Erleichterung der Einbürgerung mit religiöser Schlagseite Indiens Flüchtlingspolitik in unsicheren Zeiten

Politik

Auch Indien hat seine Flüchtlingsdebatte. Während die tibetische Exil-Community vergleichsweise gut integriert ist, werden muslimische Migranten aus Bangladesch und Rohingya-Flüchtlinge aus Myanmar verstärkt als Bedrohung wahrgenommen und zum Objekt populistischer, politischer Polarisierung.

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Grosse zerbröckelte Lettern an Hauswand: Father Land «Ein bröckeliges Vaterland» - «Fatherland» war ein Bauunternehmen, dessen Gründer ein burmesischer Muslim ist. Foto: Axel Harneit-Sievers (CC BY-SA 2.0 cropped)

14. Mai 2018
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In einer Welt, in der laut UNHCR 22,5 Millionen Menschen ihre Heimatländer als Flüchtlinge verlassen haben, und mit darüber hinaus 10 Millionen Staatenlosen, wird Indien eher nicht als ein Schwerpunktland in der Politik der globalen Flüchtlingskrise wahrgenommen.

Doch hat das Land über Jahrzehnte hinweg immer wieder Flüchtlinge willkommen geheissen. Der im Westen bekannteste Fall ist sicher der der Exil-Tibeter, die seit 1959 nach Indien gekommen sind. Durch Krisen jüngerer Zeit sind neue Flüchtlingsgruppen dazugekommen, etwa aus Afghanistan und in den letzen Jahren insbesondere aus Myanmar.

Wachsende (wenn auch im internationalen Massstab nicht wirklich grosse) Zahlen führen heute – auch vor dem Hintergrund des schon seit langem debattierten Problems illegaler Einwanderung aus Bangladesch – zu verschärften innenpolitischen Auseinandersetzungen um den Status von Flüchtlingen in Indien.

Auch Indien hat seine Flüchtlingsdebatte, und ihre Grundlinien sollen hier skizziert werden. Humanitäre Aspekte, Innen- und Aussenpolitik greifen dabei ineinander.

Indien ist kein Unterzeichnerstaat der UN-Flüchtlingskonvention. Diese Tatsache gibt der indischen Regierung politischen Spielraum im Umgang mit Flüchtlingen, den sie in der Praxis auch im Hinblick aussenpolitischer Interessenlagen nutzt. Dieser Spielraum ist in manchen Fällen durchaus in offener, freundlicher und akzeptierender Weise genutzt wurden. Doch gibt es auch Fälle von Abwehr und Ausschliessung.

In jedem Fall bedeutet diese juristische Situation grundsätzlich ein Risiko für Flüchtlinge in Indien und schafft Unsicherheit. Deshalb mehren sich heute die Stimmen im Land, die eine moderne Flüchtlingspolitik für Indien fordern, die Flüchtlinge grundsätzlich nach internationalen Regeln anerkennt und ihnen besser definierte Rechte einräumt.

Flüchtlinge in Indien

Flüchtlinge in Indien lassen sich in drei Kategorien einteilen. Die erste, am besten bekannte Gruppe sind diejenigen, die Indien aufgrund einer politischen Entscheidung als Flüchtlinge anerkennt und unterstützt. Das gilt etwa für die rund 110.000 Exil-Tibeter, aber z.B. auch für rund 65.000 Tamilen, die in Zeiten des Bürgerkriegs aus Sri Lanka vor allem in den indischen Bundesstaat Tamil Nadu flohen.

Eine zweite Gruppe von Flüchtlingen sind diejenigen, die vom UNHCR registriert und betreut werden, und die der indische Staat aufgrund dieser Registrierung selbst anerkannt. Dies waren 2016 rund 35.000 Menschen, vor allem aus Myanmar (19.000) und aus Afghanistan (13.000).

Die dritte Gruppe von Flüchtlingen schliesslich sind Menschen, die sich de facto in Indien aufhalten, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Ihre Zahl lässt sich nicht spezifizieren, und hier gibt es offenkundig Überschneidungen mit dem Phänomen informeller, legaler oder illegaler Migration. In der indischen Debatte ist vor allem die Herkunft von Migranten aus Bangladesch kontrovers und hochgradig politisiert.

Tibeter im indischen Exil: Staatenlosigkeit in freundlichem Umfeld

Am Beispiel der Exil-Tibeter lassen sich Stärken und Schwächen des indischen Umgangs mit Flüchtlingen aufzeigen, die auf lange Zeit im Lande leben.

Seit der Dalai Lama im Jahr 1959 mit zahlreichen Anhängern nach Indien floh, stellte der indische Staat der exiltibetischen Gemeinde an verschiedenen Orten Land zu Verfügung, um sich dort niederzulassen. Das wichtigste Zentrum ist McLeod Ganj, ein Stadtteil von Dharamshala im Bundesstaat Himachal Pradesh, der die zentrale Infrastruktur der Exil-Gemeinschaft (einschliesslich des exiltibetischen Parlaments) beherbergt. Daneben gibt es, über ganz Indien verteilt, rund 35 weitere tibetische Siedlungen. Der indische Staat hat der exiltibetischen Gemeinschaft erhebliche Freiräume eingeräumt, einschliesslich der Möglichkeit politischer Meinungsäusserung für die exiltibetische Politik. Die exiltibetische Gemeinschaft hat recht erfolgreiche Kleinunternehmer in Handel, Restaurantbetrieben u.ä. hervorgebracht. Deshalb ist die Lebenssituation der meisten Flüchtlinge relativ gut. Auch verfügt die Gemeinschaft über eigene soziale und Bildungseinrichtungen, die sich auch um neu nach Indien kommende Flüchtlinge kümmert. Deren Zahl ist allerdings nach 2008 stark zurückgegangen. Die Flüchtlinge sind vergleichsweise gut integriert.

Trotz dieser grundsätzlich freundlichen Aufnahmesituation bleiben fundamentale Unsicherheiten bestehen, was den Aufenthaltsstatus von Exiltibetern in Indien betrifft. Über die Jahrzehnte hinweg ist eine Gemeinschaft entstanden, deren Mitglieder mehrheitlich staatenlos sind. Die meisten Tibeterinnen und Tibeter in Indien haben keine indische Staatsbürgerschaft, sondern gelten als Ausländer, die regelmässig bei der Ausländerpolizei ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern müssen, selbst wenn sie in Indien geboren sind. Sie haben keine global gültigen Reisepässe, sondern nur vom indischen Aussenministerium ausgestellte passähnliche Reisedokumente, die nicht überall anerkannt werden, am ehesten noch in der westlichen Welt.

Die Staatenlosigkeit weiter Teile der exiltibetischen Gemeinschaft ist Ergebnis einer generell restriktiven Einbürgerungspolitik Indiens, aber auch Resultat einer von der exiltibetischen Führung verfolgten Politik, die fürchtet, dass ein Erwerb der indischen (oder einer anderen) Staatsbürgerschaft die tibetische Identität der Flüchtlinge unterminieren und damit den politisch-kulturellen Impuls der Exil-Gemeinschaft mindern würde. Natürlich halten sich nicht alle Mitglieder der Gemeinschaft an diese Politik; manche haben Wege gefunden, für sich oder ihre Kinder die indische Staatsbürgerschaft zu sichern, ohne dies an die grosse Glocke zu hängen.

Veränderungen sind im Kommen. Im September 2016 entschied der Oberste Gerichtshof, dass zwischen 1950 und 1987 in Indien geborene ethnische Tibeterinnen und Tibeter und ihre Kinder das Recht auf einen indischen Pass besitzen. Allerdings müssen sie, den Ausführungsbestimmungen des Aussenministeriums zufolge, wenn sie einen indischen Pass beantragen, alle Privilegien der exiltibetischen Gemeinschaft und vor allem ihren Wohnsitz in einer der tibetischen Siedlungen aufgeben. Die mit solchen Regelungen verbundene bürokratische Willkür ist nur ein Element der generellen Unsicherheit, die mit der Staatenlosigkeit selbst in einem grundsätzlich freundlichen Umfeld wie Indien einhergeht – ganz zu schweigen von den existenziellen Risiken, die aus grundlegenden Änderungen der indischen Aussenpolitik (etwa im Zuge einer indisch-chinesischen Annäherung) für das Aufenthaltsrecht der exiltibetischen Gemeinschaft in Indien resultieren könnten.

Flüchtlinge aus Myanmar: Politisierung der Flüchtlingspolitik

Der Fall der Rohingya-Flüchtlinge in Myanmar zeigt, wie Flüchtlingsfragen auch in Indien zum Gegenstand populistischer politischer Strategien werden.

Myanmar, Indiens östlicher Nachbar, befindet sich nach Jahrzehnten der Militärherrschaft heute in einem demokratischen Transitionsprozess. Allerdings hat dieser nicht etwa den Zustrom von Flüchtlingen aus Myanmar beendet. Im Gegenteil: Die aktuelle Rohingya-Flüchtlingskrise, in deren Verlauf seit August 2017 rund 700.000 Muslime aus Nord-Rakhine nach Bangladesch geflohen sind, findet direkten und indirekten Niederschlag in der indischen Flüchtlingspolitik.

Indien hat über viele Jahre schon Flüchtlinge aus Myanmar, üblicherweise durch das UNHCR registriert, beherbergt: Unter ihnen sind individuelle politische Flüchtlinge sowie Menschen aus Myanmars Chin State, die über Mizoram (ein Grenzstaat in Nordost-Indien mit ethnisch verwandter Bevölkerung) Indien erreichen. Dazu gehören aber auch – seit 2005 und verstärkt seit der Eskalation der Konfikte in Rakhine seit 2012 – einige tausend Rohingya, die unterstützt durch muslimische Philanthropen vor allem in Jammu (Kaschmir) und Hyderabad (Telengana) leben.

Insbesondere die Rohingya-Flüchtlinge sind in Indien in den letzten Monaten zum Gegenstand heftiger politischer Kontroversen geworden. Das hat innen- wie aussenpolitische Gründe. Auf dem Höhepunkt der Massenflucht aus Myanmar nach Bangladesh kündigte das indische Innenministerium im September 2017 an, die in Indien lebenden Rohingya-Flüchtlinge (die, wie beschrieben, dort durchaus schon länger leben) deportieren zu wollen, da sie wegen drohender islamistischer Radikalisierung ein Sicherheitsrisiko seien. Indische Menschenrechtsanwälte wie Colin Gonsalves haben inzwischen eine Gerichtsentscheidung herbeigeführt, die eine Deportation verhindert, indem sie feststellt, dass Entscheidungen über das Bleiberecht für Flüchtlinge in Indien nicht allein von sicherheitspolitischen Erwägungen abhängig gemacht werden dürften. Abgesehen davon hat das Ministerium bis heute nicht sagen können, wohin es die Flüchtlinge eigentlich deportieren wolle.

Dennoch wird das Thema der Rohingya-Flüchtlinge von hindunationalistischen Kreisen immer wieder auf die Tagesordnung gebracht. Es geht dabei um anti-muslimische Propaganda generell, und speziell im Falle Jammus um das Aufgreifen von Ängsten vor einer Änderung der religiösen Mehrheitsverhältnisse in diesem mehrheitlich von Hindus bewohnten Teil des Bundesstaats Jammu und Kaschmir. Dort leben wiederum viele Anfang der 1990er Jahre aus dem Kaschmir-Tal vertriebene Hindus – „Kashmiri Pandits“ – als Binnenflüchtlinge.

Die politische Kampagne um die Rohingya-Flüchtlinge in Indien hat aber auch eine aussenpolitische Dimension. Myanmar wird wegen der Flucht und Vertreibung der Rohingya aus Rakhine vom Westen, dem UN-Menschenrechtskommissariat und der arabischen Welt massiv kritisiert. In dieser Situation setzt die indische Aussenpolitik ein Signal, unabhängig von menschenrechtlichen Erwägungen die Annäherung Indiens an Myanmar voranzubringen, indem man sich als freundlicher Nachbar und potenzielles Gegengewicht zum dominanten Einfluss Chinas in Myanmar präsentiert. Tatsächlich blieb der Besuch des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi in Myanmar Anfang September 2017 – also auf dem Höhepunkt der Rohingya-Flüchtlingskrise – völlig unberührt von den diplomatischen Verwicklungen, wie sie Myanmar-Reisen westlicher Gäste oder des Papstes kennzeichneten (so hatte etwa der Papst auf die Verwendung des in Myanmar weithin abgelehnten Begriffs „Rohingya“ verzichten müssen). Indiens Anspruch, mit Flüchtlingen human umzugehen, fällt an diesem Punkt seinen aussenpolitischen Interessen zum Opfer.

Flüchtlinge und „Illegale Migranten“ in Indien: Auf dem Weg zur Bevölkerungsregistrierung

Indiens Flüchtlingspolitik, insbesondere im Fall der Rohingya, wird von verbreiteten Ängsten über illegale Einwanderung vor allem von Muslimen aus Bangladesch mit beeinflusst. Bangladeschis, die es durch die heute in weiten Teilen mit einem Grenzzaun gesicherte Grenze zum indischen Bundesstaat Westbengalen schaffen, sind in Indien schwer als solche identifizierbar und können in der bengalischen Gemeinschaft in den grossen Städten unerkannt leben und arbeiten. Das gilt auch für Rohingya, die in Indien üblicherweise ethnisch einfach als Bengalis identifiziert werden.

Die Migrationsproblematik führt vor allem in Nordost-Indien seit Jahrzehnten zu schweren Konflikten. Indiens Nordosten – vor allem die Bundesstaaten Assam, Meghalaya und Tripura – waren spätestens seit dem 19. Jahrhundert das natürliche Hinterland der damals noch ungeteilten Provinz Bengalen. Zahlreiche bengalische Migranten zogen in die eher dünn besiedelte Region, als Arbeitskräfte auf den Teeplantagen, als Bauern oder auch als Mitarbeiter der kolonialen Verwaltung. Die Teilung Britisch-Indiens 1947 schuf eine internationale Grenze zum damaligen Ostpakistan, die allerdings anfangs noch recht durchlässig blieb. Der Krieg 1971, an dessen Ende Bangladesch unabhängig wurde, brachte Millionen von Flüchtlingen nach Indien. Die meisten kehrten nach Kriegsende in ihre Heimat zurück, doch hat sich seither der Konflikt um illegale Einwanderung aus Bangladesch nach Nordostindien massiv verschärft.

Ende der 1970er Jahre entstanden die All Assam Students Union und andere politische und Untergrundbewegungen, die für politische Autonomie und gegen Migranten mobilisierten. In Nellie (Assam) kam es 1983 zu einem Pogrom gegen muslimische Migranten, dem Tausende zum Opfer fielen; keiner der dafür Verantwortlichen ist dafür je juristisch zur Rechenschaft gezogen. Eine politische Kompromisslösung in Form des „Assam Accord“ von 1985 legte fest, dass nur diejenigen, die einen Aufenthalt im Staat vor dem 21. März 1971 (Beginn des Kriegs um Bangladesch) nachweisen konnten, legale Aufenthaltstitel erhalten, spätere Migranten jedoch ausgewiesen werden sollten.

Dieser Aspekt des Assam Accords wurde allerdings nie in grösserem Umfang durchgesetzt, und zumindest nach Ansicht indunationalistischer Kreise hat sich die illegale Einwanderung aus Bangladesch fortgesetzt. Zahlreiche Migranten haben sich auf marginalem Land wie den Inseln und Sandbänken („char“) im Brahmaputra niedergelassen; Migranten erhalten politischen Schutz durch demokratische Politiker, die von ihnen Wählerstimmen erwarten. Der Konflikt um die Migration hat wesentlich zum Wahlsieg der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) in Assam im April 2016 beigetragen. Seither wird mittels verschärfter Implementierung des National Register of Citizens (NRC) in Assam die Verifizierung der Staatsangehörigkeit vorangetrieben; als Reihe von als illegal identifizierter Personen wurden inzwischen in Abschiebehaft genommen. Schwierigkeiten, die für eine NRC-Verifizierung benötigten Dokumente beizubringen, sind zu einem Risiko für Millionen Menschen in Assam geworden, vor allem für Assams Muslime, die rund ein Drittel der Bevölkerung im Staat ausmachen.

Parallelen zwischen Myanmar und Indien

Der Konflikt um die Migration in Nordostindien weist historische und strukturelle Parallelen zur Lage in Myanmars Rakhine State auf, die vor dem Hintergrund der Rohingya-Krise beängstigend erscheinen.

Auch wenn es schon im vorkolonialen Arakan-Königreich (dem heutigen Rakhine State) muslimische Bevölkerungsgruppen gab, hat der grössere Teil der sich heute als ethnische Gruppe der Rohingya identifizierenden Gruppe in Rakhine ihren Ursprung in der Migration aus Bengalen während der Kolonialzeit (v.a. seit den 1880er Jahren, als Burma Teil von Britisch-Indien war). Wahrscheinlich hat sich diese Einwanderung sogar noch nach der Unabhängigkeit des Landes 1948 fortgesetzt. Im Umfeld der Unabhängigkeit suchten die Muslime in Rakhine zunächst den Anschluss an Ostpakistan, und – als dies scheiterte – dann die politische Autonomie.

Muslime in Rakhine waren durchaus in das politische System des unabhängigen Burma integriert, etwa indem sie Abgeordnete ins Parlament entsandten, während zugleich – wie in anderen ethnischen Minderheitsregionen Burmas auch – eine Armee im Untergrund für die Selbständigkeit kämpfte. Unter der Militärherrschaft ab 1962 verschlechterte sich ihr Status, vor allem durch das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1982, das nur Einwohnern von Bevölkerungsgruppen, deren Vorfahren bereits vor 1824 (d.h. vor Beginn der Kolonialherrschaft in Burma) dort lebten, die volle Staatsbürgerschaft zubilligte. Seither haben sich rechtlicher Status und Lebensbedingungen der Rohingya in Myanmar dramatisch verschlechtert.

Die politische Öffnung in Myanmar ab 2012 besserte nicht etwa diese Situation. Stattdessen verschärften sich durch politische Instrumentalisierung Konflikte zwischen Muslimen und Buddhisten im Land. Vor diesem Hintergrund stellte die National League for Democracy (NLD) unter der demokratischen Hoffnungsträgerin Aung San Suu Kyi für die Wahlen 2015 keine muslimischen Kandidaten auf. Tatsächlich besitzen die Rohingya in Myanmar praktische keine politischen Freunde, denn auch andere ethnische Minderheitengruppen erkennen die Behauptung der Rohingya, eine eigene „indigene ethnische Gruppe“ wie andere auch zu sein, letztlich nicht an.

Am schwerwiegendsten aber ist der Konflikt zwischen den Rohingya und den buddhistischen Rakhine, der Mehrheitsbevölkerung des gleichnamigen Bundesstaats, die sich selbst wiederum politisch im Konflikt mit dem myanmarischen Staat befinden. Aus deren Sicht stellen die Rohingya illegale Einwanderer aus Bengalen dar, die gekommen sind, um ihnen ihr Land, ihre Religion und ihre Kultur zu rauben. (In dieses Bild gehört auch die Perzeption, die Rohingya würden buddhistische Frauen heiraten, um sie zu islamisieren und eine grosse Zahl muslimische Kinder in die Welt zu setzen.) Vor diesem Hintergrund ist zu erklären, dass das Vorgehen des myanmarischen Militärs gegen die Rohingya (unter Beteiligung von Milizen ethnischer Rakhine) nach Angriffen einer militanten Rohingya-Untergrundgruppe in Myanmar 2016-17 kaum auf Kritik stösst, ja vermutlich – es gibt hierzu keine Meinungsumfragen – von weiten Bevölkerungsgruppen unterstützt wird.

Der Vergleich mit der Situation in Rakhine zeigt, dass – trotz mancher erschreckender Parallelen und einer Reihe schwerwiegender Fälle von Gewalt gegen als „illegale Migranten“ identifizierte Gruppen in Nordostindien – das politische System Indiens ganz anders agiert. Indiens juristisches System und seine zivilgesellschaftliche Akteure schaffen ein gewisses Mass von Rechtssicherheit für Migranten, das auch von einer hindunationalistischen Regierung nicht einfach ausser Kraft gesetzt werden kann. Aber auch wenn die politischen Folgen nicht so dramatisch wie in Myanmar sind, sind die Probleme schwerwiegend genug, um Wahlen zu beeinflussen und in Assam eine Partei an die Macht zu bringen, die – ähnlich wie die NLD in Myanmar – Bevölkerungsgruppen mit muslimischem Migrationshintergrund nicht nur ausgrenzt, sondern aktiv gegen sie vorgeht.

Schluss: Erleichterung der Einbürgerung mit religiöser Schlagseite

Indien ist zurecht stolz darauf, schon seit langem Flüchtlingen und Verfolgten aus aller Welt Sicherheit und eine neue Heimat gegeben zu haben; einzelne gern genannte Beispiele dafür reichen weit in die Geschichte zurück (etwa im Falle der als „Bene Israel“ bezeichneten jüdischen Gemeinschaft in Kochi in Südindien). Aus dieser Perspektive besitzt Indien eine Willkommenskultur, die die Humanität und Toleranz für Diversität als Grundwerte indischer Kultur belegt. Tatsächlich besitzt die indische Gesellschaft traditionell eine hohe Integrationsfähigkeit – auch wenn dies oft eher allein in der Akzeptanz von sozialen, ethnischem oder religiösen Subkulturen (als eine Koexistenz von Parallelgesellschaften) darstellt und keine „Integration“ etwa im Sinne der deutschen Integrationsdebatte.

Indiens Flüchtlingspolitik ist aber auch von politischen Interessen und Kalkülen bestimmt; der Umgang mit den Rohingya-Flüchtlingen in jüngster Zeit macht dies sehr deutlich. Ein 2016 von der BJP-Regierung vorgeschlagenes neues Staatsbürgerschaftsgesetz (Citizenship Bill) sieht vor, Flüchtlingen, die in Indiens Nachbarstaaten religiöser Verfolgung ausgesetzt sind, unter bestimmten Bedingungen das Recht auf Einbürgerung zu gewähren: Darunter fallen vor allem Hindus, aber auch Angehörige anderer nicht-muslimischer Religionen in Pakistan und Bangladesch – aber nicht etwa verfolgte Rohingya-Muslime aus Myanmar oder Ahmadis aus Pakistan.

Dieses Gesetz entspringt der anti-muslimischen Grundhaltung des Hindunationalismus, der Buddhisten, Jains, Sikhs und selbst Parsis als Religionen „indischen Ursprungs“ akzeptiert. Obwohl das Gesetz eine Verbesserung der Situation bestimmter Flüchtlingsgruppen verspricht, wird es von vielen als ein Versuch kritisiert, Indien (in Anleihe an Israels Rückkehrgesetz) zur „nationale Heimat für verfolgte Hindus“ zu erklären und damit die säkulare Selbstdefinition des unabhängigen Indien infrage zu stellen.

Indiens Flüchtlingspolitik wird sich auch in Zukunft im Widerstreit zwischen traditioneller Willkommenskultur und restriktiver Praxis, vor allem gegenüber muslimischen Flüchtlingen und Migranten, bewegen. Die Politisierung der Angst vor „illegaler Einwanderung“ aus Bangladesch und von Rohingya aus Myanmar beschädigt das gesellschaftliche Klima Indiens. Gerichtsentscheidungen verhindern derzeit die schlimmsten Auswüchse des antimuslimischen Grundzugs in der Flüchtlingspolitik der BJP-Regierung. Für politisch weithin akzeptierte Flüchtlingsgruppen gilt es, ihre Rechte zu stärken und Einbürgerung zu erleichtern, um die Rechtssicherheit für sie zu verbessern und die Entstehung grosser, strukturell staatenloser Gemeinschaften im Land zu verhindern.

Axel Harneit-Sievers
boell.de

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