Das deutsche Kino sei bieder, liest man immer wieder. Brav. Mutlos. Berechenbar. Dabei gibt es sie, die hiesigen Filmemacher, die Genre- und Inszenierungskonventionen aufbrechen, anders sind, als es das gängige Klischee uns weismachen will. Das berauschende Coming-of-Age-Monster Der Nachtmahr zum Beispiel. Der verwirrend-hypnotische Abgrund in Wild. Und natürlich auch das sogenannte Berlin Mumblecore, wo Nachwuchsregisseure wie Axel Ranisch (Alki Alki), Aron Lehmann (Kohlhaas oder die Verhältnismässigkeit der Mittel) und Nico Sommer (Silvi) eine weniger streng durchdeklinierte Fassung des deutschen Spielfilms zeigen. Eine, wo Skurrilität auf Authentizität trifft.
Kritikerliebling und Massenfeind
Auch Jakob Lass zählt hier dazu, seitdem er mit seinem weitestgehend improvisierten Film Love Steaks die Herzen (fast) aller Kritiker eroberte. Das ist bei seinem dritten Spielfilm Tiger Girl nicht anders, der schon auf der Berlinale zu sehen war und nun regulär in die deutschen Kinos kommt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Drama dort auf viel Gegenliebe stossen wird, ist dabei leider gering. Denn die Forderung, dass man sich hierzulande doch bitte ein bisschen mehr trauen und nicht immer den gleichen Scheiss abliefern solle, die wird hier erfüllt. Jedoch auf eine Weise, die nur schwer einem Massenpublikum zu vermitteln ist.Tatsächlich: Selbst wer mit diesem Bereich des deutschen Kinos vertraut ist, wird hier ab und zu seinen Augen nicht trauen wollen. Improvisiert wird noch immer viel, Tiger Girl hat auch keine wirklich durchgehende Handlung. Während dies zuvor jedoch oft mit eher beschaulichen, betont unspektakulären Szenen und Alltagsgeschichten einherging, wagt Lass nun den Angriff auf alles und jeden. Lara in Love Steaks zeigte bereits, dass der gebürtige Münchner eine Schwäche für starke, unangepasste Frauen hat.
Die gibt es hier nun im Doppelpack und mit einer lustvollen Aggressivität, die einen gleichermassen fasziniert und abstösst. Eigentlich kann jeder zum Opfer der beiden werden. Menschen aus ihrem Umfeld. Menschen, denen sie begegnen. Menschen, die es „verdient“ haben. Menschen, die einfach nur das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Da wird gestohlen, verprügelt, ausgenutzt und gedemütigt, was das Zeug hält. Immer auf der Suche nach dem nächsten Kick. Manchmal auch nur etwas Geld oder eine coole Uniform.
Schlagfertiges Duo in einem widersprüchlichen Film
Die interessantere der beiden Figuren ist dabei die der Maggie. Der Film mag Tiger Girl heissen. Mit Tiger mag auch alles begonnen haben. Jener jungen Frau, die mal in einem Speicher haust, mal in einem Wohnwagen, sich von nichts und niemandem etwas gefallen lässt. Aber es ist die unscheinbare Polizistenanwärterin, die mit der Zeit eine unheimliche Entwicklung durchmacht, wenn aus einer netten, sozial eingestellten und fleissigen Jugendlichen ein Monster wird, das es einem eiskalt den Rücken hinunterlaufen lässt. Furchteinflössend und witzig, hypnotisch und widerwärtig, dokumentarisch direkt und doch irgendwie surreal – die schnelle Abfolge von immer heftigeren, unberechenbareren Szenen muss man nicht mögen. Man kann sie sogar richtig doof finden. Gekünstelt selbstverliebt. Aber sie hinterlässt Eindruck, ob man will oder nicht.Das verdankt das vor Energie sprühende Drama neben der kunstvollen Verbindung von Bild und Musik auch den beiden umwerfenden Hauptdarstellerinnen. Ella Rumpf (Chrieg) als furchtlos-anarchische Kämpferin, Maria Draguș (Töte mich) als sehnsuchtsvolle, später grausame Träumerin. Neben ihr verblasst die Welt. Verblassen vor allem alle Männer. Enno Trebs darf als erfolgreicher Polizistenanwärter Theo nur selbstverliebter Schnösel sein, Franz Rogowski – ein weiteres Bindeglied zu Love Steaks – ein rückgratloser Mitschüler, den keiner ernstnehmen kann.
Tigers Mitbewohner (gespielt von Swiss und Benjamin Lutzke) sind bestenfalls Katalysatoren, um das Schlechte aus den Mädels hervorzuholen. Ernstnehmen sollte man jedoch Jakob Lass, der hier ein Werk abgeliefert hat, für das man dankbar ist, selbst wenn man es so bald kein zweites Mal wiedersehen möchte.