Wie wilde Tiere Kamera als Waffe

Kultur

„Wie wilde Tiere“ erzählt von einem französischen Ehepaar, das sich im spanischen Nordwesten Land kauft, um ein alternatives Leben fern der Stadt zu führen.

Der französische Schauspieler Denis Ménochet an den Goya Awards in Sevilla, Februar 2023.
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Der französische Schauspieler Denis Ménochet an den Goya Awards in Sevilla, Februar 2023. Foto: Pedro J Pacheco (CC-BY-SA 4.0 cropped)

30. Januar 2024
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Den erbitterten Konflikt mit den fremdenfeindlichen Nachbarn schildert Rodrigo Sorogoyen in seinem sechsten Spielfilm mit spannungsgeladenen Bildern und überragenden Darstellern.

Antoine (Denis Ménochet) und Olga (Marina Foïs) sind Aussteiger, aber keine typischen. Die beiden Franzosen Anfang 50 haben einen konkreten Plan, wie sie ihren Lebensunterhalt in einem galizischen Bergdorf durch harte Arbeit bestreiten und damit den Traum vom einfachen, aber glücklichen Leben verwirklichen können. Doch ihr verbitterter Nachbar Xan (Luis Zahera) und sein Bruder Lorenzo (Diego Anido) sind auf Franzosen generell nicht gut zu sprechen, besonders wenn sie gebildet daherreden und alles besser wissen wollen. Hinzu kommt, dass eine norwegische Windparkfirma das Land kaufen möchte und allen Dorfbewohnern ein Angebot macht, das vor allem Xan und Lorenzo nicht ablehnen können. Aber die Offerte gilt nur, wenn wirklich alle verkaufen, nicht nur ein paar. Es scheint also keine Lösung zu geben im eskalierenden Streit unter Nachbarn, aus dem der Spanier Rodrigo Sorogoyen einen faszinierenden Thriller und eine komplexe Reflexion über Männer und Frauen macht.

Diabolische Häme

Die Dorfkneipe: klein, schummrig, eng. Ganz sanft fährt die Kamera an den Gesichtern von denen entlang, die immer hier sitzen, trinken und Domino spielen. Am Tischende führt Xan, der dominante der beiden Nachbarsbrüder, das grosse Wort. Er hat sich geärgert und will hören, dass er mit seiner Wut im Recht ist. Jeden einzelnen nimmt er sich vor, dämonisch und grausam wie ein böser Diktator. Antoine, der Zugezogene, steht an der Bar mit dem Rücken zum Spieltisch. Er hat mit dem Geschehen nichts zu tun. Aber als er ausgetrunken hat und sich zur Tür wendet, wird auch er Opfer von Xans Herrschsucht. „Hey Franzose“, macht er ihn an, „langweilen wir dich“? Mit diabolischer Häme wirft er Antoine vor, sich still und leise der angespannten Lage entziehen zu wollen: In Spanien sage man „Adiós“, wenn man gehe. Oberlehrerhaft lässt er den kräftigen Mann dastehen wie einen dummen, gedemütigten Schulbuben.

Mit dem „Saloon“, dem Bösewicht und ein paar wilden Pferden zu Beginn ist der westernhafte Ton gesetzt in einer Auseinandersetzung zwischen Männern, die von klein auf das Zurückschlagen lernen, wenn sie angegriffen werden. Es gilt das Faustrecht, die örtliche Polizei ist schwach und unwillig, sich in Streits zwischen Nachbarn einzumischen. Also wird die Schraube von Beleidigungen und gegenseitiger Verachtung über erste Tätlichkeiten bis hin zu massiven, intolerablen Grenzüberschreitungen langsam angezogen. In Bilder von rauer Schönheit schleicht sich schon bald ein lauerndes Gefühl von Gefahr ein.

Regisseur Rodrigo Sorogoyen (Macht des Geldes, Die Morde von Madrid) und sein Kameramann Alejandro de Pablo bevorzugen halbnahe und weite Einstellungen, wie neutrale Beobachter, die die hellen und dunklen Seiten eines langsam verfallenden Dorfes zeigen, aus dem die meisten längst fortgezogen sind. Sie schauen zu, wenn Antoine und Olga im Freien frühstücken, mit Blick auf die dicht bewaldeten Hügel, wenn der frisch gebackene Bauer mit dem Hund durch den lichten Wald spaziert, wo wilde Pferde den Weg kreuzen. Sie betrachten die zärtlichen Gesten einer gut funktionierenden Ehe. Grossaufnahmen bleiben vor allem den wirklich bedeutsamen emotionalen Erschütterungen vorbehalten. Und immer, wenn es besonders ernst wird, setzen Kamera und Regie auf Plansequenzen ohne Schnitt, die in ihrer prickelnden Intensität ein Markenzeichen der atemberauben Bildsprache werden.

Kamera als Waffe

Denis Ménochet in der männlichen Hauptrolle tappt in seiner Körperfülle wie ein Bär durch den Film. Dennoch zählt er nicht zu den titelgebenden wilden Tieren, sondern wirkt erst sanft und gemütlich, unter Stress dann unsicher und verletzlich, trotz aller Gegenwehr. Gegen die immer heftigeren Übergriffe seiner Nachbarn weiss er sich vor allem dadurch zu wappnen, dass er sich eine kleine Kamera kauft und alles filmt – zuerst versteckt, dann wie mit einer Waffe. „Hör auf damit“, warnt seine Frau Olga, die ahnt, dass das alles nur noch schlimmer macht. Schliesslich seien sie nicht hierhergezogen, um Krieg zu führen. Während Antoine sich immer tiefer in den Schlamassel gewaltgeprägter Männlichkeit ziehen lässt, kennt Olga eine andere Art, Grenzen zu setzen: bestimmt und selbstbewusst, aber ohne sich provozieren zu lassen. Ihre Konfliktstrategien wird man im zweiten Teil des Films kennenlernen, aus dem sie von einer wichtigen Nebenfigur zur zentralen Rolle aufsteigt.

Inspiriert von einem realen Fall, zu dem es auch einen Dokumentarfilm gibt, nehmen sich Sorogoyen und Drehbuch-Koautorin Isabel Peña fiktive Freiheiten, um die Unterschiede zwischen dem männlichen mit dem weiblichen Prinzip zu einer grandiosen Feier der Friedfertigkeit zuzuspitzen. Sie bereiten damit die Bühne für eine überwältigende schauspielerische Leistung. Die stille Beharrlichkeit und unfassbare innere Kraft, mit der Marina Foïs vom Prinzip der Rache Abschied nimmt und doch – oder gerade deswegen – ihr Recht und ihr Glück bekommt, bilden den eigentlichen Höhepunkt des Filmes. Die Art ihrer Sensibilität und Stärke erinnert ein wenig an Frances McDormand in Nomadland (2020) von Chloé Zhao. Sie hallt lange im Gedächtnis nach.

Peter Gutting
film-rezensionen.de

Wie wilde Tiere

Spanien, Frankreich

2022

-

139 min.

Regie:Rodrigo Sorogoyen

Drehbuch: Isabel Peña, Rodrigo Sorogoyen

Darsteller: Denis Ménochet, Marina Foïs, Luis Zahera

Produktion: Ibon Cormenzana

Musik: Oliver Arson

Kamera: Alejandro de Pablo

Schnitt: Alberto del Campo

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 4.0) Lizenz.