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Record Store Day: Der höchste Feiertag der Neospiesser | Untergrund-Blättle

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Record Store Day Der höchste Feiertag der Neospiesser

Kultur

Zu einer beliebten Urban Legend gehört es, dass der Valentinstag eine Erfindung der Blumenindustrie sei. Das stimmt so nicht, trotzdem macht auch die Fleuropmafia an dem Tag sicher gern eine schnelle Mark.

Erste Schallplatte der Geschwister Buchberger, 1931 Grammophon Gr 866a, «Mein schönes Innsbruck am grünen Inn».
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Erste Schallplatte der Geschwister Buchberger, 1931 Grammophon Gr 866a, «Mein schönes Innsbruck am grünen Inn». Foto: Tungstift (CC BY-SA 4.0 cropped)

20. April 2015
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Vielleicht hat sich die Musikindustrie davon inspirieren lassen, als sie ihren eigenen Feiertag, den Record Store Day, kurz RSD, im Jahr 2007 erfunden hat.

Das Geschäft mit Tonträgern lag zu diesem Zeitpunkt schon Jahre am Boden und Besserung war nicht in Sicht: Der Verkauf von CDs sank weiter, das Geschäft mit den Downloads kam nicht richtig voran. Nur seit Jahren wieder auf niedrigem Niveau konstant: Die Schallplatte. Der Hoffnungsträger der Industrie war sozusagen wiedergeboren.

Geschraubt werden musste lediglich noch am positiven Image. Natürlich geht es nicht darum, einer taumelnden Industrie wieder auf die Beine zu helfen. Nein, ausschliesslich dem lokalen kleinen Plattenladen im Kiez soll geholfen werden, der ebenfalls unter Raubkopien und illegalen Downloads leidet. Support your local Dealer eben. Bereits da drängt sich die Frage auf, was „Kulturkaufhaus“ Dussmann in Berlin, der hhv.de-Store (ebenfalls Berlin) oder EMI Records in Wien und ein paar andere, die als Partner des RSD 2015 als teilnehmende Läden aufgeführt werden, mit einem unabhängigen zu rettenden Plattenladen zu tun haben. Hier bekommt die Geschichte schon erste Brüche. Wen das nicht überzeugt, der kann mal einen Blick auf die Sponsoren des Days werfen: Neben einer Biermarke und einem Plattenspielerproduzenten gehören sicher nicht ohne Zufall Universal, Sony und Warner Music.

Mehrere Artikel zum diesjährigen RSD haben bereits detailliert nachgezeichnet, warum der Record Store Day eben nicht die Rettung der Independentszene beträgt sondern, im Gegenteil, eher ihr Sargnagel ist. Einige der Indie-Läden wollen sich nicht retten lassen, sondern boykottieren sogar. Die Gründe kurz zusammengefasst: Durch den seit einigen Jahren künstlich inszenierten Vinyl-Hype der Majors kommen die Druckwerke nicht mehr nach und müssen kleinere Produktionen von Indielabels, die seit jeher auf Vinyl setzen, hinten anstellen. Da es aber nur noch eine Handvoll Presswerke weltweit gibt und aufgrund der veralteten Technik und des grösstenteils verlorenen Spezialwissens um die Vinylherstellung nicht mal eben neue aus dem Boden gestampft werden können, verschärft sich die Situation für kleine Labels, die nun Monate auf ihre Veröffentlichungen warten. Denn nun drängen die geschrumpften Riesen der Majorlabels auf den Markt und überschwemmen ihn mit „Special Editions“ uralter „Klassiker“ oder solche, die sich dafür halten. Nun kann man endlich die Platten kaufen, die man in langweiliger Standardausführung bereits seit langem besitzt, ob auf CD oder Vinyl. Ein weiterer Gewinner ist eBay, wo der Handel mit den Limited Editions von findigen Einkäufern munter nach dem offiziellen Record Store Day weiter betrieben werden kann.

Doch die Lüge um die angebliche Rettung der Plattenläden verfängt bereits und hat Jünger gefunden, die sie gerne glauben: Grossstädtische, gut verdienende Neospiesser. Eine ausreichend bestückte Vinyl-Sammlung gehört in diesem Milieu längst neben der Wand ohne Tapete und den überteuerten Sperrmüllmöbeln in jedes EXPEDIT- (jetzt KALLAX-)Regal, welches dann eine Art Altar darstellt. Wo vor wenigen Jahren noch das CD-Regal im sanierten Altbauwohnzimmer stand, hat man sich nun vermeintliches Musikexpertentum in Schwarz erkauft. CDs werden längst als „Billigmedium“ verstanden und nicht mal mehr mit spitzen Fingern angefasst. Die Vinylplatte ist schon lange im inneren Zirkel der deutschen Retrospiessigkeit angekommen und die meisten seiner Besitzer gleich mit. Der Plattenladen ist der neue Biosupermarkt.

Mit „Vinyl-Junkies“ (Eigenbezeichnung) kann man die absonderlichsten Gespräche über die angeblichen Vorteile der Platte gegenüber anderen Trägermedien, insbesondere gegenüber der CD, führen. Die grossen schwarzen Scheiben werden zum schlichten Glaubensbekenntnis. Der Vollständigkeit halber muss dazu gesagt werden, dass diese Argumentation auch von schrulligen Punkern geteilt wird, die bereits vorher und unabhängig vom Vinyl-Hype ihre Schallplatten seit Jahrzehnten in der versifften Bude anhäufen. Aber auch das ist keine Entschuldigung, denn bereits in der Szene ist seit 1984 bekannt: „Record collectors are pretentious assholes“ (Poison Idea).

Man erfährt ganz neue Dinge von den Vinylsektenanhängern, auch über sich selbst: Als mp3- oder CD-Hörer hört man falsch, denn die Platte hat einen sogenannten „wärmeren Sound“. Was auch immer das ist, denn ein Musikthermostat sucht man im Fachhandel vergebens. Aber was sagen die Freunde des besseren, weil analogen Klangs dann dazu, dass eine Vinyl-Platte nichts anderes als eine Kopie digitaler Daten ist? Denn zur Herstellung verlangen Presswerke, wenig überraschend, Dateien aus einem Computer. Da landet man wieder in den Biosupermärkten, wo es auch pauschal „besser schmeckt“.

Offenkundige Nachteile werden zum Vorteil umgedeutet: Man müsse die Platte bewusst auflegen, die Nadel über die Rille schieben und das wäre ein ganz anderes Hörerlebnis. Wer sowas gut findet, sollte überlegen, ob er sein Fahrrad grundsätzlich nur noch schiebt anstatt es zu fahren, denn da bekommt man viel mehr mit. Nein, denn früher war alles besser, die Sonne schien den ganzen Sommer und das Brot kostete nur fünf Pfennig. Ein weiterer Klassiker der Vinylmythen ist der angebliche Vorteil des grösseren Covers, welches mehr Platz für das Artwork lasse. Das Problem ist, dass Artwork nicht immer etwas Gutes sein muss, belegen zahllose „Worst Artwork“-Galerien. Aber es gibt ja auch Menschen, die Fliesentische für ein geschmackvolles Möbelstück halten. Jetzt mal ehrlich: Wann und bei welcher Gelegenheit hat man zuletzt gedacht: Boah, geiles Cover?! Mit Fanatikern kann man eben nicht diskutieren. Man sollte es auch gar nicht versuchen und einfach darauf warten, dass auch der Vinyl-Hype vorbei geht. Und vielleicht geht es dann eines Tages wirklich mal um Musik und nicht um das Trägermedium.

Franz Degowski / lcm

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