpfen konnte“; und ich kann
seine Hinwendung zum Zionismus auf der Grundlage der allgemeinen
Überwindung seiner Demütigung nachvollziehen, die die Bewegung zu
bieten schien. Trotzdem bleibt jedes Mal etwas in mir hängen, wenn
ich mich an diese Episode auf dem Fussballplatz erinnere.
Wenn ich mir das Video der Shoah Foundation noch einmal ansehe,
fällt mir die seltsam verfrühte Genugtuung auf, die mein Vater
ausstrahlt, als er beginnt, die Geschichte zu erzählen. Dieses
Gefühl der Genugtuung wird schliesslich in einer Freude gipfeln, die
einem ansonsten düsteren Zeugnis am nächsten kommt. Es drückt sich
bereits in dem geheimnisvollen Grinsen aus, das auf seinen Lippen
erscheint, neben dem vertrauten Funkeln in seinen Augen, in dem
Moment, in dem er den grösseren Jungen imitiert, denjenigen, der die
antisemitische Beleidigung ausgesprochen hat. Es scheint ihm ein
perverses Vergnügen zu bereiten, die Worte laut auszusprechen
(„dreckiger Jude“), vielleicht sogar, sich kurz mit dem Täter zu
identifizieren. In Anbetracht dessen, was er kurzzeitig über seine
Verinnerlichung der „Nazi-Sichtweise“ behauptet, liegt die
Vermutung nahe, dass für ihn zumindest eine gewisse
selbstverfolgende Befriedigung mit dem Erzählen und Wiedererzählen
der Geschichte verbunden ist. Aber dieses anfängliche Vergnügen
geht nahtlos in das erwartete Gefühl der Freude und Erleichterung
über, das einen Moment später in ihm aufsteigt, als er die
Gewalttat seines Freundes gegen den Belästiger beschreibt und mit
einem ungeschickten Aufwärtshaken nachstellt.
Zugegeben, es kann sein, dass die verfrühte Genugtuung, die ich
empfinde, rein antizipatorisch ist. Da er weiss, wie die Geschichte
ausgeht, und sie schon viele Male erzählt hat, nachdem er die
fraglichen Ereignisse in seiner Kindheit offenbar wiederholt
miterlebt hat, mag er einfach nur Aufregung über das bevorstehende
Ende verspüren. Doch gerade das Gefühl der Wiederholung, das dieser
Geschichte anhaftet – eine Wiederholung, die in der Erzählung
selbst präsent ist, wenn Kees darauf besteht, den Ausdruck
„dreckiger Jude“ nicht nur einmal, sondern zweimal zu wiederholen
–, lässt mich vermuten, dass ihre Bedeutung weniger in ihrer
triumphalen Auflösung liegt als in einem tiefgreifenden Mangel an
Auflösung, für den die Notwendigkeit, die Geschichte erneut zu
erzählen, symptomatisch ist. Je mehr ich mit ihr gerungen habe,
desto mehr bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es bei dieser
Geschichte vor allem auf die wiederholte Rückkehr meines Vaters in
einen Kreislauf von Verfolgung und Vergeltung ankommt, der kein Ende
hat, oder vielmehr ein erfreuliches Ende an sich darstellt.
Dies wird bereits durch die Art und Weise, wie die Erzählung
aufgebaut ist, angedeutet. Wie ich bereits angedeutet habe, sind die
beiden scheinbar getrennten „Teile“ der Geschichte in
Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden.
Die Szene auf dem Fussballplatz ist von vornherein durch die Erfahrungen in Habonim
gefärbt, zu denen sie führt. Die psychologische Struktur der
Geschichte, die so etwas wie das Terrain ist, auf dem mein Vater
einen Grossteil seines Lebens verbracht hat, gleicht also einem
Möbiusband, einer unendlichen Geschichte. Das wird auch oder gerade
dann deutlich, wenn er auf einem Gefühl der Endgültigkeit besteht.
„Es gab immer Blut, und es war immer das Ende … du
weisst, game over“, sagt er über die Taten von Kees. In
diesem Moment seiner Aussage ist die emotionale Entladung meines
Vaters am tiefsten. Seine Augen sind glasig vor Tränen. Seine Stimme
schwankt am Rande eines Zitterns, dem sie nie ganz erliegt. „Und
dann sagte er zu mir – es war wie ein Code – er sagte: 'Komm,
Yehudi, wir gehen nach Hause.'“ Aber schon in der Erwähnung der
Heimat, diesem schlüssigsten aller Begriffe oder Codes, ist etwas
anderes verschlüsselt. Da ist die grössere Heimkehr, die folgen
wird, die Notwendigkeit der „Rückkehr“ nach Zion, die während
der wöchentlichen Versammlungen der Habonim bekräftigt wird,
Versammlungen, die in der Tat ziemlich weit weg von zu Hause
stattfinden werden: „weit draussen … am Rande der Stadt“, sagt
mein Vater, und vor allem weit weg von ihren Eltern – „diejenigen
von uns, die Eltern hatten“, fügt er hinzu.
Am Ende dieses „zweiten Teils“ der Geschichte, gleich nach der
Bemerkung, dass unter den überlebenden Kindern, die an den
wöchentlichen Treffen bei Habonim teilnahmen, über ihre
Kriegserlebnisse „nie ein Wort gefallen ist“, macht mein Vater
eine weitere Bemerkung, die ich noch nicht erwähnt habe. Er sagt,
dass „eine Erneuerung und eine … Transformation in uns zu wirken
begann, die eine sehr dauerhafte Wirkung haben würde.“
Diejenigen, deren Studium oder Praxis vom psychoanalytischen
Denken geprägt ist, werden bereits ein Problem erkannt haben: Jede
„Transformation“, die auf dem Verstummen der Sprache und der
Verdrängung der Vergangenheit beruht, läuft Gefahr, immer nur auf
eine unendliche Wiederholung einer früheren Szene hinauszulaufen,
wenn auch auf einer anderen Bühne. Bereits in der Sequenz
„Erneuerung … Transformation“ deutet sich ein Widerspruch an.
Wesentlich für das zionistische Projekt der Nachkriegszeit ist das
Bestreben, „die alten Wege hinter sich zu lassen“ – Worte, die
mein Vater in seinem Zeugnis mit einer Handbewegung über die
Schulter unterstreicht, als wolle er sagen: So
lange her, seit dieser dunklen Geschichte. Aber es ist auch notwendig, diese alten Wege
durch ein Bild zu ersetzen, das gleichzeitig aus der ferneren
Vergangenheit wiederbelebt oder erneuert und in die nahe Zukunft
projiziert wird: das Bild des jüdischen Heldentums.
Um Hollander in Erinnerung zu rufen: Das zionistische Projekt und
die Einrichtung einer „robusten“, angeblich „neuen“ Version
der jüdischen Identität „erforderte shlilat ha-golah oder
die Negation der Diaspora“; das heisst, eine Negation des Zustands
des Exils und der Zerstreuung, den viele Juden damals wie heute als
Grundlage ihrer Identität ansehen, eine Negation, die der Zionismus,
als radikal ethnonationalistisches politisches Projekt, ideologisch
verunglimpft. Im Fall von überlebenden Kindern wie meinem Vater war
die diasporische Existenz, die manchmal auch als galut
bezeichnet wird, jedoch grundlegend mit der Erfahrung der
völkermörderischen Verfolgung verwoben, die, wie die Geschichte auf
dramatische Weise gezeigt hat, nicht einfach weggewischt werden kann.
Gleichzeitig, und zweifellos zum Teil als Folge davon, war das
muskulöse Bild der „neuen jüdischen“ Identität – schon
fragwürdig genug in seiner hypermaskulinen und stärksten
Untermauerung – von pathologischen Impulsen durchdrungen: die
hässliche Freude an Vergeltungsgewalt, die ich in der wiederholten
Rückkehr meines Vaters zur Geschichte von Kees auf dem Fussballplatz
wahrnehme. In diesem Zusammenhang könnte man „Erneuerung“ und
„Verwandlung“ eher als die unvollkommene Kristallisation
identitärer Phantasien und das Anlegen eines geschlossenen
Kreislaufs von Verfolgung und Vergeltung an die schwärende Wunde der
kindlichen Ängste und Demütigungen beschreiben.
Es erübrigt sich zu sagen, dass der Sozialisierungsprozess, um
den es hier geht, nur Ärger bedeuten kann. Der „neue Jude“, der
durch den Zionismus diszipliniert oder subjektiviert wurde, kann
nicht anders, als von seinem verdrängten Rest verfolgt zu werden.
Das Teil des psychosozialen Puzzles, über das „kein Wort
gesprochen wurde“, wird gerade wegen seiner Unterdrückung dazu
neigen, sich gewaltsam wieder durchzusetzen. Wenn ich meinen
Beobachtungen meines Vaters über den Lauf seines Erwachsenenlebens
Glauben schenken darf, kann die Verdrängung von Angst und Scham bei
den Verfolgten sogar dazu führen, dass diejenigen, die diese
verborgenen Aspekte ihrer Identität im Stillen beherbergen,
zwanghaft nach möglichen Verfolgungen suchen, um sich selbst noch
stärker zu bestätigen. Es geht nicht nur darum, dass die Erfahrung
des Opferseins in diesem Fall zu einer aggressiven Behauptung der
ethnoreligiösen Identität führt, obwohl dieser Gedanke an sich
schon beunruhigend genug ist. Es geht darum, dass die Opferrolle
selbst ein starkes Gefühl der identitären Bestätigung mit sich
bringt. Unter solchen Bedingungen kann die Welt als Ganzes leicht als
feindliches Gebilde wahrgenommen werden, und Vergeltungsphantasien
gedeihen auf Kosten der Versöhnung.
Dieses Zusammentreffen von unbewältigter traumatischer Erfahrung
und sich wiederholender Vergeltungsgewalt ist meiner Ansicht nach
nicht nur für das Verständnis der prägenden Jahre meines Vaters,
sondern für die zionistische Identität der Nachkriegszeit im
Allgemeinen von entscheidender Bedeutung: Die zionistische Bewegung
im weiteren Sinne, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg neu formte
und die in vielerlei Hinsicht die Grundlage für den heutigen Staat
Israel bildet, war selbst nichts anderes als eine falsche Lösung,
die zu einer unermüdlichen Wiederholung – jetzt auf kollektiver
Ebene durchgeführt – der identitätsbestätigenden Gewalt führte,
die durch das Opferdasein untermauert wurde.
Der Sechs-Tage-Krieg ist in dieser Hinsicht paradigmatisch. In seinem Buch The Hundred
Years' War on Palestine stellt Rashid Khalidi fest, dass Israel,
wie Washington sehr wohl wusste und israelische Generäle später
zugaben, einen überwältigenden militärischen Vorteil gegenüber
den arabischen Armeen hatte, die es im Sommer 1967 präventiv angriff
und vernichtete. Dennoch wird der aus diesem Krieg entstandene Mythos
von „einem winzigen, verletzlichen Land“, das „einer ständigen,
existenziellen Gefahr“ ausgesetzt ist, weiterhin benutzt, „um die
pauschale Unterstützung der israelischen Politik zu rechtfertigen,
egal wie extrem sie ist“.
Wenn es ein Bild gibt, das diese Logik im Kontext unserer
Gegenwart untermauert, dann ist es das merkwürdige Kleidungsstück,
das der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad
Erdan, nach den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober im Süden Israels
trug. Als die IDF zu einer massiven Zerstörungskampagne im
Gazastreifen ansetzte, begann der Botschafter, sich im
UN-Hauptquartier mit einem Davidstern-Aufnäher auf dem Hemd zu
zeigen – ein Akt des politischen Theaters, der von
keinem Geringeren als dem Leiter von Yad Vashem als unehrenhaft
bezeichnet wurde. In der Mitte dieses Davidsterns, der an die
Aufnäher erinnert, die die Nazis während des Holocausts zur
Kennzeichnung der Juden verwendeten, waren die bekannten Worte „Nie
wieder“ eingraviert. Es versteht sich von selbst, dass „Nie
wieder“ hier keineswegs bedeutet, dass nie wieder ein Völkermord
an irgendeinem Volk auf der Erde begangen wird. Als ich kürzlich in
den sozialen Medien andeutete, dass dies tatsächlich die wahre
Bedeutung des Satzes sein sollte, wurde ich von einem zionistischen
Bekannten zurechtgewiesen: „Es bedeutet, dass die Juden nicht mehr
in Konzentrationslager geschickt werden. Mit etwas anderem hat es
nichts zu tun.“ Aber ich denke, dass selbst dieses verblüffend
kaltschnäuzige Eingeständnis ethnonationalistischer Zugehörigkeit
eine zu freundliche Definition für den Ausdruck darstellt, wie er im
obigen Kontext verwendet wird.
In den zwei Monaten nach dem 7. Oktober warf Israel 29.000 Bomben,
Granaten und Munition – fast die Hälfte davon ungezielte
„Blindgänger“ – auf ein Gebiet von der Grösse Detroits, aber
mit einer viel höheren Bevölkerungsdichte. Wie das
Wall Street Journal berichtete, ist dies mehr als das Achtfache
der Munition, die die USA zwischen 2004 und 2010 über dem Irak
abgeworfen haben. Die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung,
von denen die meisten Frauen und Kinder sind, geht inzwischen in die
Zehntausende. Krankenhäuser, Schulen und Gotteshäuser wurden in
Schutt und Asche gelegt.
Säuglinge wurden in stromlosen Brutkästen
dem Tod überlassen, während Ärzte, die unter der israelischen
Belagerung keine medizinische Versorgung mehr haben, gezwungen waren,
Amputationen ohne Betäubung vorzunehmen. Siebzig Prozent der
Wohnungen wurden in
einem Akt des „Domizids“ zerstört oder beschädigt, was
viele Rechtsgelehrte als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ansehen.
Fast zwei Millionen Menschen wurden vertrieben. Der Wasserstand ist
auf weniger als ein Zehntel der empfohlenen Menge pro Person und Tag
gesunken. Human Rights Watch hat festgestellt, dass Israel das Kriegsverbrechen des Einsatzes von Hunger als Waffe gegen die
Zivilbevölkerung im Gazastreifen begeht. Innerhalb weniger Monate
wurden im Gazastreifen mehr Journalisten getötet als in jedem
anderen Konflikt der letzten dreissig Jahre auf der Welt. Wer immer
noch leugnet, dass Israel von Anfang an eine Kampagne des wahllosen
Abschlachtens und der Zerstörung geführt hat, braucht sich nur die
drei israelischen Geiseln anzusehen, die von IDF-Soldaten erschossen
wurden, nachdem sie ohne Hemd aus einem Gebäude kamen, eine weisse
Fahne schwenkten und, im Falle eines von ihnen, auf
Hebräisch um Hilfe schrien.
Vier Monate nach Beginn der Kampagne in Gaza stand das Verhältnis
von palästinensischen zu israelischen Todesopfern bei fast dreissig
zu eins. Und dennoch haben die israelische Regierung, ihre westlichen
Verbündeten und ihre Stellvertreter in den Medien den Staat
weiterhin so dargestellt, als sei er an einer Präzisionsoperation
zur Selbstverteidigung beteiligt. In diesem Zusammenhang lässt sich
die schamlose Instrumentalisierung des Holocausts, die durch den
Davidstern des israelischen UN-Botschafters veranschaulicht wird und
täglich zur Aufrechterhaltung von Massengrausamkeiten eingesetzt
wird, am besten mit der selbstkritischen Einschätzung des
israelischen Journalisten Gideon Levy über sein Geburtsland
erklären: „Als Opfer und einziges Opfer in der Geschichte“, so
Levy, gibt sich Israel das Recht, „zu tun, was wir wollen“ –
offensichtlich bis hin zur ethnischen Säuberung einer ganzen Region
und eines ganzen Volkes und der blutigen Opferung israelischer Bürger
im Namen dessen, was die IDF treffend als „maximaler Schaden“
bezeichnet.
Wenn ich darüber nachdenke, wie mein Vater auf den Auftritt des
UN-Botschafters reagiert haben könnte, stelle ich mir vor, wie er
eine Geste macht, die er manchmal macht. Ich sehe ihn, wie er seine
Finger an die Stirn legt, den Kopf schüttelt und dann ungläubig
nach oben blickt. Ich bin mir fast sicher, dass seine erste Reaktion
Ungläubigkeit gewesen wäre. So sehr ich mir auch wünsche, dass es
anders wäre, ein kleiner Teil von mir stellt diese Überzeugung
jedoch in Frage. Wenn ich die Augen schliesse und meine
Idealvorstellungen loslasse, kann ich auch sehen, wie er sich mit
einem vertrauten Augenzwinkern zu mir umdreht und vielleicht ein
wenig mit den Schultern zuckt: „Chuzpe.“ Und dann: dieses
geheimnisvolle Grinsen.
Wenn ich mir das vorstellen kann, dann deshalb, weil es mehr als
nur eine flüchtige Ähnlichkeit zwischen dem hässlichen Vergnügen,
das ich in der Aussage meines Vaters bei der Shoah Foundation zu
erkennen versucht habe, und der Selbstzufriedenheit des
UN-Botschafters gibt. Das ist es, was ich schliesslich so
beunruhigend an dem Gesichtsausdruck meines Vaters finde, als er vor
der Kamera sitzt und über seine Jugend nachdenkt, und zwar aus der
Position – das muss jetzt betont werden – eines Professors
mittleren Alters, der sich in den geopolitischen Ausrichtungen, die
in der Nachkriegszeit Gestalt annahmen, und in der psychologischen
Festung, die er um sein Leiden herum gebaut hat, sicher fühlt. Es
ist nicht nur sein spürbares Gefühl der Verbundenheit mit seinem
Status als zentrale Opferfigur in der westlichen Geschichte des 20.
Jahrhunderts, mit all der Verstärkung, die diese Bezeichnung durch
den akademischen Diskurs, das populäre Kino und die liberale
Identitätspolitik erfahren hat; es ist seine Genugtuung darüber,
dass er gleichzeitig weiss, dass dank der historischen Umstände jede
Bedrohung seiner Identität oder seines Wesens schnell, gewaltsam und
vor allem auf eine Weise behandelt wird, die sein Gefühl der
Unstrafbarkeit bewahrt.
Ob sich mein Vater in dem Moment, in dem er seine Geschichte
erzählt, dessen bewusst ist oder nicht, steht hinter dem Schlag, den
Kees dem Jungen auf dem Fussballplatz versetzt hat, das
Schreckgespenst der von den Amerikanern unterstützten militärischen
Überlegenheit, die Israels ethnonationalistische Vorrechte
jahrzehntelang aufrechterhalten hat, in Übereinstimmung mit dem
perversen geopolitischen Prinzip, dass Macht Recht schafft. Aber es
gibt noch etwas Beunruhigenderes, das hier im Spiel ist. Da der
Holocaust tatsächlich zu einem Ereignis von nahezu eschatologischem
Ausmass singularisiert und sakralisiert wurde, das mit keinem anderen
Verbrechen in der Geschichte vergleichbar ist, gibt es die kollektive
Fantasie einer Vergeltung, die dem vom jüdischen Volk erlittenen
Leid angemessen wäre. Dies ist zumindest teilweise der Grund für
Benjamin Netanjahus Versprechen einer „mächtigen Rache“, seine
Beschwörungen von Amalek und die biblische Aufforderung, „Männer
und Frauen, Säuglinge und Kleinkinder gleichermassen zu töten“.
Es spiegelt sich in den Behauptungen des israelischen
Verteidigungsministers Yoav Gallant wider, dass die Bewohner des
Gazastreifens „menschliche Tiere“ seien und dass die IDF „alles“
in der Region „eliminieren“ würden. Es ist dasselbe Reservoir
grenzenloser Bestrafung, aus dem der israelische Nachrichtensprecher
Shay Golden von Kanal 14 schöpfte, als er Massenvernichtung
versprach und nicht nur behauptete, Israel werde „nach Gaza kommen
… in den Libanon … in den Iran“, sondern dass sie „bereit
sind, mit den Vereinigten Staaten“ und „der ganzen Welt“ zu
kämpfen.
Eine logische Folge dieser Fantasie von erhabener Vergeltung ist
das Gefühl zusätzlicher oder übermässiger Verletzlichkeit, das
jeden Gewaltakt gegen den Staat Israel zu begleiten scheint. Sarah
Schulman hat über „die Entmenschlichung geschrieben, die mit der
Übertreibung des Schadens als Rechtfertigung der Grausamkeit
einhergeht“. Nirgendwo hat sich dies deutlicher gezeigt als in der
Notwendigkeit, das, was bei dem tödlichen Angriff der Hamas am 7.
Oktober schon erschreckend genug erschien, noch
weiter auszuschmücken. Die in den Medien und in den Hallen der
Macht wiederholten Falschdarstellungen von enthaupteten, in Öfen
verbrannten oder an Wäscheleinen aufgehängten Babys und von Föten,
die ihren Müttern aus dem Leib gerissen wurden, zeugen nicht nur von
einer verschleierten Verachtung für die Ermordeten, einer
Reduzierung von Verlust und Leid auf ein pornografisches Spektakel;
sie spiegeln die extreme Entmenschlichung der palästinensischen
Bevölkerung wider, die Teil der notwendigen psychologischen
Vorarbeit für die Schrecken war, die wir jetzt in Gaza erleben.
Schulman stellt fest, dass pathologisch starren Kontrollsystemen
der Glaube an sich selbst als Mensch und an den anderen als
Nicht-Mensch zugrunde liegt: ein Gespenst oder Monster“. Während
die IDF damit beschäftigt war, alle
zehn Minuten ein Kind in Gaza zu töten, haben sich
Internet-Influencer in Israel an rassistischen Stereotypen ergötzt,
indem sie sich selbst in Keffiyehs kleideten, ihre Zähne schwarz
anmalten und sich Kunstblut ins Gesicht schmierten, um das
palästinensische Leiden zu verhöhnen. Ha'aretz
berichtet, dass die IDF-Einheit für „psychologische
Kriegsführung“ einen Telegram-Kanal mit dem Namen „72 Jungfrauen
- unzensiert“ betrieben hat, der illegal und heimlich das lokale
israelische Publikum mit grafischen Bildern von getöteten Menschen
aus dem Gazastreifen anspricht. Die Bildunterschriften zu den
geposteten Inhalten bestätigen das Ausmass, in dem die
Entmenschlichung des Anderen zu Unmenschlichkeit in einem selbst
führt. Ein Beitrag lautet: „Verbrennung ihrer Mutter … Ihr
werdet das Video nicht glauben, das wir bekommen haben! Man kann das
Knirschen ihrer Knochen hören. Wir werden es sofort hochladen, macht
euch bereit.“ In einem anderen steht: „Vernichtung der Kakerlaken
… Teilen Sie diese Schönheit.“ Auf dem Boden, im Internet und in
den Vorstellungen einer Gesellschaft, die sich auf
Vorurteilsphantasien gründet und diese aufrechterhält, bleibt der
Kreislauf der verfolgenden Gewalt ungebrochen.
„Auf dem Boden, online und in den Vorstellungen
einer Gesellschaft, die sich auf Vorurteilsphantasien gründet und
von diesen aufrechterhalten wird, bleibt der Kreislauf der
verfolgenden Gewalt ungebrochen.“
Wenn ich darüber nachdenke, wie mein Vater – ein fürsorglicher
und gelehrter Mensch, der von seiner Familie und seiner Gemeinde
geliebt wurde und, das muss gesagt werden, von seinem einzigen Kind
schmerzlich vermisst wurde – einen so grossen Teil seines Lebens
damit verbringen konnte, in einem Kreislauf der
Verfolgungsbefriedigung gefangen zu sein, und zwar in einem Masse,
dass es kaum ein längeres Gespräch zwischen uns gab, das sich nicht
in irgendeiner Weise mit jüdischen Missständen überschnitt, werde
ich zu einer seiner abschliessenden Bemerkungen über seine frühen
Tage in der zionistischen Bewegung zurückgeführt: „Und kein Wort
wurde je erwähnt, nicht über den Krieg, nicht über das
Untergetauchtsein, nichts über unsere Geschichte.“
Für Freud wurde der „Wiederholungszwang“ (um den Freudschen
Begriff für das von mir beschriebene sich wiederholende Verhalten zu
verwenden) zu einem zentralen Thema der zweiten Hälfte seines Werks,
das schliesslich 1920 in Jenseits des Lustprinzips mündete.
In diesem Werk wird der berühmte „Todestrieb“ eingeführt, nicht
zufällig im Zusammenhang mit der Betrachtung der hartnäckigen
Widerstände, die sich in der Psyche der durch den Ersten Weltkrieg
traumatisierten Menschen gebildet haben. Freuds erste Erwähnung des
Wiederholungszwangs findet sich jedoch in seinem Aufsatz „Erinnern,
Wiederholen und Durcharbeiten“ aus dem Jahr 1914; und in dieser
kurzen Reflexion über das klinische Setting präsentiert er uns eine
Einsicht, die für das Verständnis des vorliegenden Materials
nützlich sein könnte.
Was Freud zunächst zu dieser Formulierung
führt, ist seine Verwirrung über die Art und Weise, in der der
Patient in der Behandlung eine verdrängte traumatische Erfahrung
nicht ins Bewusstsein bringt, wie es die psychoanalytische Technik
vorschreiben würde, sondern sie im Verlauf der Übertragung
„ausspielt“. Das heisst, der Patient „reproduziert [das
Erlebnis] nicht als Erinnerung, sondern als Handlung; er wiederholt
es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt.“
Freud gibt einige Beispiele für die obigen Ausführungen. Er
verweist zunächst auf den Patienten, der sich als Kind der Autorität
seiner Eltern widersetzt und diese Widersetzlichkeit später beim
Analytiker reproduziert. Dann führt er das Beispiel des Patienten
an, dessen „hilfloser und hoffnungsloser Stillstand in seinen
kindlichen sexuellen Forschungen“ sich als Gefühl der
Hilflosigkeit in den täglichen Unternehmungen reproduziert. Und
schliesslich gibt es den Patienten, dessen Schamgefühl über seine
sexuellen Aktivitäten und die Angst, dass sie aufgedeckt werden,
sich als Scham und Geheimniskrämerei über seine Behandlung
wiederfindet.
Die Zwänge sind also vielfältig: Trotz,
Hilflosigkeit, Scham, Angst. Zweifellos gibt es noch viele andere.
Aber es ist schwer zu übersehen, wie leicht Freuds beispielhafte
Formen des Ausagierens mit den Lebensgeschichten von
überlebenden Kindern wie meinem Vater in Einklang gebracht werden
können. Es waren Individuen, deren Identität um des Überlebens
willen verborgen werden musste; deren Selbstwahrnehmung danach von
Scham durchdrungen war; und deren „Hilflosigkeit und
Hoffnungslosigkeit“ in einem zutiefst beeindruckenden Moment ihrer
Entwicklung nur von Gefühlen des Trotzes gegenüber einer
unbezwingbaren Autorität begleitet sein konnte.
Mein Vater war von der therapeutischen Rolle, die die zionistische
Bewegung im Leben der überlebenden Kinder spielte, fest überzeugt.
Aber die Therapie, um die es hier geht, muss als Gegensatz zu allem
verstanden werden, was die Psychoanalyse mit dem Begriff „Behandlung“
meint. Im Rahmen der Habonim wurde meinem Vater und seinen
Altersgenossen nicht nur die Erlaubnis erteilt, die Vergangenheit zu
verdrängen, sondern sie wurden auch ermutigt, sie zu reproduzieren,
in Freuds Worten „nicht als Erinnerung, sondern als Handlung“.
Ihre Umerziehung beinhaltete nicht nur eine Negation ihrer
diasporischen Identitäten, sondern eine aktive Erneuerung einer
tieferen Geschichte des jüdischen Heldentums, die mit
heteromaskulinen Idealisierungen des 19. und 20. Jahrhunderts
überlagert und in der Figur des so genannten „neuen Juden“
verdichtet wurde. Gleichzeitig manifestierte sich die kollektive
Umsetzung des politischen Zionismus, an der die Kriegsgeneration
beteiligt war, als ein gleichzeitiges Ausagieren unbewusster
Verstrickungen von Angst, Scham und Hilflosigkeit, d.h. von
Opferrolle einerseits und absolutem Widerstand
andererseits. Ethnonationalismus als sich selbst entlastende Gewalt:
ein doppelt brutaler Apparat, da seine äussere Unterdrückung von
innerer Unterwerfung abhängt. Wie Jacqueline Rose geschrieben hat:
„Wegen des Widerstands der Eingeborenen, auf den er zwangsläufig
stossen musste (wie [Ze'ev] Jabotinsky einräumte), aber auch, weil
er eine so leidenschaftliche Identifikation anwirbt und voraussetzt,
kann der Zionismus nicht anders, auch wenn er sich bis heute grosse
Mühe gibt, dieses innere Wissen zu verdrängen, als eine
gewalttätige – d.h. sowohl innerlich als auch äusserlich
gewalttätige – Angelegenheit zu sein.“
Wenn ich ein Foto meines Vaters betrachte, das irgendwann in den
1950er Jahren in einem Habonim-Sommerlager aufgenommen wurde, als er
einer der Leiter der Amsterdamer Sektion der Gruppe wurde, spüre ich
etwas von der inneren Gewalt, die nötig war, um seine Treue zu dem
radikalen Projekt aufrechtzuerhalten, dem er sich verschrieben hatte.
Auf dem Bild steht er zwischen zwei Reihen von Kindern, die viel
jünger sind als er. Neben ihm stehen zwei andere Lagerleiter, ein
Mann und eine Frau, in Arbeitskleidung. Die beiden stehen aufrecht
und haben die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sie sehen
lässig und selbstbewusst aus, und obwohl sich ihre Aufgaben
wahrscheinlich kaum von denen eines gewöhnlichen
Sommercamp-Betreuers unterscheiden, könnten sie leicht als Militante
durchgehen. Mein Vater jedoch lässt seine langen Arme an den Seiten
baumeln. Sein Hemd hat ein Muster, das ihn von den anderen
Lagerleitern unterscheidet. Er trägt eine Brille und hat sich – in
typisch exzentrischer Weise – einen Schal um den Hals gewickelt.
Mein Vater war kein Schlemihl, aber er war auch keine Sabra. Er war
ein Bücherwurm, sensibel, charmant, liebenswert unbeholfen und
manchmal etwas weniger liebenswert neurotisch; gut aussehend, ein
bisschen ein Nerd. Wie er da auf dem Foto steht, mit den Händen auf
den Oberschenkeln und den Füssen nach aussen gestreckt, sieht er für
mich aus, als würde er eine Rolle spielen. Auch wenn die raue,
kämpferische „neue jüdische“ Identität, wie er in seiner
Aussage sagt, „eine Rolle war, in die man leicht hineinschlüpfen
konnte“, war es eine, für die er nie ganz geschaffen war.
Dass dem Nachkriegszionismus eine tiefe Ambivalenz zugrunde liegt,
lässt sich an der Art und Weise ablesen, in der der israelische
Staat der Geschichte der Juden im Zweiten Weltkrieg gedenkt. Der Tag,
an dem des Holocausts gedacht wird, ist als „Tag der Zerstörung
und des Heldentums“ bekannt. Rose merkt an, dass das Datum des
Gedenkens „so nahe an das Datum des Warschauer Aufstands gelegt
wurde, wie es die religiösen Gesetze in Bezug auf das Pessachfest
zuliessen“. Die anschliessende Verabschiedung des „Gesetz zum
Gedenktag an Holocaust und Heldentum“ und die
Entscheidung, der Ermordeten, nicht aber der Überlebenden zu
gedenken, würden später bestätigen, dass „das Gedenken an
Warschau zuerst, an die Überlebenden zuletzt und am wenigsten
konditioniert war.“ Für Israel, so Rose abschliessend, „dringt
das Trauma in die nationale Psyche in Form von Widerstand gegen
seinen eigenen Schmerz ein“. Auf der individuellen Ebene war das
nationale und politische Projekt des Zionismus, wie die Erfahrungen
meines Vaters bezeugen, eine Alternative zu einer schwierigeren
Aufgabe – vielleicht, wie Freud es sah, die schwierigste Aufgabe:
ihren Schmerz durchzuarbeiten.
Zu den Schwierigkeiten des „Durcharbeitens“ macht Freud zwei
Bemerkungen, die in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert sind.
Erstens beschreibt er die Bemühungen des Analytikers, dem Patienten
zu helfen, „seine Erinnerungen auszugraben“ und schliesslich zu
einer „Versöhnung mit dem verdrängten Material“ zu gelangen,
als einen Prozess der Entwaffnung. Durch den Prozess der
Konfrontation mit den verdrängten Erinnerungen zum Handeln
gezwungen, „bringt der Patient“, schreibt Freud, „aus dem
Arsenal der Vergangenheit die Waffen hervor, mit denen er sich gegen
den Fortschritt der Behandlung verteidigt – Waffen, die wir ihm
eine nach der anderen entreissen müssen.“ Zweitens beschreibt
er das Projekt der Aufarbeitung des eigenen Widerstands gegen
Versöhnung und Genesung als abhängig von einer Form des Trotzes; in
diesem Fall ein Trotz, der das Trauma nicht in gewaltsame
Selbstbehauptung umsetzt, sondern sich geduldig und beharrlich
weigert, einem solchen Impuls nachzugeben.
„Man muss dem Patienten
Zeit geben, sich mit diesem Widerstand vertraut zu machen“,
schreibt er, „ihn durchzuarbeiten, ihn zu überwinden, indem
man ihm zum Trotz die analytische Arbeit fortsetzt.“ Es mag zwar
sein, dass einige Überlebende der Naziverfolgung nach dem Krieg in
der Lage waren, sich ihrem Schmerz zu stellen, vielleicht sogar im
klinischen Umfeld, aber meinem Vater und seinen Kollegen wurde keine
solche Zeit zur Durcharbeitung, keine solche Kultivierung der
schwierigeren Form des Widerstands, die Freud identifizierte,
gewährt. Im Gegenteil, was sie in der zionistischen Jugendbewegung
fanden, war ein zweckmässiges Mittel, um im Namen der
ethnonationalistischen Militanz die psychologischen Waffen zu
stärken, mit denen sie sich gegen ihre aufgewühlten Gemüter
verteidigten.
„Was sie in der zionistischen Jugendbewegung fanden,
war ein zweckmässiges Mittel, um im Namen der ethnonationalistischen
Militanz die psychologischen Waffen zu stärken, mit denen sie sich
gegen ihre verstörten Seelen verteidigten.“
Im vergangenen Sommer besuchte ich zum ersten Mal seit dem Tod
meines Vaters die Niederlande. Im Forschungszentrum von Kamp
Westerbork, dem Ort, von dem aus 102.000 Juden in den Tod deportiert
wurden, führte ich ein Gespräch mit Bert Jan Flim, einem Experten
für kindliche Überlebende des Holocaust, dessen Dissertation mein
Vater vor Jahrzehnten betreut hatte.
Eine häufige Erfahrung unter
den kindlichen Überlebenden, so Flim, ist, dass ihnen gesagt wurde,
dass sie „keine besondere Aufmerksamkeit verdienten“. Obwohl die
meisten, wenn nicht alle, Familienmitglieder verloren und Jahre des
Terrors und der Verwüstung durchlebt hatten, wurden sie als die
„Glücklichen“ betrachtet, und deshalb wurde ihnen gesagt, sie
sollten „den Mund halten“, „die Vergangenheit hinter sich
lassen und mit ihrem Leben weitermachen“. Flim ist meines Wissens
kein Freudianer, aber seine Wahrnehmungen des psychologischen
Tributs, den dies für das spätere Leben der überlebenden Kinder
bedeutete, weisen auf einen klassischen Fall der Rückkehr des
Verdrängten hin. „Wenn man nur nach vorne schaut und sich nicht
mit dem konfrontiert, was passiert ist“, sagte er mir, „wenn du
dich dem nie stellst, kann es vielleicht in dir stecken bleiben und
zu Problemen in deinem Leben [führen].“
Für meinen Vater begann die ernsthafte Auseinandersetzung mit
dem, was er als Kind erlebt hatte, erst in den 1980er Jahren, als er
an der ersten Konferenz teilnahm, die speziell für Kinder, die den
Holocaust überlebt hatten, veranstaltet wurde. In der Zeit zwischen
seinen Jahren bei den Habonim und seiner ersten ernsthaften
Auseinandersetzung mit sich selbst als „überlebendes Kind“ wurde
seine Zugehörigkeit zu Israel nur noch stärker. Im Jahr 1967, als
der Sechstagekrieg ausbrach, war er Doktorand in Harvard. Innerhalb
von vierundzwanzig Stunden sass er in einem Flugzeug nach Israel, wo
er als Freiwilliger in Krankenhäusern arbeitete und später bei den
Nachkriegsarbeiten half. Seine engsten überlebenden Cousins waren
Kibbuzniks und er besuchte sie häufig im Norden des Landes.
Seine
Partnerin in den prägendsten Jahren meiner Kindheit war eine
Israelin. Zeit meines Lebens kannte ich ihn als einen ziemlich
typischen liberalen Zionisten, d. h. eine Person, die in der Lage
war, unzählige widersprüchliche Überzeugungen zu vertreten. Er
glaubte an eine Zweistaatenlösung, aber nur unter Bedingungen, die
wichtige Aspekte der palästinensischen Souveränität negierten. Er
glaubte, dass der Friedensprozess an der Unnachgiebigkeit der
Palästinensischen Befreiungsorganisation in Fragen wie dem
Rückkehrrecht gescheitert war und nicht an den grundsätzlich
ungerechten Bedingungen der Verhandlungen. Er hielt an der
Vorstellung fest, dass Frieden eines Tages möglich gewesen wäre,
wenn Yitzhak Rabin nicht ermordet worden wäre, aber er scheute sich
– zumindest bis kurz vor seinem Lebensende – davor, die extreme
Rechte Israels und die Siedlerbewegung zu nennen, die für die
Ermordung Rabins verantwortlich waren.
Er war der Meinung, dass die
Sperranlagen[6] ein bedauerliches, aber notwendiges Instrument zur Aufrechterhaltung
der israelischen Sicherheit sei. Er konnte echte Besorgnis über das
Leiden der Palästinenser, insbesondere der palästinensischen
Kinder, zum Ausdruck bringen. Aber er war grundsätzlich unfähig,
die israelische Schuld anzuerkennen, und konnte leicht entrüstet
sein, wenn er auf die Untaten des Staates hingewiesen wurde. In Sabra
und Shatila 1982 waren es die libanesischen Phalangisten, die für
das mutwillige Abschlachten palästinensischer Flüchtlinge
verantwortlich waren; das Massaker von Qana 1996, bei dem die IDF ein
UN-Gelände zerstörten, in dem Hunderte von Zivilisten Schutz
gesucht hatten, war eine Fehlkalkulation des Krieges; die Zerstörung
von Dschenin 2002 war eine verständliche Reaktion auf die laufende
Intifada; usw.
Zu den jüngeren Ereignissen im Gazastreifen und im Westjordanland
sagte er oft, wie schrecklich und herzzerreissend das alles sei,
bevor er schnell das Thema wechselte. Er wusste, dass sich der
Diskurs seit vielen Jahren verändert hatte. Die ehemals weit links
stehenden Positionen wurden immer mehr zum Mainstream. Selbst
innerhalb der Chavurah-Gruppetehenden Positionen wurden immer mehr zum Mainstream. Selbst
innerhalb der Chavurah-Gruppe, die er in Montreal mitbegründet hatte, war seine entschiedene
Pro-Israel-Position nicht mehr zeitgemäss.
Gegen Ende seines Lebens
verstummten die Gespräche zwischen uns über den Nahen Osten, die
zwischen lebhaften Debatten und hitzigen Auseinandersetzungen
schwankten, allmählich. Ab und zu schickte er mir einen Artikel aus
Ha'aretz, wenn er gut gelaunt war, oder aus der Jerusalem
Post, wenn er sich provokant fühlte. Ich versuchte mein Bestes,
ausgeglichen zu bleiben und den Köder nicht zu schlucken, wenn er
mir angeboten wurde. Ich glaube, wir wussten beide, dass dies einer
von vielen Aspekten unserer Beziehung war, der ungelöst bleiben
musste.
Die meiste Zeit seines Lebens spielte mein Vater mit dem Gedanken,
eines Tages Aliyah zu machen, d.h. nach Israel zu ziehen. Zumindest,
so überlegte er, könnte er eine kleine Ferienwohnung am Mittelmeer
kaufen, irgendwo nördlich von Haifa. Kurz vor seinem Tod verbrachte
er einen Monat in Israel, pendelte zwischen Stadt und Wüste hin und
her, freute sich mit seinen Lieben und belastete wahrscheinlich
seinen 84-jährigen Körper, der ihn nicht lange nach seiner Rückkehr
nach Hause plötzlich im Stich liess. Auf dem Bild, das in seinem
Nachruf abgedruckt ist, steht er vor der Kulisse der Negev-Wüste. Er
sieht braungebrannt, gut aus, viel jünger als sein Alter.
Nach seinem Tod verbrachte ich Monate damit, die Archive zu ordnen
und zu durchstöbern, die er in seinem kleinen Haus auf dem Lande in
Quebec aufbewahrte. Unter den unvollendeten akademischen
Manuskripten, Zeitschriftenausschnitten, Fotos und Stapeln von
Zeitschriften stiess ich auf einen Notizblock, der aus der Mitte der
1980er Jahre stammte und auf dem der Anfang eines Memorandums zu
stehen schien. „Es ist endlich erledigt“, hatte er geschrieben.
„Ich bin bereit, mein Leben in Israel zu beginnen.“ Letztlich
blieben die Fantasien meines Vaters über ein Leben in der jüdischen
Heimat seiner Vorfahren genau das. Eine weitere ungelöste Erzählung.
Eine Geschichte ohne Ende.
Am 7. Oktober 2023, einem Datum, das zufällig mit dem kanadischen
Thanksgiving-Wochenende zusammenfiel, übernachtete ich in seiner
alten Hütte in Quebec. Allein in den Wäldern, mit nichts als meinem
Telefon und dem Geist meines Vaters, der mir Gesellschaft leistete,
verbrachte ich Stunden damit, durch das Filmmaterial zu scrollen, das
aus dem Süden Israels kam. Es macht keinen Sinn, die
retraumatisierenden Auswirkungen des Hamas-Angriffs auf einen
Grossteil der weltweiten jüdischen Gemeinschaft kleinzureden. Der
Holocaust-Historiker Omer Bartov, der dem israelischen Staat nach wie
vor sehr kritisch gegenübersteht, hat darüber gesprochen, wie der
7. Oktober bei ihm schmerzhafte Erinnerungen an den Jom-Kippur-Krieg
von 1973 auslöste. Für meinen Vater hätte es ihn wahrscheinlich in
das Jahr 1967 zurückversetzt. Meine Stiefmutter drückte es mit den
für sie typischen Worten aus: „Wenn er noch am Leben wäre, hätte
ihn das umgebracht.“
Ich für meinen Teil war mir von den ersten Beiträgen an, die ich
in den sozialen Medien sah, bewusst, dass mich die Bilder dieses
Tages in absehbarer Zeit verfolgen würden. Aber wie viele meiner
engsten Freunde und Familienmitglieder konnte ich diese Bilder des
Todes nicht betrachten, ohne an andere Bilder zu denken: an die
Tausende von Gebäuden und Leichen, die der israelische Staat im
Laufe seiner gewalttätigen Geschichte gnadenlos zerstört hat, und,
was noch beunruhigender ist, an die Gewalt, die nun zweifellos kommen
wird. Israels Angriff auf Gaza ist vorhersehbar unverhältnismässig
gewesen. Aber nur sehr wenige von uns, selbst diejenigen, die den
Aufstieg stolzer, mörderischer ehemaliger Terroristenführer und
selbsternannter Faschisten in die höchsten Ränge der Knesset genau
verfolgt haben, konnten das Ausmass des Grauens vorhersagen, das
Israel über das palästinensische Volk gebracht hat.
Mehr als ein Kommentator in den Mainstream-Medien hat behauptet,
dass Israel sich nie die nötige Zeit genommen hat, um zu trauern,
bevor es zur gewaltsamen Vergeltung überging. „Intensive Emotionen
erschweren es oft, über die Folgen des eigenen Handelns
nachzudenken“, erklärte Fareed Zakaria in einem Fernsehbeitrag, in
dem er Netanjahus Aufruf zu „gewaltiger Rache“ an den Tätern des
Anschlags vom 7. Oktober in Frage stellte. Solche Äusserungen
scheinbar wohlmeinender liberaler Medienexperten setzen auf
problematische Weise eine Identität zwischen dem israelischen
Staatsapparat und der breiten Bevölkerung voraus. Zweifellos haben
die israelische Regierung und die Medien den Kummer und das Trauma
vieler Israelis instrumentalisiert. Aber zu behaupten, dass der
Staatsapparat selbst in irgendeiner Weise emotional oder zwanghaft
handelt, ist gleichzeitig eine Unterschätzung und eine Entlastung
seiner Boshaftigkeit. Wie mit jedem Tag deutlicher wird, geht es der
Regierung Netanjahu weder darum, den Hinterbliebenen Trost zu
spenden, noch einfach nur blinde Vergeltung im Namen einer
aufgebrachten Öffentlichkeit zu üben.
Ersteres setzt eine
Menschlichkeit voraus, die ihr ganz offensichtlich fehlt, letzteres
eine Animalität, die immer noch nur den Menschen zu eigen ist. Aber
der israelische Staat und sein Militär, so wie es unter dem Kabinett
Netanjahu agiert, sind weder menschlich noch bestehen sie aus
„menschlichen Tieren“, um an die Worte von Verteidigungsminister
Gallant zu erinnern. Der israelische Staat ist eine kalt berechnende
Todesmaschine, die das unverarbeitete Trauma, das ich in diesem Essay
beschrieben habe, in weitere Zerstörung umwandelt. Dies wurde durch
die erschreckenden Berichte über den Einsatz „einer
geheimen, von KI unterstützten militärischen
Nachrichtendiensteinheit“ durch die IDF zur Durchführung der
anhaltenden Massaker an den Menschen in Gaza deutlich.
Diejenigen, die Israels Kreuzzug mit überstürzten und
irrationalen Aktionen vergleichen, wie sie angeblich von den
Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 unternommen wurden,
stellen die Bösartigkeit der an der staatlichen Entscheidungsfindung
beteiligten Akteure erneut falsch dar – in diesem Fall die
Neokonservativen, die schon lange auf eine Gelegenheit gewartet
haben, ihre katastrophale geopolitische Agenda umzusetzen.
Netanjahus
Krieg gegen den Gazastreifen ähnelt in der Tat sehr dem Kreuzzug der
Bush-Regierung gegen den „Terror“ und die Heldentaten in
Afghanistan und im Irak – und er nutzt den Horror als Vorwand, um
aus langjährigen ideologischen Verpflichtungen Kapital zu schlagen,
in diesem Fall aus der seit Jahren von extremen Fraktionen der
israelischen Regierung unmissverständlich geäusserten Absicht,
diejenigen zu töten
oder aus den von ihr kontrollierten Gebieten zu vertreiben, die
sich weigern, sich der „jüdischen
Herrschaft“ zu unterwerfen. Aber auf die schmerzlich
offensichtliche Realität, dass es keine militärische Lösung für
das seit Jahrzehnten andauernde Elend in Palästina gibt, hat
Netanjahus Regierung mit dem reagiert, was Jacqueline Rose als ihren
„letzten Widerstand“ bezeichnen könnte: die Umsetzung eines
Unternehmens der verbrannten Erde, das der Internationale Gerichtshof
als glaubhaft völkermörderisch eingestuft hat. Dies ist schliesslich
das Werk, zu dem die Phrase „Nie wieder“ in unserer Zeit
pervertiert worden ist. Ich kann mir keine grössere Schande für das
Vermächtnis meiner mehr als hundert ermordeten niederländischen
Vorfahren vorstellen, oder für die Millionen weiteren, deren Körper
in den Krematorien der Nazis verbrannt wurden. Israels brutale
Militärkampagne muss von Menschen mit Gewissen überall abgelehnt
werden.
Dass ein Teil meines Vaters dies geglaubt hätte, wie sehr seine
Ansichten auch durch reaktionäre Einflüsse getrübt gewesen sein
mögen, wird durch einen anderen Abschnitt seines Zeugnisses für die
Shoah Foundation deutlich. Als er über die Aufarbeitung nachdachte,
die er in der zweiten Hälfte seines Lebens verspätet – vielleicht
zu spät – in Angriff genommen hatte, stellte er fest, wie wichtig
es ist, „das zu durchschreiten, was wir bis vor kurzem als einen
sehr dunklen Ort ansahen … als einen sehr dunklen Ort angesehen
haben, den wir nicht besuchen wollen. Denn auf der anderen Seite des
dunklen Ortes gibt es auch etwas sehr Positives.“ Die Erlösung, um
die es hier geht, ist eindeutig nicht das zionistische Projekt und
auch nicht eine florierende jüdische Weltbevölkerung. „Ich
spreche sicherlich nicht nur zu Juden“, sagt er.
„Ich spreche zu
allen Menschen aller Hautfarben, aller Rassen und aller ethnischen
Identitäten, denn es gibt etwas, das wir lernen müssen. Erstens,
was die dunklen Gezeiten der völkermörderischen Zerstörung angeht:
„wie schnell es passieren kann“ und „wie verletzlich wir alle
sein können“. Aber auch, und das ist wichtig, dass ein gewisses
Mass an Vertrauen in „die Menschheit und die Welt“ in der
Geschichte des Überlebens selbst zu finden ist, insbesondere in den
Handlungen der unzähligen Menschen – die meisten von ihnen völlig
Fremde –, die sich für die Bedrohten einsetzten. „Zu meinem
einzigen Überleben haben vierzig, sechzig, achtzig Menschen auf
irgendeine Art und Weise wesentlich beigetragen“, erklärt mein
Vater vor der Kamera, wobei seine Stimme jetzt vor einer zarteren
Form der Dankbarkeit bebt. Mit anderen Worten: Wenn es eine Lektion
gibt, die wir aus dem Holocaust lernen können, dann eine
universelle; und wenn es irgendeine Hoffnung für die Menschheit
gibt, dann ist es unsere Fähigkeit, uns für andere einzusetzen. Nie
wieder, wenn es mehr als ein hohles Gefühl sein soll, muss bedeuten:
Nie wieder für irgendjemanden.
„Wenn es eine Lektion gibt, die wir aus dem
Holocaust lernen können, dann muss es eine universelle sein; und
wenn es irgendeine Hoffnung für die Menschheit gibt, dann kommt sie
von unserer Fähigkeit, im Namen anderer zu handeln.“
Der letztgenannte Satz ist einer der Slogans der grösstenteils
von Jugendlichen geführten jüdischen Organisationen, die auf der
internationalen Bühne als wichtige Ergänzung der globalen Bewegung
für die palästinensische Emanzipation aufgetreten sind. Neben dem
oben genannten Satz ist ein begleitender Slogan erschienen: „nicht
in unserem Namen“. Diese Worte wurden oft in Form von Liedern zum
Ausdruck gebracht, wenn Gruppen wie Jewish Voice for Peace, If Not
Now und Jews for Racial and Economic Justice sich zu gewaltfreien
Protesten und zivilem Ungehorsam versammelten, d. h. in Kontexten, in
denen die Worte eine Art performative Kraft erhielten. Wenn der erste
Satz, „nie wieder für irgendjemanden“, eine Beziehung zwischen
dem Selbst und dem Anderen bekräftigt (oder „Ich und Du“, um die
vertrauten Begriffe von Martin Buber zu verwenden, der selbst ein
zutiefst ambivalenter Zionist war), dann besteht der zweite Satz,
„nicht in unserem Namen“, darauf, dass es keine einzige jüdische
Identität gibt, dass das „Ich“ immer vom Anderssein zerrissen
ist.
Als Vorwürfe gegen die Behauptung einer ethnonationalistischen
Identität, mit all der potenziellen Gewalt, die letztere mit sich
bringt, können beide Aussagen im Sinne dessen verstanden werden, was
Edward Said eine „Politik des Diasporalebens“ nannte. Im Kontext
eines erneuerten Verständnisses jüdischer Praktiken und Prinzipien
könnte man einen Vorläufer für eine solche Politik im Buch Exodus
entdecken: „Du sollst den Fremden nicht unterdrücken, denn du
kennst die Gefühle des Fremden, da du im Land Ägypten ein Fremder
warst“. Für Said ist diese Politik jedoch zum Teil niemand anderem
als Freud zu verdanken, dessen Beharren auf der ägyptischen Herkunft
von Moses einen Schritt weiter zu gehen scheint, indem er den
jüdischen Ethnonationalismus an seinem eigentlichen Fundament
destabilisiert und die Tür – wenn auch nur um Haaresbreite – für
die Möglichkeit einer neuen Geschichte kollektiven, multiethnischen
(in Saids Worten: „binationalen“) Gedeihens öffnet. Said
schreibt von „Freuds tiefgründiger Veranschaulichung der Einsicht,
dass selbst der definierbarsten, identifizierbarsten, hartnäckigsten
gemeinschaftlichen Identität – für ihn war dies die jüdische
Identität – inhärente Grenzen gesetzt sind, die sie daran
hindern, vollständig in eine, und nur eine, Identität integriert zu
werden.“
Diese Grenze wurde durch die wachsende Zahl von Juden
eindrucksvoll bestätigt, die sich angesichts zynischer
Medienpersönlichkeiten, feiger Institutsleiter, Verleger und
Universitätsverwalter und – vor allem – eines US-Kongresses, der
den finanziellen und politischen Prioritäten des Imperiums
verpflichtet ist, dafür entschieden haben, sich mit dem
palästinensischen Volk zu solidarisieren und die heimtückische,
ahistorische und offensichtlich falsche Gleichsetzung von Zionismus
und Judentum abzulehnen. Während sich die Katastrophe in Gaza weiter
ausbreitet, ist die palästinensische Gerechtigkeitsbewegung erneut
zu einer zentralen Arena geworden, in der die grössten globalen
Kämpfe unserer Zeit – zwischen
Menschlichkeit und Kapital, nicht weniger als zwischen Freiheit
und Tyrannei – ausgetragen werden.
Gemeinsam mit den Millionen
pro-palästinensischer Aktivisten, die in den letzten Monaten auf die
Strasse gegangen sind, haben jüdische Aktivistengruppen dazu
beigetragen, das wiederzubeleben, was Jacqueline Rose, die Freuds
Briefwechsel mit dem Schriftsteller Arnold Zweig über den Zionismus
beschreibt, als „eine Kritik der nationalen Selbstverzauberung, der
Identitäten, die sich als Reaktion auf die Übel der Welt wie Eisen
verhärten“ bezeichnet. Gegenüber dem „letzten Widerstand“,
der nach dem 7. Oktober aufgeflammt ist und der die kollektive
Bestrafung von mehr als zwei Millionen Menschen anheizt, bestehen die
Stimmen, die jetzt nach Frieden rufen, auf einem schwierigeren
Widerstand - einem anderen Ziel und einem anderen Ende einer
Geschichte, die sich schon viel zu lange wiederholt hat.
Fussnoten:
[1] Das Parapraxis Magazin wird von der Psychosocial Foundation in Oakland (Kalifornien) herausgegeben. Mit „Parapraxis“ wird (insbesondere im Englischen) ein „Freudscher Versprecher“ bezeichnet.
[2] Max Nordau (1849 - 1923) war ein Arzt (u. a. Theodor Herzls Pariser Hausarzt), Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation.
[3] Philip Hollander, From Schlemiel to Sabra: Zionist Masculinity and Palestinian Hebrew Literature, Indiana University Press, 2019
[4] Das im Originaltext von David Markus verwendete „man“, das im Englischen die Doppelbedeutung „Mensch“ und „Mann“ hat, übersetze ich hier weitgehend mit „Mann“, da es hier kontextuell männerkritisch verwendet wird.
[5] Liedzeile aus dem Lied It Ain't Necessarily So aus George Gershwins Oper Porgy and Bess, 1935
[6] Birthright Israel organisiert kostenlose 10-tägige Bildungsreisen für Jugendliche nach Israel
[7] Die Israelischen Sperranlagen umfassen mit 759 km Länge das Westjordanland und mit 52 km Länge den Gazastreifen.
[8] Eine Chavura (Plural: Chavurot) ist eine kleine Gruppe von Jüdinnen und Juden, die sich zusammenfinden, um miteinander zu lernen, Feiertage zu begehen, neue Rituale zu gestalten etc. Sie sind der Jewish-Renewal-Bewegung zuzuordnen.
David Markus ist ausserordentlicher klinischer Professor im Studiengang „Expository Writing“ an der New York University. Er ist Autor von Notes on Trumpspace (2023) und seine Artikel und Rezensionen sind in Publikationen wie Art in America, Frieze, Art Journal, Art Papers, Hyperallergic, Fence Digital, The Brooklyn Rail und Flash Art erschienen.
Original: https://www.parapraxismagazine.com/articles/persecution-terminable/, veröffentlicht am 08.04.2024
[Übersetzung und Fussnoten durch Dancing Bull]
[1] Das Parapraxis Magazin wird von der Psychosocial Foundation in Oakland (Kalifornien) herausgegeben. Mit „Parapraxis“ wird (insbesondere im Englischen) ein „Freudscher Versprecher“ bezeichnet.
[2] Max Nordau (1849 - 1923) war ein Arzt (u. a. Theodor Herzls Pariser Hausarzt), Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation.
[3] Philip Hollander, From Schlemiel to Sabra: Zionist Masculinity and Palestinian Hebrew Literature, Indiana University Press, 2019
[4] Das im Originaltext von David Markus verwendete „man“, das im Englischen die Doppelbedeutung „Mensch“ und „Mann“ hat, übersetze ich hier weitgehend mit „Mann“, da es hier kontextuell männerkritisch verwendet wird.
[5] Liedzeile aus dem Lied It Ain't Necessarily So aus George Gershwins Oper Porgy and Bess, 1935
[6] Birthright Israel organisiert kostenlose 10-tägige Bildungsreisen für Jugendliche nach Israel
[7] Die Israelischen Sperranlagen umfassen mit 759 km Länge das Westjordanland und mit 52 km Länge den Gazastreifen.
[8] Eine Chavura (Plural: Chavurot) ist eine kleine Gruppe von Jüdinnen und Juden, die sich zusammenfinden, um miteinander zu lernen, Feiertage zu begehen, neue Rituale zu gestalten etc. Sie sind der Jewish-Renewal-Bewegung zuzuordnen.
David Markus ist ausserordentlicher klinischer Professor im Studiengang „Expository Writing“ an der New York University. Er ist Autor von Notes on Trumpspace (2023) und seine Artikel und Rezensionen sind in Publikationen wie Art in America, Frieze, Art Journal, Art Papers, Hyperallergic, Fence Digital, The Brooklyn Rail und Flash Art erschienen.
Original: https://www.parapraxismagazine.com/articles/persecution-terminable/, veröffentlicht am 08.04.2024
[Übersetzung und Fussnoten durch Dancing Bull]


