Doch zuletzt kam es anders als erwartet. Am Abend des 2. Oktober konnte das No-Lager die Abstimmung mit einem hauchdünnen Vorsprung für sich entscheiden. [2] Wenige zehntausend Stimmen trennten demnach die beiden Lager voneinander. Und, was definitiv keine Randbemerkung bleiben sollte: Lediglich 37 % der wahlberechtigten KolumbianerInnen nahmen die historische Chance zu einem definitiven Ende des über 50 Jahre anhaltenden Krieges wahr. Wollen die KolumbianerInnen also keinen Frieden oder sind gar mehrheitlich Anhänger der Uribisten, des rechtsradikalen No-Lagers? Mitnichten, wenn die gesellschaftlichen Umstände und die Geschichte des bewaffneten Konflikts näher betrachtet werden.
Eine Geschichte der Repression und des Ausschlusses
Das politische Koordinatensystem in Kolumbien ist ein grundsätzlich anderes als in anderen Ländern Lateinamerikas: Wir sprechen von einem Land, das sich seit Beginn seines Bestehens vor knapp 200 Jahren mit Unterbrechungen durchgängig im Bürgerkrieg befand. Allein der jetzige, seit 50 Jahren anhaltende Konflikt zwischen linken Guerilla-Gruppen und dem kolumbianischen Staat forderte mehr als 220.000 Todesopfer [3], zuzüglich der sogenannten Verschwundenen (Desaparecidos). Die politische Macht ist traditionell in den Händen einer Oligarchie gebündelt, die sich historisch auf zwei traditionelle Parteien, jene der Konservativen und Liberalen aufspaltete [4], und nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das gesamte politische und mediale Alltagsgeschäft dominierte [5].Dieses ausschliessende politisch-ökonomische Herrschaftssystem, das sozialen Protest und Dissidenz historisch nahezu immer mit brutaler Gewalt beantwortete [6] und obendrein die massive soziale Ungleichheit – insbesondere in den ländlichen Gebieten – aufrechterhielt und sogar beförderte [7] war mitunter eines der Hauptargumente für die Strategie des bewaffneten Kampfs der Kommunisten in Kolumbien. Und es ist eine Erklärung dafür, dass Kolumbien, bis auf eine sehr kurze Zeitspanne [8] niemals eine faschistische Militärdiktatur im Ausmass von Pinochet in Chile oder Videla in Argentinien erleben musste: die formal demokratischen, de facto oligarchischen Institutionen reichten zur blutigen Aufstandsbekämpfung und zur Herrschaftssicherung für die kolumbianische Oligarchie schlicht vollkommen aus.
Die materielle Gewalt…
Nun sind in einem anhaltenden bewaffneten Konflikt, in dem Oppositionelle vom Staat grundsätzlich unter Terrorverdacht gestellt und von extralegalen Todesschwadronen hingerichtet wurden und werden, die Möglichkeiten zum zivil-bürgerschaftlichen Engagement und der Öffentlichkeitsarbeit begrenzt. Viele Organisationen und Zusammenhänge dessen, was heute in Kolumbien als soziale Bewegungen wiederauflebt, mussten deshalb, insbesondere in der Zeit des schmutzigen Krieges (guerra sucia), gezwungenermassen in den Untergrund gehen und unter andauernder Angst vor den staatlich geförderten Todesschwadronen arbeiten. Diese Organisationen und Bewegungen sind heute naturgemäss die stärksten Verfechter des Friedensvertrags zwischen FARC-EP und der kolumbianischen Regierung, da sie sich seit der Präsidentschaft von Santos mit weit weniger starker Repression reorganisieren und in die öffentliche Wahrnehmung zurückkehren konnten.Für sie ist der Friedensvertrag von Havanna eine Sache des politischen Überlebens, denn sollte der schmutzige Krieg zurückkehren, würden sie erneut gewaltsam von der öffentlichen politischen Bühne verdrängt werden. [9] Nichtsdestotrotz dominiert die Angst davor, sich zu positionieren, nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung in Kolumbien, denn die paramilitärische Gewalt schwebt immer noch wie ein Damoklesschwert über jedem, der sich gegen die Interessen der Oligarchie organisiert und auf die Strasse geht. Exemplarisch gesprochen: Allein die soziale Bewegung Marcha Patriotica hat seit 2012 96 extralegale Hinrichtungen, 4 Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens, 13 Fälle der Folter und 4 Fälle der sexuellen Gewalt an AktivistInnen ihrer Organisation dokumentiert [10].
Die Organisation wird nicht müde zu betonen, dass diese Zahlen auf jede andere legal und öffentlich arbeitende soziale Bewegung oder NGO übertragbar sind. Dazu kommt das nicht unrealistische, bislang jedoch nicht mit Quellen belegbare Szenario, dass insbesondere in Gebieten mit hoher paramilitärischer Präsenz die Menschen aktiv vom Wählen abgehalten und/oder bedroht wurden. Mit sogenannten bewaffneten Streiks (gemeint ist: Ausgangssperre) unter Todesandrohungen bei Nicht-Beachtung versuchten paramilitärische Gruppen in der Vergangenheit immer wieder die Bevölkerung der von ihnen kontrollierten Gebiete mit blankem Terror einzuschüchtern.
…und die diskursive Macht der Ultrarechten
Der Schmutzige Krieg, der auf Betreiben des kolumbianischen Staates mit US-Hilfe in den 80er Jahren gegen die Guerilla-Gruppen begonnen wurde und der seinen traurigen Höhepunkt unter dem rechtsradikalen Präsidenten Alvaro Uribe fand, schaffte mit brutaler Repression [11] einen von sozialer Dissidenz nahezu gesäuberten politischen Raum, in dem die Oligarchie den gesamten öffentlichen Diskurs mit wenigen Ausnahmen [12] dominieren konnte.Jahrzehntelang konnten so anti-kommunistische, neoliberale Think-Tanks ihre Propaganda ungefiltert über die einflussreichsten Sender des Landes in jeden Haushalt bringen. Eine Tradition der Bürgerkriegs-Propaganda, an die Uribe und seine Anhänger, nun in den Mobilisierungen zum Plebiszit anknüpfen konnte: „Was wollen Sie, den Frieden oder einen aufoktroierten Sozialismus des 21. Jahrhunderts (…)?“, fragte Uribe kürzlich über Twitter. Seine Parteigänger glänzen mit Äusserungen wie „Gestern hat das kolumbianische Volk klar sein „Nein“ zum Castro-Chavismus geäussert“. Ergänzt werden diese Einbildungen durch propagandistische Verzerrungen und Falschmeldungen, wie z.B. der Behauptung es gäbe eine in den Friedensverträgen zugesicherte Generalamnestie für Guerilleros der FARC-EP [13]. Ein anderes Beispiel wäre die auch von Menschenrechtsorganisationen als vollkommen unzulässig eingestufte Gleichsetzung von Guerilla- und Paramilitärischer Gewalt [14], die von den Uribisten trotz ihrer inzwischen öffentlich nachgewiesenen Verbindungen zum Paramilitarismus heuchlerisch und ohne mit der Wimper zu zucken zur moralischen Legitimation eingesetzt werden.
Kürzlich sind ebenfalls die Sponsoren der No-Kampagne bekannt geworden, die neben mehreren internationalen Multis (Heineken, Esprit…), auch das Medienimperium des Oligarchen Carlos Adila Lülle umfassen. Aber auch die geballte diskursive und materielle Macht des rechtsradikalen No-Lagers kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ausserparlamentarische Linke, die sozialen Bewegungen und die FARC-EP ihr strategisches Ziel eine tragfähige Mehrheit in der Bevölkerung für einen Frieden zu mobilisieren und damit zu politisieren, zumindest kurzfristig nicht erreichen konnten. Dem jahrzehntealten konzentrierten rechtsradikalen Diskurs, der von in verschiedenen Teilen der Oligarchie konzentrierten Monopolen organisiert wird, ein linke Alternative entgegenzustellen ist eine gigantische Aufgabe für die sozialen Bewegungen und eine perspektivisch legalisierte Guerilla, die offensichtlich eine längere Vorlaufzeit verlangt, als sie der vergleichsweise kurze Mobilisierungs-Zeitraum hin zum Plebiszit zuliess.
Was bleibt vom Referendum?
Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses des Referendums beeilte sich Santos, das Ergebnis anzuerkennen. Bereits am vergangenen Mittwoch traf er nun auf seinen Kontrahenten Alvaro Uribe und dessen Parteigänger, während die Anhänger des Si-Lagers zeitgleich zur Verteidigung des Friedensprozesses landesweit zu Tausenden auf die Strasse gingen. Allein dieses Symbol zeigt, wer der entscheidende Faktor zum Machterhalt Santos ist: Der andere Teil der Oligarchie, der des No-Lagers, keineswegs jedoch das Volk bzw. seine Unterstützerbasis. Faktisch ist das Resultat des Referendums ein schwerwiegendes Legitimations-Problem für Santos, da es seine mühsame Legitimationsfigur des „Friedenspräsidenten“ [15] nachhaltig untergräbt und offenlegt, dass seine Unterstützung in der kolumbianischen Oligarchie zu bröckeln beginnt.Santos befindet sich daher nun unter Handlungsdruck und muss wahlweise Vorwände finden, um ohne Gesichtsverlust eine Rückkehr zur militärischen Konfrontation verkaufen zu können, oder die Guerilla in ihren Forderungen noch weiter herunterhandeln, als er es in den Friedensverträgen von Havanna ohnehin schon getan hat. Dazu passt auch sein mehr als doppeldeutiges Statement, dass der beidseitige Waffenstillstand zum 31. Oktober auslaufen würde. Andersherum betrachtet ist der Ausgang des Referendums ein schwerer Schlag für die Verhandlungsposition der FARC-EP, die ohnehin bereits massive Abstriche machen musste, um zu einer Vereinbarung zu gelangen.
Weitere Abstriche und Zugeständnisse an die kolumbianische Oligarchie könnten an der Basis der Organisation den Eindruck verschärfen, dass es ihren Führern um einen Frieden um jeden Preis geht, für den sie auch bereit sind, das politische Selbstverständnis der Organisation aufzugeben. Beide Seiten würden so zunehmend unter den Druck der jeweiligen Friedens-skeptischen Fraktionen geraten. Eine realistische Perspektive für einen erneute Einigung wäre dann zumindest eine langwierige, wenn nicht gar unmögliche Angelegenheit.