Tocotronics neues Album Wie wir leben wollen

Kultur

Tocotronic gründeten sich 1993, zwei Jahre später erscheint ihre erste Platte „Digital ist besser“. Zwanzig Jahre später nun, zum Bandjubiläum, das zehnte Studioalbum mit nachgerade programmatischem Titel: „Wie wir leben wollen“.

Auftritt von Tocotronic am Folklore 013 Festival in Wiesbaden.
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Auftritt von Tocotronic am Folklore 013 Festival in Wiesbaden. Foto: Oliver Abels (SBT) (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

24. August 2013
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Siebzehn Songs sind darauf versammelt, jeder für sich ein Statement zum Thema, musikalische Erläuterungen eines Quasimanifestes. Das Albumcover ist in seiner Gestaltung sehr reduziert – wie schon bei „K.O.O.K.“ und „Tocotronic“– eine packpapier-beige Fläche, auf die mit rotem Stift in beinahe kindlicher Schreibschrift „Wie wir leben wollen“ gekritzelt ist. Eine Reise in die Vergangenheit, oder besser: eine Reise in mehrere Vergangenheiten, Wege dorthin, zu dem, was gewesen ist und nicht mehr wiederkommt, also keine Gegenwart und erst recht keine Zukunft mehr hat – obwohl doch, und das bringt die Spannung zur naiv anmutenden Parole „Wie wir leben wollen“, eben dieser Spruch ganz und gar nach vorne zu weisen scheint, auf erst noch Kommendes. Die grafisch-formalen und damit auch inhaltlichen Referenzen sind ohne weiteres erkennbar:

Erstens – Ton Steine Scherben, das erste Album „Warum geht es mir so dreckig“ (1971) und das zweite Album „Keine Macht für Niemand“ (1972): Selbstbedruckte Pappumschläge, die Parole „Keine Macht für Niemand“ wie an die Wand geschrieben. Hier geht es um Politik in Zeiten, in denen das Politische noch als künstlerisches Programm formuliert werden konnte: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ war ein Imperativ, für den die Band nur Sprachrohr war; seine – auch ästhetische – Wirklichkeit erwies sich in der Praxis der emanzipatorischen Bewegung.

Zweitens – Trio, erstes Album 1981: neues Bandkonzept, das ein Jahrzehnt später, marktökonomisch längst etabliert, auch Tocotronic innerhalb des Musikbetriebs funktionieren lässt, eine repräsentativ inszenierte Do it yourself -Produktion, verkoppelt mit einer postmodernen, sublimierten Ironie- und Persiflage-Ästhetik. Wie auch später bei Tocotronic vollzieht sich die Politisierung der Kunst bei Trio bereits nicht mehr als historische Mission oder teleologische Vision, sondern als „kleine Literatur“, als Ereignisbericht , als Sammlung von Anekdoten. Und dies zugleich in einer vermeintlich subversiven, dissidenten „Strategie“ der durch Pastiche, Camp oder sogar Fake gebrochenen Überaffirmation.

Drittens – Tocotronic wurde 1993 von Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller gegründet (2004 kam Rick McPhail dazu). Zank und Müller spielten zuvor in der Band "Punkarsch" bzw., nach Umbenennung "Meine Eltern". Bis Ende der neunziger Jahre konnte man, an Bahnhöfen und anderswo, noch Graffiti finden – in Kinderschnörkelschrift stand da „Meine Eltern“.

Diese Anspielungen sind triftig und relativieren die programmatische Emphase der Titelparole „Wie wir leben wollen“ zur Suche nach der verlorenen Zeit.

Schon 2007 hatten Tocotronic mit ihrem Album „Kapitulation“ eben diese für sich erklärt. Was ist also zu erwarten, wenn Tocotronic nun wieder mit Verve Forderungen an die Zukunft zu proklamieren scheinen? Schon vorab hatten Tocotronic ihren Titel mit 99 Thesen gefüllt, zeitgemäss auf Twitter nachzulesen (twitter.com/99_Thesen), von „1. Als Zeichentrickgestalten“ bis „99. Stumm“. Als letzte Twitter-Eintragungen, die Hinweise: „Liebe Fanatiker_innen, nun ist es so weit: ,Wie wir leben wollen' ist ab sofort im Handel oder online unter http://www.tocotronic.de erhältlich.“ Sowie: „Liebe Fanatiker_innen, was wir Euch nicht unterschlagen wollen: Es gibt die Höfner Gitarre von Toco-Dirk zu gewinnen“ inkl. Amazon-Link. Einige der Songs, deren Titel es semantisch hergeben, tauchen auch in der Liste auf: „Im Keller“ oder „Auf dem Pfad der Dämmerung“. – „Im Keller“ ist das erste Stück (dessen erste Töne entfernt an Peter Lichts „Das Lied vom Ende des Kapitalismus“ erinnern), die ersten gesungenen Worte: „Hey, ich bin jetzt alt. Hey, bald bin ich kalt.“ – Das letzte Stück, „Unter dem Sand“, handelt vom Verschwinden: „Ich flüchte mit Dir / hinter die Tapetentür… Unter dem Sand / bin ich am Ziel angelangt.“

Was spätestens jetzt (also am Ende der Platte) klar wird: Wenn die Parole „Wie wir leben wollen“, wie es heisst, „von der Band ganz dezidiert nicht als Fragesatz formuliert“ ist, so sind die vermeintlichen „Antworten“ auch keine, die Thesen ein Konvolut aus Quatsch, Idiotie und politischen Banalphrasen. Der Satz „Wie wir leben wollen“ und wie damit künstlerisch, musikalisch, politisch, ästhetisch etc. umgegangen wird, führt das ganze Projekt ad absurdum; wer 2013 ernsthaft von Tocotronic Hinweise erwartet, die die Parole mit Inhalt füllen, fällt dem billigsten Versprechen anheim, das die Kulturindustrie seit ihren Anfängen gibt. Sich von der Band als, korrekt gegendert, „Fanatiker_innen“ anrufen zu lassen und den musikalischen Proklamationen zu folgen (auf Twitter!), affirmiert als popbeflissene Haltung in individualistischer Variante das, was Adorno und Horkheimer „Aufklärung als Massenbetrug“ nannten.

Dagegen scheint es vielmehr, als wenn „Wie wir leben wollen“ von der Vergangenheit, einer unabgegoltenen, aber dennoch versäumten Vergangenheit handelt: 17 Stücke sind auf dem Album; auf dem ersten von 1993, „Digital ist besser“, waren es 18. Der letzte Song der pubertäre, aber dennoch richtige Kalauer „Über Sex kann man nur auf English singen“. Und der 17., der jetzt also mit „Unter dem Sand“ korrespondiert, ist die berühmte Tocotronic-Hymne, die seinerzeit wirklich einzige, wenn auch schon misstrauisch oder hämisch als falsch durchschaute Antwort die auf die ja auch damals schon virulente Parole „Wie wir leben wollen“ gegeben wurde und gegeben werden konnte: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“! Damit verband sich noch eine konkrete Utopie, die heute restlos verloren ist. „Wie wir leben wollen“ hat kein aktualisierendes Potenzial, ist radikal nur im Rückblick zu verstehen. Aber „Wie wir leben wollen“ ist heute keine Frage, weil es schon Anfang der 1990er keine war. Das reflektierend, müsste es insofern heissen: „Wie wir leben wollten!“.

Roger Behrens
streifzuege.org