Rezension zum Kinofilm Chrieg - Ein Film von Simon Jaquemet

Kultur
Ohne Erklärungen oder nennenswerte Entwicklungen zeigt uns der Film „Chrieg“ von dem Schweizer Regisseur Simon Jaquemet, wie sich vier allein gelassene Jugendliche eine eigene Parallelwelt voller Gewalt aufgebaut haben. Das ist manchmal durch den mangelnden Tiefgang etwas unbefriedigend, aber doch ein hypnotisch-verstörender Blick in die traurigen Abgründe.



Simon Jaquemet beim Max-Ophüls-Preis 2015. Foto: Queryzo (CC BY-SA 4.0 cropped)




Wenn es in den Filmen hoch in die Schweizer Berge geht, dann normalerweise um eine Welt der Schönheit zu zeigen, seien es die von den Reichsten besuchten Luxushotels (Ewige Jugend) oder die idyllische Natur (Heidi). Nicht so bei Chrieg. Luxus gibt es hier keinen, keine erlesenen Speisen und Wellnessbereiche. Hier gibt es nicht einmal Internet. Und von einer Idylle ist weit und breit auch nichts zu sehen, das Camp ist von Hässlichkeit und Gewalt geprägt, von Unterdrückung und Demütigung. Aber auch von Verzweiflung und Orientierungslosigkeit.
Wirklich anders als daheim ist das aber auch nicht: Der Umgang in Matteos Familie ist so rau, dass man anfangs nicht einmal genau sagen kann, ob es tatsächlich eine Familie ist. Warum das Verhältnis so zerrüttet ist, das enthält uns Regisseur und Drehbuchautor Simon Jaquemet jedoch vor, er steigt mitten ein in den kalten Alltag. Auch später interessiert sich der Schweizer nur wenig für Hintergründe. Dann und wann versucht er ein wenig, hinter die Fassade des hinzukommenden Jugendlichentrios zu schauen, bleibt dabei aber bei einigen wenigen Schlagworten stehen. Ein bisschen Imigrantendrama hier, ein ehemaliger Sträfling dort, zum Schluss noch ein Mädchen, das irgendwie keins sein will. Und am Ende ist man so schlau wie vorher auch.
Aber das ist auch irgendwie der Punkt an Chrieg: Hier geht es gar nicht darum, ein Psychogramm zu entwickeln oder zu erklären, wie Jugendliche abrutschen können. Jaquemet zeigt lieber direkt die Folgen als eine Art Momentaufnahme und lässt diese für sich wirken. Und über eine mangelnde Wirksamkeit der Bilder braucht sich hier keiner zu beschweren: Erst in ruhigen distanzierten Aufnahmen, später mit einer unruhigen Handkamera festgehalten, zeichnet sich der mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnete Film durch seine unmittelbare Rauheit aus. Geschönt wird hier nichts, weder bei den psychischen noch physischen Gewalt.
Das unterscheidet den Film auch von seinem ukrainischen Kollegen The Tribe, der eine ganz ähnliche, nicht übermässig komplexe Geschichte über Jugendliche zu erzählen hat, die in gemeinschaftlicher Gewalt Halt finden. Dessen Kunstfertigkeit fehlt hier, Chrieg ist deutlich schlichter und naturalistischer. Gleichzeitig haftet dem Werk aber auch etwas Unwirklich-Märchenhaftes an: Das Quartett ist schon lange nicht mehr in der Realität zu Hause, hat sich aus den Trümmern seiner Träume und Hoffnungen ein neues gebaut, ein Paralleluniversum, in dem die von der Gesellschaft vergessenen Jugendlichen jemand sein dürfen.
Das ist manchmal wie ein Faust in die Magengegend, gerade auch während der unmotivierten Gewaltausbrüche, ohne dass dem Zuschauer etwas zum Ausgleich geboten würde. Eine wirkliche Entwicklung gibt es ab einem gewissen Punkt nicht mehr, Chrieg dreht sich konsequent im Abgrundkreis. Das ist manchmal etwas unbefriedigend, aber doch oft genug hypnotisch-verstörend, um Jaquemets Langfilmdebüt in (un)guter Erinnerung zu behalten.
Chrieg
Schweiz
2014
-100 min.
Regie: Simon Jaquemet
Drehbuch: Simon Jaquemet
Darsteller: Benjamin Lutzke, Ste, Ella Rumpf, Sascha Gisler
Produktion: Christian Davi, Thomas Thümena, Christof Neracher
Kamera: Lorenz Merz
Schnitt: Christof Schertenleib
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