Keine völkerrechtliche Ausnahme für einen Angriffskrieg «Türkeis ‹Friedensquelle› ist ein Angriffskrieg»

Politik

Die türkische Besetzung eines «Sicherheitsstreifens» in Nordsyrien ist laut Uno-Charta ein Angriffskrieg und kein Nato-Bündnisfall.

Türkischer Angriff auf den syrischen Teil der Stadt Akçakale, Oktober 2019.
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Türkischer Angriff auf den syrischen Teil der Stadt Akçakale, Oktober 2019. Foto: Orhan Erkılıç (PD)

18. November 2019
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Die von der Türkei euphemistisch «Friedensquelle» getaufte «Operation» ist ein Angriffskrieg, wie er im Lehrbuch steht. Wo Frieden war, stehen heute türkische Panzer. Die Kurdengebiete in Nordostsyrien galten jahrelang als die einzige einigermassen stabile Region im Bürgerkriegsland Syrien. Zwar ruhen die Kämpfe zwischen der kurdischen Miliz YPG und der Türkei gerade offiziell. Doch die vereinbarte Feuerpause ist eben kein Waffenstillstand, sondern nur ein Innehalten.

Die Militäroperation der Türkei in Nordostsyrien verstösst gegen Völkerrecht, das dürfte jedem klar sein. Wahrscheinlich sogar der türkischen Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, auch wenn die gerne das Gegenteil betont. «Die Operation stimmt mit unserem Recht auf Selbstverteidigung, mit internationalem Recht und mit UN-Resolutionen überein», hiess es zu Beginn der Offensive aus dem Verteidigungsministerium.

Diese Behauptung allein schützt die Türkei nicht vor Völkerrechtsbruch. Das betont der Völkerrechtler und Friedensforscher Professor Pierre Thielbörger vom Institut für Friedenssicherung und Humanitären Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum: «Die Operation verstösst vor allem gegen das Gewaltverbot aus Art. 2(4) der UN Charta, welches besagt, dass Staaten in ihren internationalen Beziehungen Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit anderer Staaten weder androhen noch einsetzen dürfen.»

Warum die Bevölkerung den Einmarsch weitestgehend unterstützt

Für die Türkei ist der Fall dagegen klar: Die kurdische Miliz YPG ist aus Ankaras Sicht eine Schwesterpartei der in der EU, in den USA und in der Türkei als Terrororganisation verbotenen PKK. So wie die Türkei seit Jahrzehnten die PKK bekämpft, verteidigt sie nun nach eigenen Angaben auch in Syrien national-türkische Sicherheitsinteressen. Die regierungsnahen Medien haben der türkischen Bevölkerung über Jahre aber eingeimpft, dass von der weitestgehend friedlichen Region in Nordostsyrien eine terroristische Gefahr à la PKK ausgeht. Folglich hatten die Erdogan-Regierung und treue Medien leichtes Spiel, ein Gefühl von Panik durch immanente Bedrohung auszulösen.

Dass schliesslich gerade die USA die kurdischen Milizen in Syrien in ihrem Kampf gegen die Dschihadisten mit Waffen und Soldaten unterstützt hat, bewirkt – befeuert durch ständige einseitige Berichterstattung – in der Bevölkerung das Gefühl, verraten und im Stich gelassen worden zu sein. Der Einmarsch in Syrien ist deshalb ein schlauer Schachzug, um die gespaltene Gesellschaft unter dem Deckmantel des Nationalstolzes zu vereinen, und verkauft sich besonders gut bei türkischen Nationalisten aller Couleur – seien die nun Anhänger der Regierungspartei AKP oder von der kemalistischen Opposition. Wer sich öffentlich gegen die Operation positioniert – darunter vor allem Anhänger der pro-kurdisch geprägten Oppositionspartei HDP – muss im schlimmsten Fall mit einer Anklage zum Beispiel wegen Terrorpropaganda rechnen. Allein seit Beginn der Offensive sind fast 200 Menschen deswegen festgenommen worden.

Keine völkerrechtliche Ausnahme für einen Angriffskrieg

Es gibt nur drei anerkannte Ausnahmen, in denen Gewalt gerechtfertigt sein könnte: Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, Selbstverteidigung und der Konsens des Staates gegen den oder auf dessen Gebiet Gewalt angewendet wird. Hier setzte die türkische Regierung an und nannte zu Beginn der Offensive als Rechtfertigung für den Einmarsch in das Nachbarland die Anti-Terror-Resolutionen aus dem UN-Sicherheitsrat 1624 (2005), 2170 (2014) und 2178 (2014) sowie Art. 51 der UN-Charta, wo es heisst: «Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen getroffen hat.»

Die zitierten Resolutionen beziehen sich aber nicht auf einen Einmarsch zum Schutz türkischer Interessen und können deswegen nicht als Grundlage herangezogen werden. Auch mit dem Argument der Selbstverteidigung wird es schwierig, findet Professor Thielbörger: «Eine vorbeugende Selbstverteidigung ist im Völkerrecht sehr umstritten und allenfalls dann denkbar, wenn ein bewaffneter Angriff des anderen Staates unmittelbar bevorsteht oder wenn ein solcher Angriff von privaten Akteuren innerhalb des Staates unmittelbar bevorsteht und der Heimatstaat nicht Willens oder nicht in der Lage ist, die privaten Akteure auf dem eigenen Staatsgebiet von einem bewaffneten Angriff abzuhalten.»

Tatsächlich pflegen YPG und ihr politischer Arm, die PYD, enge Kontakte zur PKK, auch wenn sie offiziell nicht deren Ableger sein wollen. Beweise für eine konkrete Bedrohung durch die YPG konnte die Regierung Erdogan aber bisher nicht liefern. Das Argument, die YPG habe vor knapp einem Jahr das türkische Reyhanli beschossen, reicht auch nicht – und das nicht nur, weil der zeitliche Zusammenhang fehlt, wie der Völkerrechtler erklärt: «Etwaige vorausgegangene grenzüberschreitende Schüsse seitens kurdischer Milizen überschreiten nicht die Schwelle zu einem bewaffneten Angriff.»

Auch die dritte Ausnahme greift nicht: Es gibt in Damaskus keinen Konsens im Hinblick auf den Einmarsch der Türkei. Dieser lässt sich auch nicht über das in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte sogenannte Adana-Abkommen von 1998 fingieren. In dem Vertrag verpflichtete sich Syrien dazu, die PKK als Terrororganisation einzustufen und gegen sie vorzugehen. Selbst wenn die Assad-Regierung das Abkommen gebrochen haben könnte, indem sie die Kurdenmiliz YPG in Nordostsyrien hat gewähren lassen, dürfe darauf nicht mit Gewalt reagiert werden: «Zu einem (militärischen) Eindringen der Türkei in syrisches Staatsgebiet sagt das Abkommen nichts, was diese Form des Eindringens rechtfertigen könnte», betont Professor Thielbörger. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, sondern muss verhältnismässig sein.

Und auch wenn der türkische Einmarsch im Adana-Abkommen eine Rechtfertigung finden würde, stellt der Vertrag der Gegenmassnahme legitime Schranken: «Interventionen wären dann auf den absoluten Grenzbereich beschränkt, also bis zu 5 km in das syrische Gebiet hinein». Die Türkei hat aber Angriffe mehr als 30 Kilometer nach Syrien hineingeflogen.

Von einem Genozid kann man dagegen nicht sprechen

Es ist nicht das erste Mal, dass die Türkei vor den Augen der Weltöffentlichkeit das Völkerrecht bricht. Zwei Mal schon sind türkische Soldaten in Syrien einmarschiert: 2016 in Jarabulus und 2017 in Afrin. Beide Einsätze gelten als erste Stationen auf dem Weg zu einem Ziel, von dem der türkische Staatspräsident, der auch Oberbefehlshaber der Armee ist, schon lange träumt: eine sogenannte Sicherheitszone an der syrisch-türkischen Grenze, etwa 500 Kilometer lang und 30 Kilometer breit. Hier sollen bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei angesiedelt werden, was auf breite Zustimmung in der türkischen Bevölkerung stösst, die sich von den fast vier Millionen Syrern überrumpelt fühlt. Mit Abzug der US-Amerikaner aus Nordostsyrien bot sich vor zwei Wochen ein Vakuum, auf das Erdogan lange gewartet hat. Kritiker sprechen derweil von einem Genozid, den die Türkei zur Erfüllung von Erdogans Traum in Kauf nehmen soll.

Der Vorwurf hält der Subsumtion unter Art. 6 des Rom-Statuts, in dem der Völkermord definiert ist, aber wohl kaum Stand. Die Kurden kann man nach herrschender Meinung zwar als eine dort geschützte ethnische Gruppe bezeichnen. Fraglich ist aber, inwiefern zwischen syrischen und türkischen Kurden in ethnischer Hinsicht unterschieden wird. Ausserdem ist fraglich, ob sich der Einsatz gegen alle Kurden richtet, oder nur – wie offiziell dargestellt – gegen die kurdische Miliz YPG, die sicher allerdings nicht als ethnische, sondern als politische Gruppe versteht.

Es wäre zudem schwer der Türkei nachzuweisen, sagt Professor Thielbörger: «Man müsste auch den Vorsatz dafür, die ethnische Gruppe zu zerstören, nachweisen können, was sehr schwierig ist und Gerichte immer wieder vor grosse Probleme stellt.»

Völkerrecht ohne Wirkung?

Was bringt nun das Völkerrecht, wenn sich keiner daran hält? «Recht bleibt Recht, auch wenn es gebrochen wird», sagt Thielbörger. Auch wenn Völkerrecht nur schwer durchzusetzen ist und aufgrund der souveränen Gleichheit der Staaten eine Ahndung von Verstössen durch eine «Völkerrechtspolizei» nicht realistisch ist, glaubt der Friedensforscher an die Bedeutung von internationalem Recht: «"Völkerrecht ist in einer immer stärker zusammenwachsenden und sich radikalisierenden Welt ein wichtiges Medium, um globale Probleme gemeinsam anzupacken. Diese Funktion und Plattform für friedliche Zusammenarbeit und Koexistenz darf nicht unterschätzt werden.» Das zeige sich vor allem in diplomatischen und wirtschaftlichen Massnahmen. So einigten sich die EU-Länder im Fall der türkischen Militäroffensive darauf, bestimmte Waffenlieferungen nicht mehr zu genehmigen. Und dass sich die Türkei aller Ankündigungen zum Trotz auf eine Waffenruhe eingelassen hat, ist wahrscheinlich wirtschaftlichem Druck aus den USA zu verdanken.

Neben solchen politischen Druckmitteln halte zudem das Völkerrecht konkrete Massnahmen zur Friedenssicherung bereit, findet Thielbörger. «Syrien könnte den Fall theoretisch vor den Internationalen Gerichtshof bringen, der aller Wahrscheinlichkeit nach im Sinne Syriens urteilen würde.» Einziges Manko: Die Türkei müsste zustimmen, dass der Internationale Gerichtshof den Fall verhandelt und das gilt als unwahrscheinlich.

An der Praxis scheitert auch eine Drohung mit dem Internationalen Strafgerichtshof, vor dem sich etwa Drahtzieher eines Angriffskriegs verantworten müssen. «Die Türkei und Syrien haben das zugehörige Rom-Statut aber nicht ratifiziert, das schliesst die Verfolgung von Individuen wie Herrn Erdogan nahezu aus.» Möglich wäre höchstens, dass der Sicherheitsrat das Gericht beauftragt, was aber angesichts der Veto-Möglichkeiten der fünf Vetomächte eher nicht zu erwarten ist.

Kein Fall für die Nato

Derweil appelliert Ankara immer wieder zwischen den Zeilen an die Nato. Das Militärbündnis vermeidet eine harte Tonart gegen die Türkei – wohl um Russland nicht den Gefallen zu tun, die Türkei noch weiter von sich abtrennen zu lassen. Einzelne westliche Medien gehen noch einen Schritt weiter, bringen den Nato-Bündnisfall ins Spiel und überlegen ernsthaft, ob die Nato der Türkei beistehen müsse. Eine solche Auslegung von Art. 5 des Nordatlantikvertrages erscheint dem Völkerrechtler Thielbörger aber eher missbräuchlich. Das liege hauptsächlich daran, dass die Türkei die Militäroffensive begonnen hat. Ein bewaffneter Angriff Syriens, etwa durch die frische Allianz mit den kurdischen Milizen, wäre eine durch die Türkei provozierte Reaktion, die keinen Nato-Bündnisfall auslösen kann: «Man kennt die Konstellation unter anderem aus dem deutschen Strafrecht: Ein Täter, der einen Angriff provoziert, darf sich nicht uneingeschränkt auf sein Notwehrrecht berufen.»

Marion Sendker / Infosperber