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The Other Side of the Wind | Untergrund-Blättle

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Rezension zum Film von Orson Welles The Other Side of the Wind

Kultur

Was lange währt, wird endlich … eigen. „The Other Side of the Wind“ erzählt die Geschichte eines Regisseurs, der alten Erfolgen hinterherläuft.

Orson Welles in Madrid, Februar 1954.
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Orson Welles in Madrid, Februar 1954. Foto: Iberia Airlines (CC BY 2.0 cropped)

4. November 2018
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Einen roten Faden wird man in der dokumentarisch verpackten Satire auf Hollywood nicht finden, dafür unzählige Querverweise, Grenzüberschreitungen und Spielereien, die den Film gleichzeitig unübersichtlich und hypnotisch machen. Ein zeitloses Zeitdokument der 1970er über eine Branche im Wandel, die sich irgendwie aber doch nicht ändert.

Es gab eine Zeit, da war Jake Hannaford (John Huston) einmal ein grosser Star. Inzwischen lebt der in die Jahre gekommene Regisseur aber vor allem von seinem früheren Ruhm, sein Versuch mit einem neuen Film an alte Erfolge anzuschliessen, will irgendwie nicht so wirklich funktionieren. Zumal auch sein Hauptdarsteller John Dale (Robert Random) abgehauen ist, mitten während des Drehs. Aber das bedeutet nicht, dass Hannaford schon aufgegeben hätte. Stattdessen veranstaltet der Filmemacher zu seinem 70. Geburtstag ein rauschendes Fest, zu dem er die gesamte Prominenz Hollywoods einlädt. Eine Vorführung der unvollendeten Fassung seines Werks soll zudem die Finanzierung sichern, um doch noch den Film abschliessen zu können. Aber es kommt anders.

Dass sich Netflix ein ums andere Mal Filme schnappt, die eigentlich fürs Kino gedacht waren, das ist oft von negativen Gefühlen begleitet. Mal werden so sehenswerte Sachen wie «Auslöschung» geklaut und der grossen Leinwand vorenthalten. Bei anderen Filmen wie «Mute» besteht der Ärger eher da drin, dass sie überhaupt fertiggestellt wurden, Netflix hier nur Reste verwertet, die aus gutem Grund keiner haben wollte. So oder so: Wirklich rechtmachen kann es einem der Streaminggigant nicht mit dieser Strategie. Bisher.

Das Ende (?) eines Mythos

Eine Ausnahme gibt es jetzt zumindest, bei der selbst die grössten Kritiker zähneknirschend zugeben müssen, dass Netflix eine Bereicherung für die Filmlandschaft ist. Denn das von ihnen gerettete «The Other Side of the Wind» ist nicht einfach nur ein Film. Es ist ein Mythos. Jahrelang arbeitete der legendäre Regisseur Orson Welles (Citizen Kane) daran, von 1970 bis 1976, konnte ihn aber vor seinem Tod 1985 nicht fertigstellen. Denn es kamen finanzielle und rechtliche Schwierigkeiten dazwischen, einer der Hauptdarsteller verliess noch während des Drehs den Film und musste ersetzt werden. Und als wären das nicht schon genügend Parallelen zwischen Welles Werk und dem darin gezeigten Film im Film: Beide tragen auch noch denselben Titel.

Es ist dann auch nahezu unmöglich, beides voneinander zu trennen: den Film und den Film im Film. The Other Side of the Wind ist nicht einfach die Geschichte eines Regisseurs, der vergangenen Erfolgen hinterherläuft. Dafür ist die Geschichte auch zu dünn, zu wenig greifbar. Vielmehr ist das hier selbst ein filmisches Experiment, voller Selbstironie und Verweise auf die Filmlandschaft der 1970er. Eine Parodie auf das Filmemachen und die Menschen, die in dem Geschäft herumstolzieren, selbstverliebt, ausufernd und immer einen Spruch auf den Lippen, der sie als Freigeister auszeichnen soll, selbst wenn sie eigentlich nichts zu sagen haben.

Der Plan des Zufalls

Das hat keinen roten Faden, soll es auch nicht haben. Szenen von der Party werden ohne Zusammenhang aneinandergereiht, unterbrochen von Szenen aus dem Film im Film, dazwischen gibt es Aufnahmen von der privaten Vorführung des Films. Erläuterungen oder Kontexte sind Mangelware, nur selten werden Figuren eingeführt. Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Arbeit es gewesen sein muss, die angeblich über 1000 Filmrollen zu sichten und daraus einen Zusammenhang schneiden zu müssen. Nicht dass es diesen Zusammenhang am Ende hier geben würde. The Other Side of the Wind wirkt spontan, so als wäre tatsächlich jemand auf einer Party herumgelaufen und hätte alles mitgefilmt, ohne Filter, ohne Absicht, ohne Plan. Mal in Schwarzweiss, dann wieder in Farbe.

Für ein grösseres Publikum ist das im Stil einer Mockumentary gedrehte Werk, also einer vorgetäuschten Dokumentation, natürlich nichts. «The Other Side of the Wind», das zeitgleich mit der begleitenden Doku «Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin» in Venedig Premiere feierte, ist ein reines Prestigeprojekt. Etwas, mit dem Netflix die oft naserümpfenden Kritiker für sich gewinnen will. Die werden hier dann auch ihre helle Freude haben, wenn sie Querverweisen nachgehen oder kunstvoll-sinnentleerte Sexszenen aus dem Film im Film bewundern, mit denen Hannaford ein junges Publikum ansprechen wollte, bevor er starb.

Dabei ist die hypnotische Hollywood-Satire gleichermassen ein Zeitdokument über einen Generationenwechsel in den 1970ern wie auch ein zeitloses Werk über eine Branche, die sich selbst feiert und die Welt da draussen des Öfteren aus den Augen verliert. Und wenn Susan Strasberg als belächelte wie verachtete Filmkritikerin mit dem alten Regisseur streitet, dann nimmt das zusammen mit einer späten Szene einiges vorweg, was die #MeToo-Bewegung ans Tageslicht gespült hat, mehr als 40 Jahre später.

Oliver Armknecht
film-rezensionen.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 3.0) Lizenz.

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