Stromboli Unnachgiebigkeit ...

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Kultur

Recht hatte Jacques Rivette (frz. Regisseur der nouvelle vague), der mit denjenigen abrechnete, die Rossellini vorwarfen, die Reinheit des neorealistischen Films verlassen zu haben.

Der schwedische Schauspielerin Ingrid Bergman in Amsterdam, Februar 1960.
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Der schwedische Schauspielerin Ingrid Bergman in Amsterdam, Februar 1960. Foto: Herbert Behrens - Anefo (CC BY-SA 3.0 cropped)

Datum 16. Oktober 2021
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Dabei ist „Stromboli” in gewisser Weise trotzdem ein neorealistischer Film – nicht nur, was eine längere Szene des Films betrifft, in denen die Fischer etwa ein Meter lange Fische auf ihre Boote ziehen. Aber „Stromboli” ist auch „mehr” als Neorealismus. In dem Film ist bereits jener Übergang zu spüren zu einer Verbindung neorealistischer Elemente mit dem modernen Drama, in dem es nicht nur um soziale oder politische Konflikte geht, sondern in denen in solchen Konflikten das Individuum stärker in den Vordergrund rückt, in diesem Film in Gestalt der aus Litauen stammenden Karin (Ingrid Bergman), die in einem jener Flüchtlingslager im Frühjahr 1948 interniert ist, in die es Menschen aus ganz Europa durch den Krieg getrieben hat.

An den Stacheldrahtzäunen des Teils des Lagers, in denen Frauen interniert sind, stehen Männer, die offenbar darauf hoffen, dort eine Frau zu finden. Unter ihnen ist auch Antonio (Mario Vitale), ein Fischer aus Stromboli, einer der liparischen (oder äolischen) Inseln weit vor der Küste Italiens. Er hat sich in Karin verliebt und bittet sie immer wieder, ihn zu heiraten. Karin verhält sich abwartend, weil sie sich in den Kopf gesetzt hat, nach Argentinien auszuwandern. Doch als der argentinische Konsul ihr Einreisegesuch ablehnt, entscheidet sich Karin, Antonios Angebot anzunehmen. Sie heiraten noch an Ort und Stelle und fahren nach Stromboli.

Stromboli ist eine raue Insel, beherrscht von einem Vulkan, der immer mal wieder ausbricht. Viele Einwohner haben die Insel bereits verlassen, sind nach Amerika, Grossbritannien oder in andere Länder ausgewandert, um dort ihr Glück zu versuchen. Nur einige ältere Männer, denen die Umstellung auf ein Leben in Amerika zu hart war, sind nach einigen Jahren wieder zurückgekehrt. Nicht nur die Insel ist rau, auch die Menschen von Stromboli und ihre Lebensbedingungen sind hart. Man lebt praktisch nur vom Fischfang, und nur vier grössere Fischerboote können den Männern des Ortes, aus dem Antonio stammt, Arbeit geben.

Als Karin dort ankommt, ist sie entsetzt, verzweifelt und voller Wut. Denn so hat sie sich das Leben mit Antonio nicht vorgestellt. Die Tradition beherrscht die Menschen. Alles ist eingefahren, und wer sich diesen sozialen Bedingungen nicht anpasst, wird nie heimisch hier werden. „Ich kann nicht leben wie ihr in diesem Deck”, sagt sie zu Antonio, „ich entstamme einer anderen Schicht. Eine Frau wie ich braucht Geld.” Verzweifelt geht sie durch den Ort, kann sich noch kaum verständigen, bittet den Priester (Renzo Cesana) um Hilfe. Doch was soll er tun? Zeitweise findet sie sich mit ihrem Schicksal ab in der Hoffnung, irgendwann genug Geld zu haben, um diesen Ort des Schreckens zu verlassen. Sie richtet das Haus nach ihren Vorstellungen ein, stellt die Madonnenfigur Antonions und einige andere Dinge der Tradition zur Seite, lässt eine grosse Kaktee in eine Ecke pfalnzen. Aber Antonio freut sich über diese Art der Einrichtung überhaupt nicht.

Die Frauen des Ortes meiden Karin, weil sie nicht bescheiden sei. Und als sie bei einer Frau, die bei den Bewohnern einen schlechten Ruf hat, ein Kleid umändern lässt, wird sie zum Gespött der Männer. Als sie dem Leuchtturmwärter zu nahe kommt, zerreisst man sich das Maul über sie, und Antonio ist so wütend auf sie, dass er Karin schlägt.

Immer deutlicher lässt Rossellini sein Publikum spüren, welche Gegensätze hier aufeinander prallen, zwischen denen es letztendlich keine Vermittlung zu geben scheint. Da sind die Menschen von Stromboli, für die alles fremd ist, was sich nicht ihrer festgefügten Tradition anpasst. Wer sich dem entzieht, bekommt Kälte und Ablehnung zu spüren.

Da ist andererseits Karin, die diese Menschen nicht versteht, aber auch nicht versucht zu verstehen, sondern ausschliesslich einen Weg heraus aus Stromboli sucht. Karin benutzt dafür drei Männer: Zunächst glaubte sie, über die Heirat mit Antonio ihre Freiheit zu finden und der Internierung zu entkommen. Jetzt versucht sie, den Priester in Stromboli dafür einzuspannen. Er erzählt ihr, ein ehemaliger Bewohner der Insel, der vor Jahren nach Amerika ausgewandert sei, habe ihm treuhänderisch einige tausend Dollar hinterlassen für verarmte Menschen auf der Insel. Karin fleht und bettelt ihn an, es sei doch besser, zwei Menschen – ihr und Antonio – das Geld zu geben, um hier weggehen zu können. Aber der Priester lehnt ab. Schliesslich versucht sie, den Leuchtturmwärter, der ein Auge auf sie geworfen hat, zu überreden, ihr zu helfen. Er bietet ihr an, sie mit dem Boot wegzubringen. Doch Karin will lieber Geld von ihm, um in einen anderen Ort der Insel zu gelangen und von dort die Insel heimlich zu verlassen.

Rossellini zeichnet seine Figuren jedoch nicht negativ oder positiv. Schwarz-Weiss-Malerei ist nicht seine Sache. Er erzählt! Und er erzählt eine relativ einfache Geschichte, in der das Verhängnisvolle, das sich aus der gegenseitigen Distanz zwischen den Bewohnern und Karin ergibt, auf eine überzeugende Art dargestellt wird. Beide „Seiten” pochen auf ihre Eigenheit und auf die Stigmatisierung des / der jeweiligen anderen als Fremde. Am schwierigsten ist dabei die Situation für Antonio, der zwischen der Tradition und der Eigenart Karins steht und darauf nur mit Aggression und Hilflosigkeit reagieren kann. Als Karin ihm verkündet, sie werde weggehen, weil sie das Kind, das sie erwartet, nicht hier bekommen wolle, nagelt er die Tür zum Haus mit einem Brett zu.

Letzter Auslöser für Karins Flucht über die Berge, am Vulkan vorbei, ist ein Ausbruch des Vulkans einen Tag zuvor. Alle Einwohner des Ortes flüchten auf die Boote, fahren hinaus aufs Meer, wo der Priester eine Art Messe hält und danach die Menschen beginnen zu singen. Man kann ahnen, worum sie in ihren Liedern bitten.

Rauch und Gase steigen auf, den Koffer und die Handtasche hat Karin längst stehen gelassen, als sie über felsigen Untergrund die Berge erklimmt, um in den anderen Ort zu gelangen. Der Nebel versperrt ihr die Sicht, der Staub, der noch immer vom Vulkanausbruch dicht durch die Luft schwebt. Und wenn sie eine Bergspitze erreicht hat und hofft, dahinter die Küste zu sehen, wird sie jedesmal enttäuscht. Nur weitere Berge und Felsen bekommt sie zu Gesicht. Der Verzweiflung nahe betet sie zu Gott, weint.

Dieses tragische Ende ist in gewisser Weise die Fortsetzung der Isolation, die nicht erst im Internierungslager auf dem Festland begonnen hatte. Es ist jene Form der Isolation, die zweiseitig bedingt ist: durch die Unnachgiebigkeit in der eigenen wie der fremden Mentalität. Niemand sucht den anderen wirklich, niemand fragt nach dem anderen wirklich. Antonio versucht ebensowenig, Karin zu verstehen, wie umgekehrt.

„Stromboli” war die einer von sechs gemeinsamen Filmen von Rossellini und Bergman, die von 1950 bis 1957 verheiratet waren (u.a. „Europa 51", 1952; „Wir Frauen”, 1953; „Angst”, 1954; „Reise in Italien”, 1954). „Stromboli” ist auch heute noch sehenswert – in seiner Klarheit, unverbrüchlichen Reinheit, seinem Naturalismus und seiner Schärfe für Realitätssinn.

Ulrich Behrens

Stromboli

Italien

1950

-

107 min.

Regie: Roberto Rossellini

Drehbuch: Roberto Rossellini

Darsteller: Ingrid Bergman, Mario Vitale, Renzo Cesana

Produktion: Roberto Rossellini

Musik: Renzo Rossellini

Kamera: Otello Martelli

Schnitt: Jolanda Benvenuti, Roland Gross