Songs from the Second Floor Alles hat seine Zeit

Kultur

Von irgendwo her scheinen dunkle Wolken aufzuziehen. Man hört noch nichts. Kein Getöse weit und breit.

Der schwedische Filmregisseur und Drehbuchautor Roy Andersson, August 2014.
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Der schwedische Filmregisseur und Drehbuchautor Roy Andersson, August 2014. Foto: Frankie Fouganthin (CC BY-SA 4.0 cropped)

10. November 2021
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Aber es liegt in der Luft, merklich, gespenstisch, unsichtbar, doch fühlbar, als wenn der Tod hinter einem stünde und man die Kälte im Rücken spüren könnte, als wenn er gleich zugreifen würde. Panik macht sich breit.

Gerade hat Lennart (Bengt W. Carlsson) seinem Untergebenen Pelle (Torbjörn Fahlström) erklärt: „Alles hat seine Zeit.” Es ist Zeit, Entlassungen vorzunehmen, meint er damit. In einem vom künstlichem Licht eines Solariums bestrahlten Raum liegt Lennart unter der Heizsonne. Nur seine Füsse sind zu sehen und seine Stimme zu hören. Pelle steht noch halb in der Tür, hinunter gebeugt zu Lennart, devot seine Befehle entgegennehmend. „Orakel im Solarium” nennt Regisseur Roy Andersson diese Anfangsszene seines Films. Kurz darauf ist Lasse (Sten Andersson) entlassen.

Er kriecht auf dem Flur des ersten Stocks des Geschäftshauses und klammert sich an Pelles Beinen fest. Es nützt ihm nichts, dass er immer wieder ausruft, er sei doch seit 30 Jahren hier. Pelle will sich seiner entledigen. Alle Türen auf dem Gang sind einen Spalt geöffnet. Schliesslich reisst sich Pelle los. Lasse bleibt liegen. Pelle schliesst seine Tür hinter sich. Die anderen Türen schliessen sich. Schnitt.

Die surreale Welt, die Roy Andersson uns zeigt und die von Absurdität geprägt ist, scheint aus den Fugen zu geraten. Kommunikation scheint in dieser Welt eine Fremdwort, eine verlorene Technik, deren Sinn abhanden gekommen ist. Eine Schwester im Krankenhaus fragt immer wieder den Arzt danach, wann er sich scheiden lassen werde. Sie bekommt keine Antwort. Der Arzt schweigt, scheint abwesend. Ein Fremder (Roland Núñez), der nach einem „Allan Svensson” fragt bekommt ebenfalls keine Antwort, man ignoriert ihn. Erst als er vor dem Gebäude des Unternehmens steht, in dem Pelle den Fahrstuhl gerade verlässt, um auf den Golfplatz zu fahren, antworten ihm vorbeikommende Männer: Sie schlagen ihn zu Boden, als sie seine Stimme hören und treten auf ihn ein. Die auf der anderen Strassenseite Wartenden kümmert es nicht. „Sånger från andra våningen” handelt von Entwertung und Verlust.

Alle Räume, Gebäude erscheinen gleich, gleichartig und gleichwertig, das heisst nutzlos, entwertet. Das Grau, mit leichten Grüntönen, das den Film durchweg beherrscht, kontrastiert mit den fahlen, bleichen Gesichtern der Charaktere, die alle äusserst verletzlich, ja nackt erscheinen, ebenfalls entwertet und von immensem Verlust geprägt. Die Kamera fängt diese Szenen jeweils in einer weitwinkligen Einstellung ein. Ähnlich der surrealen Malerei ist jede Szene durchkomponiert bis in alle Einzelheiten.

So z.B. eine Szene in der U-Bahn. Wir sehen Kalle (Lars Nordh), dessen bleiches Gesicht und dessen Anzug mit Asche verschmutzt sind. Um ihn herum starren etliche Fahrgäste, teils stehend, teils sitzend wie ins Leere in Fahrtrichtung. Dann stimmen sie, erst leise, dann zu einem mächtigen Chor werdend, eine Art Choral an (die Musik stammt von Ex-Abba Benny Andersson). Kalle hat gerade sein Möbelgeschäft in Brand gesetzt, um die Versicherungsprämie zu kassieren. In seiner Hand hält er einen Plastikbeutel mit den verbrannten Resten seiner Buchhaltungsunterlagen. Kalle ist völlig verzweifelt, ausser sich, weiss, dass er mit seinem Betrug keinen Erfolg haben wird.

Sein Sohn Tomas (Peter Roth) befindet sich in der Psychiatrie, schweigend, mal weinend. Tomas schrieb Gedichte und sitzt deshalb im Irrenhaus. Wer Gedichte in dieser Welt schreibt, muss irre sein. „Alles hat seine Zeit”, kommentiert sein Bruder Stefan (Stefan Larsson), dessen tröstende Worte er selbst gebrauchen könnte. Stefan irrt durch die Strassen der namenlosen Stadt, in der sich die Autos in einem schier endlosen Stau verbarrikadiert haben. Niemand weiss warum. Dann steht er vor der Wohnung seiner Ex-Freundin, die gerade mit ihrem neuen Liebhaber Sex hat. Irgendwann hatte sie Stefan vor die Tür gesetzt. Ein im Müll nach irgend etwas Verwertbarem Suchender schreit hinauf, das könne sie doch nicht machen; sie solle ihn wieder aufnehmen. Aber Wert hat nur noch das bisschen, was der Mann aus dem Mülleimer fischt.

Stefan geht zu Tomas Frau, setzt sich an den Tisch und sagt: „Geliebt sei, wer sich hinsetzt.” Es sind solche sinnlosen Sätze, die die apokalyptische Stimmung zum Ausdruck bringen.

In einer pompösen Zeremonie unter den Augen kirchlicher und weltlicher Würdenträger wird ein in Weiss gekleidetes Mädchen einen Abgrund hinunter gestossen. Hilflosigkeit paart sich mit Gefühllosigkeit und Gewalt. Den Göttern wird ein Opfer dargeboten, das genauso sinnlos ist wie der Verkauf von Christuskreuzen durch einen Geschäftemacher, den Kalle kennt. Beide sitzen in einem Raum, in dem solche Kreuze in allen Grössen herumliegen. An einem Kreuz hat der Nagel an der rechten Hand der Jesusfigur gelockert. Die Figur baumelt wie ein Pendel, aber keiner beachtet dies. „Sånger från andra våningen” handelt auch vom Verlust des Transzendenten, von der Bedeutungslosigkeit von Religion und von Wahrhaftigem.

Die Handlungen der Menschen werden immer absurder. Die Mitglieder eines Aufsichtsrats scheinen verrückt geworden zu sein. Pelle und andere schleppen Unmengen von Koffern zum Bahnhof. Wollen sie flüchten? Aber wohin? Eine Abordnung von Offizieren und Soldaten gratuliert im Krankenhaus einem dem Tode nahen ehemaligen Oberbefehlshaber (Hasse Söderholm) zum 100. Geburtstag. Der Greis, der sich an das Gitter seines Bettes klammert und meist zur Seite schaut, hebt die Hand und ruft: „Grüssen Sie Göring.”

Die Schrecknisse der Vergangenheit verfolgen auch Kalle, der sich an die Hinrichtung eines russischen Jungen durch die Wehrmacht erinnert. Die Schrecknisse der Gegenwart dokumentieren sich etwa in einer Szene, in der ein Zauberer (Lucio Vucina) einen Mann im Zauberkasten ansägt. Der Trick misslingt. Das leise, fast kaum merkbare Staunen dieser Szene korrespondiert mit der nächsten Einstellung, in der Verletzte dem Arzt und der Schwester, die vergeblich auf eine Antwort des Arztes wartet, gebracht werden. Die Personen stehen da, starren, der Verletzte hält seine Hand an der Kopfwunde. Aber es passiert nichts. Warum auch?

In „Sånger från andra våningen” dringt das Chaos ein. Als ob unsichtbare Dämonen und Teufel sich langsam in die Seelen der Menschen einschleichen und sie verrückt machen, ver-rückt sich diese Welt aus einer sicher geglaubten Ordnung in ein sinnentleertes, absurdes Chaos. Die Dämonen aber sind die Geister der Vergangenheit und des Todes. Als Kalle an einer Wegkreuzung vor der Stadt auf den Geschäftemacher trifft, der Jesus-Kreuze verkaufen wollte, sieht er, wie der von seinem Wagen sämtliche Kreuze wegschmeisst. „Wie kann man nur so dumm sein zu glauben, mit einem gekreuzigten Versager Geschäfte machen zu können”, sagt er und fährt weg.

Kalle steht da und sieht die Gespenster der Vergangenheit, die auf ihn zukommen. Er wirft mit den Kreuzen nach ihnen, aber sie lassen sich nicht vertreiben. Sie lassen sich nicht ins Jenseits vertrösten. Das geopferte Mädchen, der gehängte russische Junge und ein ebenfalls als Widerstandskämpferin von der Wehrmacht erhängtes Mädchen, ein Mann, für dessen Tod Kalle verantwortlich ist, folgen ihm. Er wird sie nicht los. Sie fordern ihr Recht, wollen wahrgenommen werden. Kalle steht plötzlich in der Verantwortung. Er ist der einzige, der die Absurdität der Welt langsam durchschaut hat, der einzige wirklich Über-Lebende – und nun hat er es mit den Toten der Vergangenheit zu tun.

„Sånger från andra våningen” ist einerseits bitterböse, antiklerikal, aber nicht antireligiös, eine Passionsgeschichte der besonderen Art. Nicht ein einzelner Erlöser wird gekreuzigt und nicht im Leid eines einzelnen manifestiert sich das Leid der Welt. Andererseits spürt man Anderssons Nähe zu seinen Charakteren, die nicht von Hass und Distanz geprägt ist, sondern von mit Ironie, Sarkasmus, Humor, aber auch Bitterkeit und beissender Kritik versehener Sympathie. Tatsächlich ist „Sånger från andra våningen” eine surreal verfremdete, in die kalte Geschäftswelt des „modernen” Kapitalismus entrückte Passionsgeschichte („Alles hat seine Zeit” stammt beispielsweise aus dem Hohelied Salomons), deren realer Rückbezug darauf verweist, dass Vergangenes nicht ausgelöscht werden kann. (Kalle hat das verstanden, zumindest ahnt er es. Seine Brandstiftung ist insoweit symbolhaft.)

Die surreale Darstellung ermöglicht es Andersson, die Kält dieser Welt in ihrer Konsequenz zu visualisieren. Die Toten fordern ihr Recht – das bedeutet aber auch, dass Kalle als „modernem Erlöser” die Bürde der Verantwortung aufgegeben wird. Die Kirche hat versagt, der Staat hat versagt, die skrupellose Wirtschaft ebenfalls, die Institutionen insgesamt sind Manifestationen des Versagens. Es bleibt der nackte Mensch.

Andersson, der seit 25 Jahren in der Werbebranche tätig ist, ist (nicht nur) für Ingmar Bergman der erfolgreichste und beste Werbefilmer Schwedens. Nach dem Misserfolg mit seinem Film „Giliap” 1974 hatte sich Andersson aus dem Filmgeschäft zurückgezogen. Der Symmetrie seiner Bilder, den akribisch durchmessenen „Stand”-Fotos seines Films ist diese Tätigkeit als Werbefilmer deutlich anzumerken, ohne dass „Songs from the Second Floor” irgend etwas mit Werbung zu tun hätte. Andersson denkt eine Welt zu Ende, die für ihn im Chaos der Bedeutungslosigkeit und der emotionalen Kälte endet (1), in der aber etwas zutiefst Menschliches als „Restposten” bleibt.

An der Stätte des Mülls, an dem die Jesus-Kreuze liegen, deutet sich dies an: Kalle und die Toten, die Nackten, könnten von vorne anfangen. Die Aufmerksamkeit, den Respekt, den sie fordern – und den auch Kalle fordert – eröffnen eine Chance jenseits einer „zivilisierten” Gesellschaft. Phantasie? Utopie? Jedenfalls hat etwas die Kälte der Szenerie ganz am Schluss überdauert. Alles hat seine Zeit – aber erst dann, wenn die Zeit- und Bedeutungslosigkeit dieser chaotischen Szenerie überwunden werden kann.

Ulrich Behrens

(1) Andersson selbst kommentiert seinen Film u.a. folgendermassen: „Eines der Hauptthemen ist die Frage von Respekt und Demütigung. Jesus bracht die gleichen Überlegungen in seiner Bergpredigt zum Ausdruck, die für mich eine grosse Inspirationsquelle darstellte. Die Charaktere im Film verbindet die Tatsache, dass sie alle schwach und verwundbar sind. Jesus Predigt ist ein Ausdruck absoluten Respekts gegenüber dem schwachen und verwundbaren Menschen, der von Mächten verängstigt wird, die ihn demütigen und sein Potential unterdrücken.

Es gibt verschiedene Arten von Demütigungen. Sogar die eigene Erbschaft kann der Grund für eine Demütigung sein. Wir schwimmen alle in dieser Suppe von absurden Werten und absurder Erbschaft. Vielleicht sollten wir beginnen, unsere Verantwortung für die Umstände, die uns hilflos machen, zu akzeptieren. Ich glaube, dass die westliche Lebensart das menschliche Potential hemmt. Wenn Sie 'Songs From The Second Floor' sehen, sollten Sie verstehen wie dumm sich Menschen verhalten. Chaos dringt immer mehr ein, und wird zunehmend real.

So schwierig es auch sein mag, die Probleme unserer Gesellschaft zu porträtieren – geschweige denn zu lösen – hoffe ich dass dieser Film helfen wird, einen Ansatz und eine Referenz für eine Diskussion zu bieten. Das ist der Grund, weshalb ich glaube, dass dieser Film die Art von Qualität erreichen muss, zu der man sich immer hingezogen fühlt, so als ob man einen Van Gogh immer wieder neu sieht oder sich ein Stück von Beethoven immer wieder anhören kann. Auch wenn es ziemlich anmassend klingt, es muss ewige Referenzen auch im Film geben; als ein Regisseur fühle ich mich verantwortlich dafür, mich darum zu bemühen dieses Niveau zu erreichen.”

Songs from the Second Floor

Schweden, Norwegen, Dänemark

2000

-

98 min.

Regie: Roy Andersson

Drehbuch: Roy Andersson

Darsteller: Lars Nordh, Stefan Larsson, Bengt C.W. Carlsson

Produktion: Lisa Alwert

Musik: Benny Andersson

Kamera: Istvan Borbas, Jesper Klevenas, Robert Komarek

Schnitt: Roy Andersson