Frauen als Gewaltopfer: Unsichtbar im doppelten Sinn El Salvador: Flucht vor Unsicherheit und Gewalt aus Geschlechterperspektive

Politik

27. Oktober 2016

Die meisten Mordopfer in El Salvador sind junge Männer. Von den Auswirkungen der Gewalt sind jedoch Frauen in besonderem Masse betroffen. Dies zu ignorieren, mache die Frauen in doppeltem Sinne unsichtbar, argumentiert die Autorin und fordert einen Politikwechsel.

«Schluss mit der Gewalt gegen Frauen».
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«Schluss mit der Gewalt gegen Frauen». Foto: Frida Hartz (CC BY-SA 2.0 cropped)

27. Oktober 2016
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In El Salvador hat die interne Zwangsmigration aufgrund der weitverbreiteten Gewalt krisenhafte Ausmasse angenommen. Nach Angaben des norwegischen Flüchtlingsrates gab es 2014 in El Salvador etwa 289.000 Binnenvertriebene. Im Jahr 2015 – dem Jahr mit der höchsten Gewaltrate seit dem Bürgerkrieg (1980–1992) – wurden 6.670 Morde registriert. 575 Opfer waren Frauen. Mit 108 Morden pro 100.000 Einwohner ist El Salvador mittlerweile das Land mit der weltweit höchsten Mordrate.

Der salvadorianische Staat erkennt die durch Banden bzw. die Organisierte Kriminalität verursachte Binnenvertreibung nicht offiziell als Problem an. Dennoch gelangen über die Medien und alternative Kanäle Woche für Woche Berichte von Familien und Gemeinden an die Öffentlichkeit, die ihre Heimat verlassen, weil sie vornehmlich von organisierten Banden mit dem Tod bedroht werden. Amtliche Sprecher werfen der Presse, den Nichtregierungsorganisationen und internationalen Institutionen eine übertriebene Darstellung der Gewalt vor. Sie würden damit nur Zweifel an der Fähigkeit der Regierung schüren wollen, das Problem lösen zu können.

Aufgrund der Leugnung der Zwangsvertreibungen werden vorliegende Fälle nicht oder nur unzureichend registriert. Da es nicht genügend Daten gibt, um das Problem in seinem ganzen Ausmass erfassen zu können, werden von staatlicher Seite auch weder Politikkonzepte noch gezielte Massnahmen entwickelt, um der Verpflichtung zur Betreuung und zum Schutz der Opfer nachzukommen. Darin liegt eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen, nämlich die Unsichtbarmachung der betroffenen Menschen.

Frauen als Gewaltopfer: Unsichtbar im doppelten Sinn

Bei den jährlich registrierten gewaltsamen Todesfällen handelt es sich wesentlich häufiger um Männer. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die weitverbreitete Gewalt keine grösseren Auswirkungen auf Frauen hätte. Unter ihren Folgen haben besonders Familien zu leiden, in denen die Männer, Brüder bzw. Söhne, die Opfer von Mord, Verschwindenlassen oder Verfolgung wurden, vorher für die Familien gesorgt hatten. In diesen Fällen müssen Frauen, wenn sie zwangsvertrieben werden bzw. ihre Heimat aus Angst verlassen, die gesamte familiäre Verantwortung übernehmen.

Da der Staat die Binnenvertreibung leugnet, gibt es keine offiziellen Register und auch keine angemessenen Verfahren und Orte für Berichte und Gespräche. Bei den Betroffenen – vor allem Frauen – sitzt die Angst vor Verhören und Anzeigeerstattungen entsprechend tief, so dass die Ermittlungen hierdurch erheblich erschwert werden.

Die Nationale Zivilpolizei (Policía Nacional Civil, PNC) und die Generalstaatsanwaltschaft von El Salvador sind seit langem dafür bekannt, dass sie Bürger/innen bei Straftaten von der Anzeigeerstattung abzuhalten versuchen oder sich weigern, Anzeigen aufzunehmen. Sonstige staatliche Institutionen verweisen Opfer, Zeugen und Angehörige oftmals an andere Stellen. Die Menschen werden dadurch eingeschüchtert und geben ihre Versuche auf, Gerechtigkeit erfahren und Straftaten zur Anzeige bringen zu wollen. In einer vom Meinungsforschungsinstitut der Zentralamerikanischen Universität von El Salvador 2013 veröffentlichen Umfrage erstatteten lediglich 35,4 Prozent der Opfer von Straftaten Anzeige bei den Behörden. 72,1 Prozent von ihnen gaben an, dass die staatlichen Stellen «überhaupt nichts unternommen» hätten. Darüber hinaus wissen die Menschen, die in von kriminellen Banden kontrollierten Gebieten leben, dass jede Form der Zusammenarbeit mit der Nationalen Zivilpolizei, der Generalstaatsanwaltschaft, den Streitkräften oder sonstigen Justiz- oder Sicherheitsbehörden bzw. deren Unterstützung ihr Leben noch stärker gefährdet.

Die Ombudsstelle von El Salvador berichtete im Februar 2016 von einer Familie, von der zwei ihrer Töchter im Alter von 28 und 20 Jahren Opfer von Menschenhandel geworden waren. Aufgrund der Aussagen der jungen Frauen konnten einige Mitglieder der Tätergruppe vor Gericht gestellt werden. Es wurden jedoch nicht alle gefasst. Die 28-Jährige mit ihren vier Töchtern (8, 6, 5 und 1 Jahr alt) und ihre beiden 20- und 16-jährigen Schwestern wurden daraufhin von den übrigen Bandenmitgliedern bedroht. Da sie als Zeuginnen in einem Strafprozess auftraten, wurden die jungen Frauen im Rahmen eines Zeugen- und Opferschutzprogramms in Wohnungen untergebracht, die der Technischen Exekutiveinheit der salvadorianischen Justiz (Unidad Técnica Ejecutiva del Sector Justicia, UTE) unterstellt waren.

Nach eigenen Angaben wurden sie dort zu sexuellen Kontakten mit Sicherheitsbeamten gezwungen und durch Drohungen davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Nach Ansicht des Ombudsmanns erfuhren die Frauen «... eine zweifache Viktimisierung, denn sie waren nicht nur Opfer von Menschenhandel, sondern erfuhren zudem sexuelle und seelische Gewalt seitens einer Einrichtung, die ihnen Sicherheit, Vertrauen und Schutz hätte gewähren müssen. Gewalt und Diskriminierung, denen Frauen im Laufe ihres Lebens ausgesetzt sind, gehen durch das Fehlen eines opfer-, menschenrechts- und genderzentrierten Ansatzes in Programmen wie diesem unaufhörlich weiter ...». Die jungen Frauen, die Anzeige erstattet hatten, mussten das Land aus Sicherheitsgründen verlassen. Ihre Angehörigen waren monatelang innerhalb des Landes auf der Flucht.

Aufgrund dieser Problematik können nur die – kaum vorhandenen – alternativen Quellen oder Zeugenaussagen aus Fällen herangezogen werden, die von humanitären Hilfsorganisationen betreut werden. Solche Einrichtungen versuchen, den Betroffenen Hilfe zu leisten, wenn sie um Unterstützung gebeten werden.

Auch wenn die Mordopfer mehrheitlich Männer sind, so lässt sich feststellen, dass die Zahl der von der Gewalt betroffenen Frauen gestiegen ist und die Opfer von Vertreibung mehrheitlich Frauen sowie weibliche Jugendliche und Kinder sind.

Die meisten Betroffenen sind Frauen

Der Runde Tisch der Zivilgesellschaft gegen Zwangsvertreibung in El Salvador (Mesa de Sociedad Civil contra el Desplazamiento Forzado) gab in seinem im Januar 2016 veröffentlichten Bericht 147 betreute Fälle mit insgesamt 623 Binnenvertriebenen für den Zeitraum von August 2014 bis Dezember 2015 an. Auch wenn es sich gelegentlich um Einzelpersonen handelte, so waren es in den meisten Fällen ganze Familien mit drei bis zwölf Mitgliedern.

207 Betroffene waren erwachsene Frauen, 69 Mädchen im Alter von unter zwölf Jahren sowie 52 Jugendliche. 52 Prozent der betreuten Personen sind demnach weiblichen Geschlechts, zwei Personen rechnen sich der Gruppe der LGBTI zu. Die Familien sind überwiegend vor den Drohungen von Banden und Akteuren aus dem Umfeld der Organisierten Kriminalität geflohen. Überdies werden nun erstmals auch Fälle von Zwangsvertreibung registriert, für die Angehörige der Polizei und der Streitkräfte, aber auch anderer Gruppen, die von der salvadorianischen Ombudsstelle als Killerkommandos bezeichnet und angeprangert werden, verantwortlich sind.

In Gemeinden, die unter dem starken Einfluss bzw. der Kontrolle von organisierten Banden stehen, werden Mädchen und junge Frauen oftmals gezwungen, als Sexsklavinnen zur Verfügung zu stehen. Diejenigen, die sich widersetzen, ebenso wie ihre Familien, werden schikaniert und sehen sich gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Auch ein 11-jähriges Mädchen wurde von einer Bande sexuell verfolgt: Die Bandenmitglieder drohten dem Kind, es zu vergewaltigen bzw. sexuell zu missbrauchen. Ihrem 5-jährigen Bruder drohten sie mit Zwangsrekrutierung. Die Mutter der Kinder wandte sich daraufhin an die Schule des Mädchens. Der Schulleiter legte ihr nahe, das Kind aus der Schule zu nehmen, denn die Bandenmitglieder könnten jederzeit in die Schule kommen und das Mädchen mitnehmen. Aus Angst verkroch sich die Familie in ihrem Haus, denn es gab keine weiteren Angehörigen, bei denen sie hätte Zuflucht finden können. Die Mutter erklärte, aus Furcht keine Anzeige bei der Polizei erstatten zu wollen. Dieser Fall ist nur einer von vielen in einem Strudel der Gewalt.

Nach Angaben des salvadorianischen Bildungsministeriums wurden 2015 mehr als 15.000 Kinder durch Gewalt und Unsicherheit gezwungen, die Schule zu verlassen. In 50 der am härtesten von Gewalt betroffenen Gemeinden des Landes sind Schulabbrüche zu einem ernsten Problem geworden.

Aufgrund von Bandenrivalitäten, Auseinandersetzungen um die Kontrolle über bestimmte Gebiete und Aktionen von Angehörigen der staatlichen Sicherheitskräfte sind Frauen, deren Männer in kriminelle Strukturen eingebunden sind oder der Beteiligung an Straftaten beschuldigt werden, häufig Repressalien ausgesetzt: Sie werden belästigt, bedroht, angegriffen und stigmatisiert. Staatliche Institutionen weisen oft den Betroffenen die Schuld zu, um sich für die verweigerte Zusammenarbeit und die unterlassene Hilfeleistung zu rechtfertigen.

Im März 2015 erhielt eine Familie, darunter zehn minderjährige Kinder und Jugendliche, Todesdrohungen. Einige Monate zuvor waren Mitglieder dieser Familie unter dem Vorwurf verhaftet worden, Straftaten verübt zu haben und einer kriminellen Bande anzugehören. Im Gefängnis entschieden sie sich, der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen und aus der Bande auszusteigen. Daraufhin bedrohte die Bande die Familie und kündigte an, zuerst die kleinsten Kinder töten zu wollen. Die Familie verliess sofort ihren Heimatort und bat bei mehreren staatlichen Institutionen um Unterstützung und Hilfe, jedoch ohne Erfolg. Hochrangige Behördenvertreter erklärten in den Medien, dass die Familie Kontakte zu organisierten Banden unterhalte und deshalb vorsichtig mit der Situation umgegangen werden müsse. Überdies wiesen sie darauf hin, dass die Familie mit politischen Oppositionsparteien in Verbindung stünde.

Nach ihrer Flucht mussten die Kinder und Jugendlichen monatelang ihre Schulausbildung unterbrechen. Sie versuchten, sich bei Angehörigen zu verstecken und mussten ihr letztes Geld für Übernachtungen in Motels ausgeben. Oft schliefen sie auch in öffentlichen Parks. Fünf Jahre zuvor war die Mutter mit ihren damals 14 Kindern durch die Ermordung ihres Mannes zur Witwe geworden. Er hatte als Zeuge in einem Strafprozess gegen Mitglieder einer kriminellen Bande mit der Polizei kooperiert. Mitte letzten Jahres entschloss sich die Frau, mit der ganzen Familie illegal zu emigrieren und im Ausland internationalen Schutz zu suchen.

Eine alleinerziehende Mutter, Agentin der Nationalen Zivilpolizei (PNC), sah sich gezwungen, ihr Haus zu verlassen, das sie mit einem Darlehen des Sozialwohnungsfonds (Fondo Social para la Vivienda, FSV) finanziert hatte. Vorübergehend fand sie Unterschlupf bei Verwandten, während sie vergeblich versuchte, in eine sicherere Gegend versetzt zu werden. Als sie keine Antwort auf ihr Ersuchen erhielt, musste sie ihre Wohnung endgültig verlassen und emigrieren.

Nach Daten des FSV und des Sozialwohnungsprogramms FONAVIPO (Fondo Nacional para la Vivienda Popular) haben in den letzten sechs Jahren 751 Familien ihre Häuser verlassen, weil sie an Orten lebten, die von der Organisierten Kriminalität oder Jugendbanden kontrolliert wurden bzw. unter deren Einfluss standen.

In den letzten drei Jahren ist die Zahl der Frauen, die aus den USA und Mexiko abgeschoben wurden bzw. unfreiwillig in ihre Heimat zurückkehren mussten, um über 200 Prozent gestiegen. Nach einer von Wissenschaftlern der Technischen Universität El Salvador (UTEC) zwischen Juli und Oktober 2015 durchgeführten Studie unter 747 Salvadorianern, die auf dem Luft- oder Landweg abgeschoben bzw. zur Rückkehr in ihre Heimat gezwungen wurden, gaben 42 Prozent der Befragten die Unsicherheit als Hauptgrund für ihre Auswanderungsentscheidung an. 10,4 Prozent von ihnen (78 Personen) erklärten, dass sie vor ihrer Emigration auf der Flucht vor der Gewalt ihren Wohnort bis zu fünfmal innerhalb des Landes gewechselt hätten.

Ein Problem wird ignoriert – erst recht, dessen Folgen für Frauen

Unmittelbarer Auslöser für die Vertreibung sind Drohungen oder Gewalttaten durch organisierte Banden, das haben alle Fälle gemeinsam. Aber der salvadorianische Staat zeigt sich unterschiedlich unfähig bzw. unwillig, sich für die Opfer einzusetzen. Immer wieder wird Familien oder Einzelpersonen in Notsituationen von Behörden die Hilfe verweigert, die notwendig wäre, um Vertreibung zu verhindern. Die staatlichen Stellen stehen dem Leid der Gewaltopfer gleichgültig gegenüber und verweisen auf fehlende Mittel oder auch auf die Grenzen ihres institutionellen Auftrags.

Während die organisierten Banden Gewalttaten verüben, die die Menschen in die Flucht zwingen, unternimmt der Staat im besten Falle gar nichts; schlimmstenfalls aber verstärkt er Schikane und Leiden. Betroffene Frauen werden erneut zu Opfern gemacht, indem ihnen und auch ihren Familien die erforderliche Betreuung und der Schutz verweigert werden, die speziell für sie als Frauen in einer Situation besonderer Vulnerabilität erforderlich wären. Solange die Problematik der Binnenvertreibung aufgrund der weitverbreiteten Gewalt und Unsicherheit – als Hauptursache für Zwangsmigration vor allem von Frauen – nicht anerkannt werden, bleibt der endlose Teufelskreis der Flucht bestehen.

Celia Medrano
Übersetzt aus dem Spanischen von Beate Engelhardt
boell.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.