Interview zur aktuellen Debatte der ägyptischen Linken „Die Armen sind für die Herrschenden Kriminelle”

Politik

Am 25. Januar begannen in allen grösseren Städten Ägyptens zigtausende Menschen gegen das autoritäre Regime des bis dato bereits 29 Jahre herrschenden Militärs Muhammad Husni Mubarak auf die Strasse zu gehen.

Nachdem Mubarak seinen Rücktritt bekannt gegeben hat, entfernen Aktivisten am 12. Februar 2011 als Geste eines symbolischen Neuanfangs politische Anti-Regierungs-Graffitis von der Qasr al-Nil Brücke in Kairo.
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Nachdem Mubarak seinen Rücktritt bekannt gegeben hat, entfernen Aktivisten am 12. Februar 2011 als Geste eines symbolischen Neuanfangs politische Anti-Regierungs-Graffitis von der Qasr al-Nil Brücke in Kairo. Foto: Sherif9282 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

8. September 2015
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Die Motive, auf die Strasse zu gehen, waren Vielfältig: Die grassierende Armut und die miserablen Arbeitsbedingungen, unter denen insbesondere die ägyptische Unterschicht zu leiden hat, und die Dekadenz einer korrupten, sich auf Kosten jener Unterschicht bereichernden politischen Kaste des Militärs, sowie deren zutiefst undemokratisches und repressives System dürften jedoch ausschlaggebend gewesen sein. Heute – knapp 4 Jahre später – scheint es, als sitze der neue starke Mann des Militärs Abd al Fattah as-Sisi fester im Sattel, als der 2011 durch den Volksaufstand gestürzte Mubarak.

Die Muslimbruderschaft ist, nach ihrem kurzen Intermezzo an der Macht, kalt gestellt, Linke und Oppositionelle werden verfolgt, nicht wenige mussten ins Exil gehen. Auch angesichts der Tatsache, dass der neue Machthaber der ägyptischen Militär-Junta bei den Herrschenden in Berlin im Juni mit allen Ehren empfangen wurde, sollte Grund genug sein, sich mit der aktuellen Debatte der ägyptischen Linken zu befassen und einen Rückblick auf den ägyptischen Aufstand 2011 zu wagen. Der Name des Interviewpartners ist auf dessen Wunsch hin entfernt worden, da dieser befürchten muss, auch im Exil vom langen Arm der ägyptischen Junta eingeholt zu werden.

Hallo X, bitte stell dich doch kurz vor! Wie hast du am ägyptischen Aufstand 2011 und den darauffolgenden Jahren teilgenommen? In welchen Initiativen und Organisationen warst du während dieser Zeit aktiv?

Hallo ich bin X, 24 Jahre alt und habe Germanistik und Pädagogik an einer Uni in Kairo studiert. Nach dem Abschluss habe ich als Lehrer gearbeitet. Mein politisches Engagement begann an der Uni ungefähr im Jahr 2010 , als ich an der Kampagne von Dr. Mohamed El-Baradi teilgenommen habe. Bei dieser handelte es sich um eine lang angelegte Kampagne, um demokratische Gesetzes- und Verfassungsänderungen zu erreichen. Sie flankierte eine von einem linken und liberalen Bündnis im Jahr 2005 getragene Kampagne gegen die autoritäre Herrschaft des seit 1982 herrschenden Militärs Mubarak (Kifaya-Kampagne – „Es ist genug!”).

Nach der Revolution habe ich mit Hilfe von anderen KollegInnen für 3 Monate politisch unabhängig gearbeitet, später dann für 5 oder 6 Monate mit den „Revolutionären Sozialisten” (الاشتراكيون الثوريون) – einer schon seit Nasser verfolgten kommunistischen Untergrundorganisation in Ägypten – an meiner Universität und schliesslich im Rahmen der Jugendbewegung des 6. April. In den letzten Monaten meines Studiums war ich schliesslich der Hauptverantwortliche der Studierendengruppe der Bewegung an meiner Universität und Verantwortlicher für eine Stadtteilgruppe. Nach fast drei Jahren Aktivität verliess ich die Bewegung und engagierte mich ehrenamtlich im Rahmen einer Menschenrechts-NGO.

International wurde der Aufstand in Ägypten aka der „Arabische Frühling” als eine Revolution des ägyptischen Volks verstanden, in der alle Gegner des Mubarak-Regimes unabhängig von Klassen-, Religionszugehörigkeit und Parteimitgliedschaften aktiv waren. Spielten Klasseninteressen – im Besonderen jene der unteren Klassen – eine Rolle im Aufstand? Was waren deiner Meinung nach die Hauptakteure des Aufstands im Sinne von Organisationen und Strömungen?

Die Revolution hatte von Beginn an im Prinzip vier Hauptforderungen: Zwei soziale, nämlich die nach Brot und sozialer Gerechtigkeit und jene zwei politischen, die für Freiheit und Menschenwürde. Unter diesen Forderungen können natürlich sehr viele verschiedene Sachen verstanden werden. Erschwerend hinzu kommt, dass die Unterklassen in Ägypten nicht organisiert sind. Ich selbst komme aus einem Slum in Ägypten, in dem es bis heute in Teilen kein Abwassersystem gibt, die Menschen unter elendsten Bedingungen leben und sogar das tägliche Wasser zum Überleben kaufen müssen. Die Armen waren und sind in den Augen des Regimes immer niedriger gestellt gewesen als andere, sie sind für die Herrschenden einfach Kriminelle. Ich selbst wurde mehrfach längere Zeit von der Polizei festgehalten, da auf meinem Personalausweis mein Geburtsort vermerkt und daher klar war, dass ich aus einem der Slums komme.

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass meine Lebensumstände mich immer beeinflusst und motiviert haben, mich politisch zu engagieren. Der Einfluss der Lebensumstände wird einem auch klar, wenn man weiss, dass gerade die obdachlosen Kinder und Jugendlichen aus den Slums eine entscheidende Rolle in den Strassenschlachten mit der Polizei gespielt haben.

An hauptsächlichen linken Akteuren sind im Prinzip zwei Strömungen zu nennen: Zum einen die bereits weiter oben erwähnten „Revolutionären Sozialisten”, zum anderen die „Bewegung des 6. April”. Ihren Namen hat die Bewegung von der ersten grossen erfolgreichen Kampagne zur Unterstützung des Arbeitsstreiks von Mahla 2008. Die Bewegung ist im Grunde in Zellen organisiert; in jedem Stadtteil gab es zur Zeit der Revolution koordinierende Zellen. Ausserdem war die anarchistische Bewegung involviert, die sich nach den Repressionserfahrungen mit dem Black Block-Konzept ebenfalls in kleineren Freundeskreisen organisierte, um dem Informantennetz des Staates zu entgehen. Zu nennen sind dann noch die „Jugendlichen für Gerechtigkeit und Freiheit”, die bereits vor der Revolution gegründet wurden. Anschliessend an die Revolution haben sich nun zwei weitere Organisationen gegründet: Die „Sozialistische Alternative” (البديل الاشتراكي), eine Abspaltung von den „Revolutionären Sozialisten”, und die Partei „Brot und Freiheit” (حزب العيش والحرية) – gegründet vom berühmten ArbeiterInnenanwalt Khaled Ali.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt spielte die Muslimbruderschaft eine wichtige Rolle und begann das öffentliche Bild der Proteste zu dominieren. Die Wahlen im Mai und Juni 2012 fielen zu Gunsten von Mohammed Mursi – dem vormaligen Kandidaten und ex-Präsidenten der Muslimbrüder – aus. Wie konnten die Muslimbrüder eine Massenanhängerschaft im Aufstand gewinnen und das Machtvakuum füllen, das Mubarak hinterlassen hatte?

Die Muslimbruderschaft war schlicht die einzige existente gut aufgestellte und organisierte politische Organisation jenseits der Institutionen des Militärs in Ägypten. Sie hat sowohl vor der Revolution als auch danach die Rolle übernehmen können, mit den Militärs zu verhandeln und darüber Relevanz gewonnen. Dazu kommt, dass sie über den Einfluss der Religion in der ägyptischen Gesellschaft viel Unterstützung mobilisieren konnte. Die Jugend auf der Strasse hat im Prinzip eine rechte religiöse Bewegung gegen eine rechte militärische Strömung unterstützt. Daher ist Mursi auch nicht allein durch die Unterstützung seiner Organisation an die Macht gekommen, sondern vor allem durch die breite Unterstützung der Jugend für den Kandidaten der Muslimbrüder gegen den Kandidaten des Militärs Ahmed Chafiq.

Das Mubarak-Regime hat das ägyptische Volk jahrelang materiell und geistig verarmen lassen. Die Muslimbrüder haben diesen Zustand gekonnt genutzt und hatten gleichzeitig das Ziel, die in die Ecke gedrängten Staatsapparate wiederaufzubauen. So erklären sich auch Waffen- und Ausrüstungskäufe, die unter der Regierung Mursi getätigt wurden: Sie waren ein Geschenk an die Staatsapparate.

Das Militär spielte spätestens seit Gamal Abdel Nasser an die Macht kam immer eine führende Rolle in der ägyptischen Gesellschaft – im Besonderen in Bezug zu Mubarak, der seinerseits ein Sprössling der militärischen Kaste des Landes ist und gute Beziehungen zum Westen und den USA unterhielt. Wie würdest du die Rolle des Militärs während dem Aufstand und danach im Kontext westlicher imperialistischer Interessen charakterisieren?

Während der Revolution machte das Militär oberflächlich Propaganda für die Revolution, der Realität entsprach das allerdings nicht. Seit dem ersten Tag der Revolution hat das Militär die Polizisten mit Waffenlieferungen unterstützt. Es gibt so viele Ereignisse, die international bekannt sind und durch die offengelegt wurde, dass das Militär Revolutionäre erschossen, gefoltert und Gewalt gegen Frauen ausgeübt hat. Sie haben z.B. auch den Schlägern des Mubarak-Regimes immer wieder gestattet, den Tahrir-Midan ungehindert zu betreten und die Revolutionäre anzugreifen – viele von uns wurden bei den Angriffen schwer verletzt. Die Islamisten von den Muslimbrüdern versuchten stets innerhalb der Bewegung das positive Bild vom Militär aufrecht zu erhalten; sie glaubten sie könnten nach einer möglichen Machtübertragung alles im Griff behalten. Der Konflikt zwischen dem Militär und den Islamisten begann schliesslich, als die Machtfrage gestellt wurde.

Der gesamte Konflikt hat natürlich die Interessen der Imperialisten nicht unberührt gelassen und ihre Positionen haben sich verändert. Die USA unterstützten am Ende nicht mehr Mubarak, da u.a. Gamal Mubarak, dessen Sohn, den ägyptischen Markt weitgehend unter sich monopolisiert hat und das gegen ihre Interessen war. Indirekt haben die USA die Muslimbrüder daher zum Zeitpunkt der Revolution unterstützt, weshalb z.B. das Militär auch damals auf Distanz ging und sich verstärkt russischen Interessen zugewendet hat. Das Militär steht schlicht und einfach auf der Seite der Länder, die es an der Macht halten. Deutschland schliesslich hatte immer ein gutes Verhältnis zu allen verschiedenen Regimes in Ägypten. Durch die Partnerschaft zwischen Ägypten und Deutschland floss viel Geld in ägyptische Gross-Projekte. Deutschland agiert klug: Es dominiert zuerst über die Kultur und schliesslich vor allem über ökonomische Macht – zuletzt werden die Länder gezielt in Abhängigkeit getrieben.

Nachdem die USA und Deutschland gegen den Putsch des Militärs gegen Mursi waren, sind sie inzwischen wieder an der Seite des neuen ägyptischen Diktators Al-Sisi. U.a. die neuerlichen Angriffe des Militärs auf dem Sinai sind das ausschlaggebende Argument für diese Veränderung der Position beider Länder gegenüber dem Putsch. John Kerry, der derzeitige amerikanische Aussenminister hat dazu neulich in Ägypten erklärt: „Wir müssen für die israelische Sicherheit stehen.” Ein CSU-Abgeordneter sagte zur selben Zeit in etwa das Gleiche als Antwort auf Kritik an dem Besuch von Al-Sisi in Berlin. Für Deutschland spielt in der Unterstützung Al-Sisis neben ökonomischen Gründen ausserdem eine Rolle, mit entsprechenden Verträgen Flüchtlinge am Überqueren des Mittelmeers zu hindern.

Nachdem die Muslimbrüder schliesslich den internen Machtkampf gegen das Militär verloren hatten, kam Al-Sisi an die Schalthebel der Macht. Wenn du zurückschaust nach diesem Sieg der Konterrevolution: Würdest du sagen es war alles umsonst, oder siehst du Erfolge und Errungenschaften in den Entwicklungen der letzten Jahre? Welche Fehler hat die Bewegung deiner Meinung nach gemacht in Bezug zu ihrem Konzept und ihrer Praxis?

Während der Revolution gab es so viele Errungenschaften und Erfolge, aber zuletzt haben wir leider fast alles verloren, was wir dank der Revolution gewonnen hatten. Was wir mitnehmen konnten, war die Erfahrung selbst: Die Kraft der Veränderung liegt in unseren eigenen Händen. Ich gebe den Islamisten keine Schuld. Im Gegenteil: Wir sind schuldig, dass wir den Rechten (Nasseristen und Islamisten) vertraut haben, denn sie glauben nicht an die Revolution. Im Rückblick betrachtet, befanden wir uns immer in einem Teufelskreis zwischen Militärdiktatur und islamistischer Diktatur. Wir konnten keinen Ausweg daraus finden, weil wir nicht radikal genug waren.

Unter der Herrschaft Al-Sisis begann der ägyptische Staatsapparat eine aggressive Innen- und Aussenpolitik. Der wiedergeborene Polizeistaat inhaftierte viele AktivistInnen mit unterschiedlichem politischen Hintergrund, Organisationen wurden verboten, einige führende AktivistInnen wurden zum Tode verurteilt. Konfrontiert mit diesem Rollback: Welche Perspektiven diskutiert die ägyptische Linke derzeit? Was ist eurer Meinung nach eine angemessene Strategie, um zurück in die Offensive zu kommen?

Momentan ist die gesellschaftliche Situation schlimmer als in einem Polizeistaat; ein Militär-Junta wäre eine angemessene Bezeichnung für das, was in Ägypten gerade herrscht. Es gibt derzeit unzählige Fälle von AktivistInnen, die vor das Militärgericht gestellt wurden. Die grösste marxistische Bewegung in Ägypten derzeit sind die „Revolutionären Sozialisten”, die die These vertreten, dass man nun unter den derzeitigen Verhältnissen eine gemeinsame revolutionäre Front zusammen mit den Islamisten von der Muslimbruderschaft bilden müsse. Ich kann angesichts dieser These nicht glauben, dass sie aus der Geschichte des Aufstands gelernt haben. Der grösste Fehler, weshalb die Revolution in Ägypten sich in eine faschistische Richtung entwickelt hat, war nämlich meiner Meinung nach eben genau die Zusammenarbeit mit den Muslimbrüdern, da diese Kräfte eine ganz andere Motivationen und andere politische Ziele hinter dem Aufstand hatten und haben als wir. Andere kleine linke Strömungen haben die Ausrichtung auf ein Bündnis mit den Islamisten stark kritisiert, wie z.B. die anarchistische Bewegung in Ägypten. Diese hat betont, dass wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen dürfen, und ein anderer Zugang zum Widerstand gefunden werden muss, bei dem wir uns lediglich auf die Arbeiter und die Armen verlassen dürfen.

Ich teile die Auffassung der Anarchisten, allerdings ist dieser Weg steinig und schwer. Wir haben drei Gesetze, die einen möglichen Aufstand in Ägypten behindern und den de facto faschistischen Staat verkörpern: Die Demonstrations-, NGO-, und Terrorgesetzgebung. Mit diesen drei Gesetzgebungen im Hintergrund ist es derzeit Selbstmord, auf die Strasse zu gehen. Glücklicherweise gibt es aber Bewegungen gegen diese repressive Gesetzgebung, das muss man nutzen. Eine andere Strategie ist der Aufbau internationalen Drucks, bis diese drei Gesetze durch äusseren Druck abgeschafft werden. Es ist leider nur möglich so pragmatisch zu denken, weil die meisten Menschen in Ägypten aufgrund der populistischen Propaganda und der Tatsache, dass die meisten Aktivisten in den Gefängnissen sitzen, Angst haben. Wenn zumindest die AktivistInnen auf freiem Fuss wären, wäre die Lage sicherlich besser.

In einigen westlichen Ländern gab es Solidaritätskampagnen mit dem ägyptischen Aufstand. Parallel dazu begannen in anderen arabischen Ländern ähnliche Revolten gegen korrupte Regime und schlossen sich eurem Kampf an – manchmal mit ähnlichen Konsequenzen. Welche Art der Solidarität hattet ihr erfahren und welche Art der Solidarität hättet ihr euch gewünscht?

In manchen Ländern wurde die ägyptische Revolution thematisiert, aber meiner Meinung nach nicht umfassend genug. Ich habe zur damaligen Zeit nur von einer einzigen Solidaritätsbewegung in Deutschland, nämlich UNFINISHED REVOLUTION, gehört, das vor allem die revolutionären Subkulturen in Ägypten unterstützt hat. Ein weiteres mir bekanntes Studierendenprojekt ist LIQA e.v., das politische Workshops für deutschsprachigen Studierende in Ägypten gegeben hat oder Al-Sharq – ein Verein, der Reisen nach Ägypten organisiert, um die für die Revolution bedeutenden Strassen zu besichtigen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir mehr internationale Unterstützung durch Projekte, Soliveranstaltungen usw. erhalten hätten. Unser Kampf sollte Auch im Westen mehr Unterstützung erfahren – im Sinne der universalen Idee.

Jan Ronahi / lcm