Quo Vadis, Aida? Verlassen von der Welt
Kultur
„Quo Vadis Aida?“ erzählt sorgfältig, geradezu forensisch, was eine unmenschliche Situation mit Menschen macht. Seine Heldin, eindringlich gespielt von Jasna Ðuriči, ist auch eigentlich keine Heldin.
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17. September 2021
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Den Bürgermeister beruhigt das nicht. „Immer dasselbe“ sagt er. Soldaten und Paramilitärs nähern sich, Panzer rollen an, erste Wohnungen werden gestürmt, Menschen abgeführt oder gleich erschossen – unter ihnen der Bürgermeister. Aidas Familie packt Taschen, flieht aus der Wohnung. Diese verlassene Wohnung erzählt der Film noch ein Weilchen: die tickende Wanduhr, der Esstisch, das Bett. Woanders liegt eine Frau erschossen in einem Hof, ein Braten verschmort im Ofen.
Flüchtlingstrecks auf der Strasse, UN-Fahrzeuge bringen Tausende in eine grosse Stadthalle. Dann ist die Halle voll, und viele weitere Tausend Menschen warten vor dem Schlagbaum, hoffen auf Einlass. Denn wer in der Halle ist, so scheint es, ist gerettet. 25.000, erläutert der UN-Kommandant in seiner Ansprache, für die er jedoch weder Essen noch Trinken noch Toiletten habe. Das alles passiert in den ersten zehn Minuten des Films.
Was nun? Aida, die als UN-Dolmetscherin fungiert, ist bei vielen Besprechungen dabei, die alle nichts bringen. Wenn sie in der Halle ist, ist sie auch nur eine von vielen, die um ihre Familie bangen. Und trotzdem ist sie für viele Ansprechpartnerin. Sie kennen Aida mit Namen, weil sie in einer nahe gelegenen Schule Lehrerin war. „Aida, was ist das hier?“ ruft ihr eine schwangere Frau zu, als sie aus dem UN-Fahrzeug abgeladen wird. Es ist diese Ungläubigkeit, das Entsetzen über das, was hier gerade real passiert. Quo Vadis, Aida? Die titelgebende biblische Frage („Wohin gehst du?“ oder auch grösser gemeint: „Wohin führt das?“) stellt niemand im Film direkt, aber die verzweifelten Rufe der eingekesselten Zivilisten nach der Dolmetscherin als letztem Bezugspunkt durchziehen den Film.
Wie in einem Labyrinth hastet Aida durch den Film. Läuft immerzu von der UN-Vertretung zu den Menschenmengen, vom Schlagbaum ins Büro, eine Zigarette nach der anderen rauchend, mit angespanntem Gesicht, oft begleitet von einer Handkamera, die die Dramatik betont. Das Gesicht, das auf dem Filmplakat zu sehen ist, zeigt sie, wie sie einem Busfahrer in die Augen sieht, der ständig Menschenladungen wegfährt. Wohin? Ertappt, fast schamvoll, fängt er Aidas Blick auf. Das gewisse Verantwortungsgefühl für die Tausenden, die Ahnung des Massenmords und die eigene persönliche Sorge drohen Aida zu zerreissen. Ihre Wünsche werden immer kleiner, ihre Forderungen immer bescheidener.
Die zuweilen persönliche Bekanntschaft von Tätern und Opfern gipfelt in einer Szene kurz vor der Katastrophe: Aida ruft einen jungen serbischen Soldaten in Khaki-Uniform mit Namen an. Er war mal ihr Schüler. Die wahnwitzige Hoffnung, die sie daran knüpft, scheint einen Augenblick auf. Sie fragt nach seiner Mutter, betont unbefangen. Und er fragt, in gefährlicher Jovialität, nach Hamid, ihrem Sohn. Da friert Aidas Lächeln ein und fühlt sie die Bedrohung ganz nah und weiss, dass es nichts nützen wird, einander beim Namen zu kennen.
Die Regisseurin Jasmila Žbanić, die den Film auch geschrieben hat, erzählt das nationale Trauma Bosniens von 1995, den Völkermord an Tausenden muslimischen Männern und Jungen einerseits als individuelles Drama ihrer fiktiven Hauptfigur. Andererseits weitet sie ständig den Blick auf die Umgebung. Immer wieder geht sie in die Totale und zeigt in Riesenaufgeboten von Komparsen, die gekonnt und mit Blick für viele genaue Details inszeniert werden, was da insgesamt passiert.
Zum Beispiel die winzige Episode in der Menge, als ein Jugendlicher weggeführt wird und seine Mutter hinter den Soldaten herläuft und ruft „Gebt mir mein Kind zurück!“ und wie er „Mama“ ruft. Eine andere, lange Einstellung erzählt die Dimension der Morde: viele Beine treten nacheinander auf die Ladefläche eines LKW, allmählich sieht man die Gesichter dazu in einer längeren Kamerafahrt, Männer jeden Alters und ein Junge, alle schieben sich langsam vorwärts, um auf den Laster zu steigen. Die Kamera fährt weiter bis zu einem Bus weiter hinten, in dem die Frauen sitzen.
Keinen Moment lang lässt der Film Zweifel an der Authentizität der Ereignisse. Das beginnt mit der anfänglichen Kennzeichnung von Ort und Datum und hält sich weiter, indem er einige der realen Hauptakteure jener Tage bei ihren echten Namen nennt: den serbischen General Ratko Mladić, der erst im Juni 2021 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, und den damals zuständigen niederländischen UN-Kommandeur Thomas Karreman. Mit entsprechenden Mitteln werden sie auch physisch ihren Vorbildern ähnlich gemacht. Die Regisseurin nutzt Überlieferungen zu diesen beiden Figuren für einige Szenen. So bezieht sie sich wohl auf die Augenzeugenberichte über Mladić, er hätte vor Kameras Süssigkeiten an Kinder verteilt und hinterher Morde befohlen, wenn sie ihn ein kleines Kind in den Arm nehmen lässt, betont herzlich und ruft: Euch wird nichts passieren! Auch die dokumentierte Szene der gemeinsamen Schnapsrunde von Mladić und Karreman kurz vor Beginn des Massakers lässt sie ähnlich einvernehmlich aufleben.
Indem der Film jetzt, nach 26 Jahren, jene Juli-Tage dramatisch vergegenwärtigt, zeigt er: nichts ist vergessen. Nicht das Grinsen von Mladić auf den Pressefotos, nicht die Feigheit Karremans. Die Perspektive des Films ist die Perspektive der Frauen, die ihre Männer, Söhne, Väter, Freunde verloren haben und die viel zu spät Genugtuung über die Verurteilung der Haupttäter Ratko Mladić und Radovan Karadžić in Den Haag bekamen.
Die Trauer ist nie zu Ende und gross immer noch der Zorn über das Versagen der UN-Truppen, die damals 8372 bosnische Männer und Jungen opferten. Gerade der Dynamik dieses Versagens und des kompletten Umschwenkens Thomas Karremans gibt der Film viel Raum. Er betont, dass der Völkermord kein unvermeidliches Schicksal war, sondern dass die UN-Truppen ihr Wort nicht hielten, und dass, als wirklich Gefahr drohte, das Wort „Schutzzone“ jede Bedeutung verlor. Das ist bis heute nicht geahndet worden.
Jasmila Žbanić, Jahrgang 1974, legt nach „Esmas Geheimnis“ (2006), einem intensiven Mutter-Tochter-Drama, hier ihren zweiten Spielfilm zum Thema Bosnien-Krieg vor, der das prägende Erlebnis ihrer Generation war. Und zum zweiten Mal wird sie damit international hoch beachtet.
„Quo Vadis Aida?“ erzählt sorgfältig, geradezu forensisch, was eine unmenschliche Situation mit Menschen macht. Seine Heldin, eindringlich gespielt von Jasna Ðuriči, ist auch eigentlich keine Heldin. Eher eine Antiheldin, die irgendwann vor den zuständigen UN-Leuten verzweifelt auf die Knie fällt. Eine Heldin, die scheitert. Aber vielleicht ist es gerade das, was sie uns besonders nahebringt. -
Quo Vadis, Aida?
Bosnien-Herzegowina, Deutschland, Frankreich
2020
-103 min.
Regie: Jasmila Žbanić
Drehbuch: Jasmila Žbanić
Darsteller: Jasna Đuričić, Izudin Bajrović, Boris Ler
Produktion: Damir Ibrahimovich, Jasmila Žbanić
Musik: Antoni Łazarkiewicz
Kamera: Christine A. Maier
Schnitt: Jarosław Kamiński
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