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Chinas Weg in den Kapitalismus

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Ralf Ruckus über Reformen und Repression Chinas Weg in den Kapitalismus

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Politik

Der Sozialismus chinesischer Prägung entwickelte sich nach und nach zu einem modernen Kapitalismus.

Kaufhaus in Hongkong, Januar 2019.
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Kaufhaus in Hongkong, Januar 2019. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

Datum 4. Januar 2022
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Interview mit Ralf Ruckus über die «sozialistische Klassengesellschaft», westliche linke Perspektiven auf China und die heutige chinesische Arbeiter:innenbewegung.

Ralf, du beteiligst dich seit Jahrzehnten an Hausbesetzungen, Arbeitskämpfen, Basisorganisierungen und internationalen Solidaritätsnetzwerken. Damit können viele radikale Linke etwas anfangen. Du befasst dich aber zusätzlich intensiv mit der Volksrepublik China, schreibst für die Website «gongchao» und veröffentlichst Beiträge über die moderne Klassenpolitik und Arbeitskonflikte sowie über Migration und Geschlechterverhältnisse in China. Weshalb sollten sich europäische Kommunist:innen und Anarchist:innen mit der Geschichte und Gegenwart Chinas auseinandersetzen?

Vor allem aus zwei Gründen: Erstens, weil die Volksrepublik China in den letzten Jahrzehnten zur zweitgrössten Ökonomie der Welt und zum globalen Zentrum der industriellen Produktion geworden ist. Andere Ökonomien, in Europa und anderen Teilen der Welt, sind über Zulieferketten, Logistik und den globalen Markt eng mit China verbunden. Wirtschaftliche Veränderungen in China, aber auch Kämpfe für höhere Löhne oder die aktuellen Lieferschwierigkeiten haben direkte Auswirkungen auf die Verhältnisse bei uns. Zweitens ist die Geschichte der Volksrepublik China die eines revolutionären Versuchs. Auch wenn manche von uns Form und Richtung des Versuchs kritisch sehen, sollten wir uns die ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte genau anschauen – vor allem die Dynamik von sozialen Kämpfen von unten und Gegenmassnahmen von oben –, um so für neue revolutionäre Versuche vorbereitet zu sein.

Welche Positionen dominieren heutzutage in der westlichen Linken den Diskurs über China?

Drei Positionen stechen heraus: Einige Linke unterstützen das heutige Regime in China als sozialistisches Bollwerk gegen den US-Imperialismus. Sie blenden sowohl den kapitalistischen Charakter des Regimes in China als auch die sozialen Kämpfe von unten und ihre Unterdrückung von oben aus. Andere Linke kritisieren dagegen das heutige Regime als kapitalistisch, beziehen sich jedoch positiv auf die sozialistische Vergangenheit vor den Marktreformen ab Ende der 1970er Jahre. Sie erkennen also die aktuelle kapitalistische Ausbeutung, patriarchale Unterdrückung und das harsche Migrationsregime, beschönigen oder ignorieren hingegen die realen Bedingungen und Klassenauseinandersetzungen im Sozialismus von den 1950ern bis in die 1970er Jahre. Diese beiden Positionen sind verbreitet. Ich vertrete eine dritte Position und kritisiere die Bedingungen in allen Phasen, im Sozialismus, in der Übergangsphase und im Kapitalismus in China.

In deinem neuen Buch bezeichnest du die Phase nach der chinesischen Revolution als «sozialistische Klassengesellschaft». Gelang es der Revolution denn nicht, kapitalistische und feudale Strukturen zu überwinden?

Auf jeden Fall gab es nach 1949 eine gesellschaftliche Umwälzung, erst eine Landreform Anfang der 1950er Jahre, später dann die Kollektivierung auf dem Land und die Verstaatlichung der Betriebe. Insofern verschwanden viele feudale und kapitalistische Strukturen. Es hat sich jedoch schnell eine neue sozialistische Kaderklasse gebildet, und diese hat neue politische und ökonomische Klassenverhältnisse geschaffen. Der sozialistische Aufbau war eine Form ursprünglicher Akkumulation, mit der die Bedingungen für die Industrialisierung und die aufholende Entwicklung geschaffen wurden. In den Betrieben etablierte die Kommunistische Partei ein hierarchisches Arbeitsregime, die patriarchalen Verhältnisse wurden an die Bedürfnisse der sozialistischen Arbeitsgesellschaft angepasst, und die Menschen auf dem Land wurden ausgepresst, um die Industrialisierung bewerkstelligen und die privilegierte Versorgung der relativ kleinen städtischen Arbeiter:innenklasse gewährleisten zu können.

Inwiefern nahm die chinesische Revolution Einfluss auf patriarchale Strukturen?

1950 wurden Frauen* rechtlich gleichgestellt, sie bekamen die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen, und sie durften einer Lohnarbeit nachgehen. Die Kommunistische Partei etablierte zudem den Frauenverband als Massenorganisation. Dieser stand für eine Form des staatlichen Feminismus, der die Interessen von Frauen* im Machtapparat und in der Gesellschaft vertreten sollte. Die Situation der Frauen* hat sich also zunächst tatsächlich verbessert. Viele Fortschritte waren allerdings schnell wieder gefährdet, weil Bauern, Arbeiter und Kader die Selbstermächtigung von Frauen* verhinderten. Frauen* wurden weiterhin systematisch benachteiligt. Ihnen wurde weiterhin die Hausarbeit aufgebürdet, sie wurden weitgehend aus den sozialistischen Machtzirkeln ausschlossen, und sie waren weiterhin mit verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt konfrontiert.

In deinem Buch beschreibst du die Wechselwirkung zwischen Bewegungen, die gegen das Regime mobilisierten und den Repressions- und Integrationsmechanismen der Kommunistischen Partei. 1966 startete die von Mao Zedong angestossene «Kulturevolution». Welche Auswirkungen hatte diese und weshalb geriet sie, aus Sicht des Regimes, ausser Kontrolle?

Zu Beginn war die Kulturrevolution ein Versuch der Führungsgruppe um Mao, über die mit radikalen Parolen betriebene politische Mobilisierung vor allem von Jugendlichen Druck auf die rivalisierende Führungsgruppe um Liu Shaoqi auszuüben. Hinter der Auseinandersetzung in der Parteispitze standen unterschiedliche politische Konzepte für die Reform des sozialistischen Systems. Die Mobilisierung der Jugendlichen eröffnete jedoch vielen Unzufriedenen und Enttäuschten Raum für Selbstorganisierung und Gegenwehr – landverschickten Jugendlichen, Armeeveteranen, Lehrlingen, Arbeitslosen und Wanderarbeiter:innen. Einige der neu entstandenen Organisationen nahmen die radikale Kulturrevolutionsrhetorik ernst und forderten – angelehnt an ihre Vorstellungen von der Pariser Kommune – einen Sozialismus, der nicht von oben, sondern von unten kontrolliert und bestimmt wird. Sie formulierten somit eine klare Kritik des Realsozialismus unter der Führung der Kommunistischen Partei.

Kommen wir etwas näher an die Gegenwart heran. Du beschreibst die Zeitspanne zwischen 1970 und 1990 als «Übergangsphase in den Kapitalismus». Zu welchen grundlegenden Veränderungen kam es während dieser Zeit?

Der Übergang folgte keinem vorher festgelegten Plan. Er war vielmehr graduell, oft wurde improvisiert, und Forderungen und Aktionen verschiedener sozialer Gruppen trieben ihn voran. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre wurden die ländlichen Kollektive aufgelöst und das Land Familien und Haushalten zur Bewirtschaftung überlassen. Die nun selbständigen Bäuer:innen durften einen Teil ihrer Ernte und Produktion auf Märkten verkaufen. Nach und nach wurde die staatliche Regulierung weiterer Wirtschaftsbereiche gelockert. Örtliche Kader ergriffen die Möglichkeit, selbst Firmen zu gründen oder sich staatliche Betriebe anzueignen. Ausländisches Kapital wurde ins Land geholt, um die wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen. So entstand nach und nach eine neu zusammengesetzte Kapitalist:innenklasse.

Welche Auswirkungen hatte diese Veränderung auf die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse?

Die strikten Aufenthalts- und Reisebeschränkungen wurden gelockert, sodass Landbewohner:innen befristet in Städte oder Sonderwirtschaftszonen ziehen und dort in den neuen Fabriken, auf dem Bau oder in Dienstleistungsjobs arbeiten konnten – die neue Klasse migrantischer Arbeiter:innen. Arbeitsverträge wurden eingeführt, sodass städtische Arbeiter:innen nicht mehr lebenslang beschäftigt werden mussten und gekündigt werden konnten. Mitte bis Ende der 1990er Jahre wurden schliesslich die staatlichen Unternehmen restrukturiert und teilweise privatisiert. Millionen aus der alten, städtischen Arbeiter:innenklasse verloren ihren Job. Die Welle ihrer Kämpfe führte zu sozialen Abfederungsmassnahmen, die Umstrukturierung wurde trotzdem durchgezogen. Meiner Meinung war zu dem Zeitpunkt der Übergang zum Kapitalismus beendet.

Wie werden im chinesischen Kapitalismus Klassenkämpfe ausgetragen?

Seit Anfang der 2000er Jahre sind die Wanderarbeiter:innen die treibende Kraft sozialer Auseinandersetzungen. Das betrifft Arbeitskämpfe ebenso wie Aktionen gegen ihre Diskriminierung und gewalttätige Ausbrüche gegen behördliche Schikanen und Polizeigewalt. Höhepunkte waren zum Beispiel die von Automobilarbeiter:innen ausgelöste Streikwelle 2010 und die provinzübergreifenden Arbeitskämpfe von Kranfahrer:innen und von LKW-Fahrer:innen 2018. Auch heute kommt es weiterhin zu Arbeitskämpfen von Wanderarbeiter:innen, trotz der verschärften Repression gegen Aktivist:innen, zum Beispiel zu solchen von Kurierfahrer:innen.

Wie stabil ist die Herrschaft der Kommunistischen Partei heutzutage, und wie stehen die Chancen für eine neue revolutionäre Bewegung von unten?

Die Führung der Kommunistischen Partei scheint derzeit die Zügel fest in der Hand zu haben, allerdings sieht sie sich mehreren ernsthaften Herausforderungen gegenüber: das wirtschaftliche Wachstum ist zurückgegangen, die Schulden sind deutlich gestiegen, die Corona-Krise hat zu weiteren wirtschaftlichen Verwerfungen geführt, die schon lange niedrige Geburtenrate und der Widerstand von Frauen* hat zu einer Krise der sozialen Reproduktion geführt, und die soziale Ungleichheit führt weiter zu Spannungen und Arbeitskämpfen.

Ob und wie sich eine Bewegung von unten entwickeln kann, welche aus den Erfahrungen der gescheiterten Revolution in China lernen und eine soziale Umwälzung bewerkstelligen kann, muss sich erst noch herausstellen. Wenn ein neuer revolutionärer Versuch Erfolg haben will, muss er sicherlich Antworten finden sowohl auf die Frage nach sozialer Gleichheit als auch die nach politischer Ermächtigung und Teilhabe. Es gilt zu verhindern, dass sich wieder eine sozialistische Kaderklasse und eine autoritäre Staatlichkeit herausbildet, dass das Patriarchat lediglich abgefedert und neu konfiguriert, aber nicht abgeschafft wird, und dass neue soziale Ausgrenzungen entstehen, wie die von Bauern und Bäuerinnen oder Migrant:innen.

Die oppositionelle Linke in China könnte eine Rolle spielen, muss derzeit jedoch den Ball flachhalten. In den letzten Jahren hat es viele Verhaftungen gegeben, linke Zirkel wurden bedroht und aufgelöst oder haben sich zurückgezogen. Wir können nur hoffen, dass sie sich in Zukunft wieder mehr Räume erkämpfen können. Bis dahin brauchen sie vor allem Solidarität, und Linke in anderen Ländern sollten dafür sorgen, dass linke oppositionelle Stimmen aus China weiter Gehör finden.

Noch eine Frage zur heutigen Situation. Ende September machte die Nachricht über die drohende Pleite von «Evergrande», einer der grössten chinesischen Immobilienfirmen, die Runde. Was für Auswirkungen hätte ein Pleite in China und auf internationaler Ebene? Droht gar eine grosse Krise?

«Evergrande» steht für die Immobilienblase und die Krise der Immobilienwirtschaft insgesamt. Lange Zeit hat die städtische Mittelklasse, zentrale Säule der KP-Herrschaft, einen grossen Teil ihres Einkommens aus der Spekulation mit Wohnungen gezogen. Immer neue Flächen wurden für Bauprojekte freigegeben, die mit Krediten finanziert wurden. Die Käufer:innen setzten auf immer weiter steigende Wohnungspreise. Seit Jahren versucht das Regime, langsam die Luft aus der Blase zu lassen, indem es den kreditfinanzierten Wohnungsbau und -kauf einschränkt. Das hat nur begrenzt funktioniert.

Falls «Evergrande» pleite geht, hätte das sicherlich Auswirkungen. Ob sie allerdings ähnliche Konsequenzen hätte, wie die Lehman-Pleite in den USA 2008, welche für den Ausbruch der weltweiten sogenannten Finanzkrise damals verantwortlich gemacht wird? Auch bei der Vorhersage einer grossen Krise der chinesischen Wirtschaft bin ich vorsichtig. Zu oft wurde schon der Zusammenbruch Chinas angekündigt. Sicher ist der Boomzyklus erst einmal vorbei, und die chinesische Regierung versucht, die krisenhaften Erscheinungen – soziale, wirtschaftliche und ökologische – im Griff zu behalten. Sollten fortgesetzte wirtschaftliche Einbrüche zu sozialen Zuspitzungen und Kämpfen führen, und sollten sich Letztere nicht nur in China, sondern auch in anderen Ländern ausbreiten, ist eine grosse Krise und ein gesellschaftlicher Umbruch denkbar.

Bist du denn zuversichtlich, dass ein solcher Umbruch kommen wird?

Momentan gibt es kaum Gründe, optimistisch zu sein. Die Niederschlagung der Bewegung in Hongkong, die Unterdrückung in Xinjiang, die Repression oppositioneller Bewegungen in ganz China und das Säbelrasseln bezüglich Taiwan machen deutlich, dass die KP-Führung mit allen Mitteln ihre Machtposition im Land sichern will. Aussenpolitisch versucht sie, die Volksrepublik als ökonomische und politische Supermacht zu etablieren. Die imperialistische Machtpolitik des US-Regimes und ihrer Verbündeten gegenüber China lassen weitere globale Zuspitzungen erwarten. Umso wichtiger ist es, dass Bewegungen von unten – in China, den USA und anderswo – diesen Zuspitzungen entgegentreten und grenzübergreifende Selbstermächtigungsprozesse anstossen.

Interview: M. Lautréamont
ajourmag

Im Juli dieses Jahres ist bei PM Press ein neues Buch von Ralf Ruckus erschienen: «The Communist Road to Capitalism. How Social Unrest and Containment Have Pushed China's (R)evolution since 1949». Darin unterzieht der Autor die politische Ökonomie Chinas einer historischen Untersuchung von unten. Fernab von vereinfachenden Analysen, welche die sozialistische Klassengesellschaft aus ideologischen Gründen mystifizieren oder eine sozialdemokratische Wende in der gegenwärtigen kapitalistischen Periode propagieren, analysiert Ruckus die Veränderungen der ökonomischen und politischen Strukturen Chinas seit 1949.

Er rekonstruiert die Ursprünge der chinesischen Revolution und die verschiedenen sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklungen, die das Land seither geprägt haben, indem er sich auf die Geschichte der Arbeiter:innenkämpfe, die Rebellion der Frauen*, die Aufstände von Bauern und Bäuerinnen, die Kämpfe von Migrant:innen und auf linke Bewegungen fokussiert. In einem Wechselwirkungsprozess aus Repression, Zugeständnissen, Reformen und Kooptation entwickelte sich aus dem Sozialismus chinesischer Prägung ein moderner Kapitalismus. Ralf Ruckus hat in den letzten Jahren zudem mehrere Bücher übersetzt, darunter «Die andere Kulturrevolution» (Wu Yiching), «Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken» (Zhang Lu), «Streiks im Perlflussdelta» (Hao Ren u.a.) und «iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken » (Pun Ngai u.a.).