Schreie und Flüstern von Ingmar Bergman Gefangenschaften ...

Kultur

„Schreie und Flüstern” zeigt eine Welt der seelischen Gefängnisse, zeigt uns Menschen, die ihr Gefängnis nicht bewusst als solches verstehen können, denen aber angesichts des Todes der Schwester genau diese Wahrheit vor Augen gehalten wird.

Liv Ullmann, 1966.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Liv Ullmann, 1966. Foto: Rigmor Dahl Delphin - Oslo Museum (CC BY-SA 4.0 cropped)

27. März 2022
3
0
8 min.
Drucken
Korrektur
„Alle Schmerzen waren verschwunden.
Die mir liebsten Menschen waren um mich.
Ich konnte hören, wie sie leise sprachen
und lachten. Ich spürte die Gegenwart
ihrer Körper und die Wärme ihrer Hände.
Ich möchte diesen Augenblick für immer
festhalten. Denn das ist das Glück.
Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.
In diesen wenigen Minuten habe ich
das höchste Glück gefunden. Und ich
empfinde eine grosse Dankbarkeit
gegenüber meinem so reichen Leben.”
(Aus Agnes Tagebuch über einen
Spaziergang mit ihren Schwestern und
Anna vor vielen Jahren)

Der Tod ist allgegenwärtig – das Leben auch. Die Natur, sofern wir sie zu Gesicht bekommen, strahlt in ihrer Schönheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod. Die Menschen in ihr und ihrer künstlichen Welt strahlen nicht. In ein kaltes Rot taucht Bergman die Akteure seiner Geschichte, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts spielt. Das Rot – für was mag es stehen? Für den Tod, die Liebe, den Verfall, die Rückbesinnung, das verspielte Leben? Eine Frau stirbt, langsam, aber sicher. Sie schreit vor Schmerzen, immer wieder, bis sie im Schlaf Erleichterung findet, wenn auch nur für eine Weile. Und wieder löst sich das Bild in kaltem Rot auf. Auch die Möbel, einzelne Wände und andere Gegenstände sind rot – so als ob der Tod den Lebenden zu deuten versucht. Aber dieses Rot ist nicht nur der Tod. Es signalisiert, es warnt die Lebenden – wovor?

Während Agnes (Harriet Andersson) vor unerträglichen Schmerzen, die ihr der Krebs verschafft, schreit, herrscht ansonsten Flüstern – ihre beiden Schwestern Karin (Ingrid Thulin) und Maria (Liv Ullmann), die angereist sind, flüstern, auch in sich selbst hinein. Und die vierte Frau, auf die wir treffen, Anna (Kari Sylwan), eine Hausangestellte, die sich um Agnes liebevoll kümmert, schweigt – zumeist, fast immer.

Bergman führt uns vor, wie vier Frauen auf den Tod von Agnes warten, wobei zumindest Karin und Maria eigentlich schon lebende Tote sind. Das Unvermeidliche, das Agnes früher ereilt als das Alter, lässt die Schwestern in kalter Distanz und in erbärmlicher Angst erstarren. Lebende Tote, Bergman inszenierte eine wirkliche „Night of the Living Dead”.

Wir treffen auf Maria, eine vordergründig freundliche, ja man könnte fats meinen liebevolle Frau, verheiratet mit dem stillen Joakim (Henning Moritzen), einem depressiven Mann, einem Hilflosen und Enttäuschten, der bereits einen klaglichen Selbstmordversuch hinter sich hat. Maria trifft im Landhaus von Agnes ihren früheren Geliebten David (Erland Josephson) wieder – und scheint die alte Beziehung auffrischen zu wollen, so, wie sie ständig Beziehungen zu anderen Männern hat. David weist sie schroff zurück. Er verachtet ihre abschätzenden Blicke, den Neid, die Gleichgültigkeit, den Spott und die Ungeduld in ihren Augen und ihrem ganzen Wesen.

Wir treffen auf Karin, die mit einem wesentlich älteren Mann, Fredrik (Georg Årlin), verheiratet ist – eine Scheinehe, eine Lebenslüge, kalt und skrupellos. Karin meidet jegliche Nähe, auch zu ihrer Schwester Maria, straft sich selbst durch masochistische Handlungen (sie verletzt sich mit einer Rasierklinge an der Vagina) – eine verbitterte, verschlossene, aggressive Frau, die nur im Leid Lust empfinden kann.

Und wir treffen auf Anna, die Haushälterin, die sich um Agnes liebevoll kümmert – wie eine Schwester oder Mutter. Nur Anna kennt den Tod, weil sie vor Jahren ihr Kind verloren hat. Nur sie weiss um das Schicksal, das Unvermeidliche, und was noch zu tun ist.

Bergman lässt keinen Zweifel daran, in welch mächtiger Weise die Lebensgeschichten der vier Frauen ihr gesamtes Verhalten zueinander und vor allem gegenüber dem nahenden Tod von Agnes beeinflussen. Dem Verhältnis von Schreien und Flüstern analog ist das von äusserem Schein und innerer Stimme, von Fassade und geballten Gefühlen, die nur durch das herrschende gesellschaftliche Korsett mangelhaft, aber letztlich doch wirkungsvoll im Zaun gehalten werden können. Die versuchte Annäherung an Agnes, an ihren Tod und an den Tod überhaupt misslingt den Schwestern. Die Todesqualität ihres eigenen Lebens wird offenbar – vor allem bei Karin, die sich einen Gefühlspanzer en gros angeeignet, ja im wahrsten Sinn des Wortes umgelegt hat. Die halbherzige und von Angst geprägte Annäherung Marias an Karin weist letztere schroff und kalt zurück. Besonders bei Karin wird bildlich deutlich, wie eng verzahnt Aggression, Angst und grosse seelische Defizite sind. Doch das gleiche gilt in anderer Form auch für Maria, deren verschlagene Art anfangs schwer durchschaubar scheint.

Je näher der Tod von Agnes rückt, die zwischen wachen, erleichternden Momenten und von schweren Schmerzen geprägter Agonie hin und her gerissen wird, desto deutlicher treten bei ihren Schwestern die seelischen Abgründe zutage, die ihr Leben prägen. Entsprechend dem Todeskampf von Agnes wird die Agonie bei Karin und Maria spürbar – ihr Gefangensein in den eigenen seelischen Defiziten, eine Gefangenschaft, die ihnen die strenge Sozialdisziplinierung der bürgerlichen Gesellschaft auferlegt hat, die sie aber andererseits auch verinnerlicht haben.

Anna schreit nicht, flüstert nicht – sie schweigt und handelt. Anna kalkuliert, aber nicht in der den beiden Schwestern eigenen kaltherzigen Art. Anna rechnet mit dem Unausweichlichen und stellt sich darauf ein. Sie tut für Agnes, was noch getan werden kann, und sie tut etwas, was eigentlich Aufgabe von Maria und Karin wäre: Sie wendet sich der sterbenden Frau zu – das, was Agnes immer erhofft hat, wie sie in ihrem Tagebuch schreibt, wenn sie sich an die Jugend und ihre Schwestern erinnert. Bergman zeigt dies in dem wohl bekanntesten Bild des Films, einer Szene, in der die Sterbende auf dem Schoss und in den Armen von Anna liegt und Anna, die ihren Oberkörper entblösst hat, sie zärtlich hält. Diese Szene des Urvertrauens und der reinen Zuwendung – über den Tod hinaus – ist geradezu das Gegenstück zu der teuflischen Sozialdisziplinierung, die Agnes Schwestern zu lebenden Toten gemacht hat.

So wie es aus Agnes herausschreit – das Leben, das nicht vergehen will, aber muss, die Verzweiflung und der Schmerz, so schreit es – könnte man sagen – stumm aus den Seelen ihrer Schwestern, stumm, weil sie nicht in der Lage sind, einem anderen ein wirkliches und ehrliches Gefühl entgegenzubringen – ausser einen aus Selbstverteidigung resultierenden Hass, Distanz und Ablehnung. Die von Bergman einmontierten Rückblenden deuten die Gründe an: Der feige Versager Joakim und der erbärmliche Zyniker Fredrik – Produkte ihrer Umwelt, aber auch Erzeugnisse ihrer selbst in ihrer Unfähigkeit, die Mechanismen der eigenen Zeit und der eigenen Seele zu durchschauen.

Agnes stirbt – und die Angst bei Karin und Maria ist nun offenbar. Die Tote liegt im Bett und ruft ihre Schwestern, die sich ihr angstvoll nähern und ebenso angstvoll vor ihr fliehen. Einzig Anna wendet sich selbst jetzt noch der Toten zu. In diesem Traumbild, das doch so realistisch wirkt, wird die Differenz deutlich: zwischen den beiden lebenden Toten Karin und Maria hier, der wirklichen Toten Agnes, die ihren Tod akzeptiert hat wie ihr Leben, und der liebevollen Anna dort.

Maria und Karin verlassen den Landsitz, auf dem sie mit Agnes ihre Kindheit und Jugend verbracht haben – und sie verlassen diese Stätte des Lebens und des Todes, wie sie ihn betreten hatten: kaltherzig. Anna, die nun entlassen wird, bekommt nicht einmal eine Abfindung für ihre liebevollen Dienste. Maria weist ihren Mann an, Anna ein paar Geldscheine in die Hand zu drücken – eine sozusagen gewissensberuhigende Geste.

„Schreie und Flüstern” zeigt eine Welt der seelischen Gefängnisse, zeigt uns Menschen, die ihr Gefängnis nicht bewusst als solches verstehen können, denen aber angesichts des Todes der Schwester genau diese Wahrheit vor Augen gehalten wird. Die Angst als Schutzmechanismus treibt sie in die Unbewusstheit ihres Lebens zurück, in dem sie ihr eigenes Inneres genausowenig kennen wie die Aussenwelt. Sie kennen nur die ihnen aufgezwungenen Regeln der Disziplinierung, die sie längst als etwas quasi Naturwüchsiges akzeptiert haben.

Ulrich Behrens

Schreie und Flüstern

Schweden

1972

-

90 min.

Regie: Ingmar Bergman

Drehbuch: Ingmar Bergman

Darsteller: Harriet Andersson, Kari Sylwan, Ingrid Thulin

Produktion: Liv Ullmann, Ingrid Thulin, Harriet Andersson, Sven Nykvist

Musik: Frédéric Chopin, Johann Sebastian Bach

Kamera: Sven Nykvist

Schnitt: Siv Lundgren