Kaum Fortschritte, viele Opfer Afrin-Offensive

Politik

Der Krieg an der syrisch-türkischen Grenze fordert viele zivile Opfer. Tausende Menschen im umkämpften Gebiet sind auf der Flucht.

Beerdigungszeremonie für Opfer der türkischen Militäroffensive in Afrin, Januar 2018.
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Beerdigungszeremonie für Opfer der türkischen Militäroffensive in Afrin, Januar 2018. Foto: Zlatica Hoke (VOA) (PD)

7. Februar 2018
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«Wir könnten diese Plünderer in weniger als in einer Woche zerschlagen.» Mit diesen Worten hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 13. Januar die türkische Offensive gegen die kurdischen Kämpfer der YPG in Nordsyrien angekündigt. Die Operation fing am 20. Januar an. Gemeinsam mit türkischen Armeeeinheiten rückten auch mehrere Tausend Kämpfer der sogenannten «Freien Syrischen Armee» (FSA) in die syrische Provinz Afrin vor. Die FSA tritt in der syrischen Kriegsarena als wichtigster Verbündeter der Türkei auf und wird logistisch von Ankara unterstützt. Kritische Stimmen weisen jedoch darauf hin, die FSA-Kämpfer seien in ihrer überwiegenden Mehrheit Mitglieder von umstrittenen islamistischen Bewegungen.

Zwei Wochen nach Beginn der Offensive meldete der Generalstab in Ankara die Eroberung der offenbar strategisch wichtigen Ortschaft Bulbul nördlich der Stadt Afrin. «Wir kommen dem Zentrum Afrins näher. Wir sind ganz nah», versicherte Erdogan am vergangenen Wochenende in der südost-anatolischen Stadt Bitlis seinen Zuhörer. Dann zitierte er einen Vers aus dem 39. Kapitel des Korans: «Ila jahannama zumara» – «die Ungläubigen werden gruppenweise in die Hölle getrieben.»

Anhaltende Kämpfe mit vielen Opfern befürchtet

Die Organisation «Syrian Observatory for Human Rights» sowie kurdische Quellen bestätigen diese Auslegung nicht. Ihren Angaben zufolge erobere die türkische Armee zwar tagsüber Dörfer und Hügel, werde aber nachts wieder zurückgedrängt. Russische und amerikanische Beobachter sind sich inzwischen einig, dass der Kampf um Afrin viel länger anhalten und auf beiden Seiten sehr vielen Menschen das Leben kosten könnte.

Täglich korrigiert der türkische Generalstab die Zahl der «neutralisierten», will heissen getöteten Gegner nach oben. «947 Terroristen sind neutralisiert worden», hiess es am vergangenen Sonntag in Ankara. Diese Zahlen sagen wenig aus, sie können von keiner unabhängigen Quelle bestätigt werden. Kaum umstritten ist hingegen die Zahl der zivilen Opfer – dies- und jenseits der türkisch-syrischen Grenze. Mörsergranaten aus Afrin, die in den türkischen Provinzen Hatay und Kilis einschlugen, haben in den letzten zwei Wochen sieben Zivilisten das Leben gekostet. 113 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.

Türkische Bürger und die türkische Regierung sind empört, dass die internationale Gemeinschaft diese Opfer kaum wahrnimmt. Von den westlichen NATO-Partnern fordern sie uneingeschränkte Solidarität mit der Türkei: «Sollte die NATO überhaupt noch überleben, solltet ihr endlich aufhören, diesen Plünderern Gehör zu schenken», drohte der türkische Regierungschef Binali Yildirim am vergangenen Wochenende.

Nährboden für Radikalisierung der Kurden

Entsetzt über das hartnäckige Schweigen der Weltgemeinschaft sind auch die syrischen Kurden. Ohne ein Mandat der UNO und ohne die Zustimmung der syrischen Regierung bleibt die türkische Offensive nach wie vor völkerrechtswidrig. «Das Schweigen der Weltgemeinschaft kommt einer Zustimmung zum türkischen Massaker gleich», hiess es letztes Wochenende in einer Erklärung der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), der in Nordsyrien dominierenden politischen Kraft.

Tausende hatten sich letzten Samstag in der Stadt Afrin versammelt, um ihren Toten das letzte Geleit zu geben und insbesondere die junge Kämpferin Bari Kobani zu ehren. Ein Video, das vorige Woche in den Sozialen Netzwerken die Runde machte, hatte die kurdische Öffentlichkeit zutiefst schockiert. Es zeigt den halbnackten, verstümmelten Leichnam der jungen Frau, die umringt ist von mehreren Männern in Uniform. Einer der Männer beschimpft die Frau als «PKK-Schwein», ein zweiter ruft «Allahu Akbar» (Gross ist Gott).

Die syrischen Kurden fühlen sich im Stich gelassen. Seit zwei Wochen dringen türkische Kampfjets mit der offensichtlichen Duldung der Russen in den syrischen Luftraum ein und bombardieren in Afrin wahllos Stellungen der kurdischen Miliz, aber auch die Infrastruktur der Stadt sowie Wohngebiete. Der Aufruf der PYD, eine Flugverbotszone über Afrin zu erklären, wurde bislang ignoriert.

Die Amerikaner, an deren Seite die syrischen Kurden jahrelang gegen die Dschihadisten des IS gekämpft haben, sind noch immer unschlüssig, ob sie sich auf die Seite der Kurden oder jene des NATO-Partners Türkei schlagen wollen.

Die Frustration in der Bevölkerung nährt die Radikalisierung. Wie die französische Agentur AFP aus Afrin meldete, sind viele Jugendliche dem Aufruf der PYD gefolgt und schliessen sich dem Widerstand gegen die türkischen Invasoren an.

In den letzten zwei Wochen kamen bei türkischen Angriffen in der Provinz Afrin rund 150 Zivilisten ums Leben, rund 300 wurden verletzt, schätzt Ancela Reso, die Co-Vorsitzende des Gesundheitsrates von Afrin. Von vielen zivilen Opfern, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, spricht auch Jiwan Mohammed, der Chefarzt eines der drei Spitäler in Afrin. «Unser Spital ist nicht mehr in der Lage, eine so hohe Zahl von verletzten Zivilisten zu bewältigen. Wir bedürfen dringend medizinischer Versorgung», sagt er.

Tausende fliehen vor den Kämpfen in Afrin und Idlib

Afrin war bis zum türkischen Einmarsch vom Krieg in Syrien weitgehend verschont geblieben. Laut Augenzeugen gab es eine gut funktionierende Wirtschaft und Verwaltung. Seit die türkischen Streitkräfte und ihre syrischen Verbündeten die Provinz Afrin von wichtigen Verbindungsadern abgeschlossen haben, sind zahllose Menschen von der Aussenwelt abgeschnitten und auf Hilfe angewiesen. Die internationale Organisation «Oxfam» warnte heute Dienstag vor einer anstehenden humanitären Katastrophe in Afrin. Tausende Menschen, darunter Babies, Kleinkinder und alte Menschen seien zwischen die Fronten geraten und mit einer «schrecklichen potenziell tödlichen Situation konfrontiert», sagte der Oxfam-Direktor in Syrien, Moutaz Adham. Tausende sind auf der Flucht.

Auf der Flucht sind seit kurzem auch Tausende Zivilisten aus der Provinz Idlib. Nach der grossen Niederlage der Opposition in Aleppo hatten sich Mitglieder islamistischer Bewegungen in Idlib verschanzt. Idlib, das rund 60 Kilometer südwestlich von Aleppo liegt, entwickelte sich im vergangenen Jahr zu einer Hochburg der sunnitischen Opposition. Doch offensichtlich hängt das Schicksal des «sunnitischen» Idlib mit jenem des kurdischen Afrin eng zusammen. Als vor zwei Wochen die türkische Offensive gegen Afrin begann, stiessen syrische Truppen, von der breiten Öffentlichkeit kaum bemerkt, gegen Idlib vor. «So weit sind wir also gekommen!», kommentierte Sedat Ergin in der konservativen türkischen Tageszeitung «Hürriyet» den Vorstoss. Während die türkischen Truppen mit dem Stillschweigen der Russen gegen Afrin vorrückten, kämen die syrischen Truppen mit Duldung Ankaras gegen Idlib voran. Die Türkei führte sich seit 2011 als Schutzherr der sunnitischen Opposition in Syrien auf.

Ursula Müller von der UN-Koordinationsstelle für Nothilfe schätzt, dass seit letzter Woche aus Idlib und Afrin rund 270'000 Menschen auf der Flucht sind. Manche versuchten, in die Türkei zu fliehen. Die Menschenrechtsorganisation «Human Rights Watch» warf türkischen Grenzsoldaten derweil vor, auf Flüchtlinge aus Syrien zu schiessen. Zahlreiche Zivilisten hätten versucht, vor den Kämpfen in Syrien zu fliehen, seien von den Grenzsoldaten aber mit Schüssen zurückgetrieben oder misshandelt worden.

Amalia van Gent / Infosperber