Poor Things Kunstvoll-morbide Rückkehr eines Ausnahme-Regisseurs

Kultur

„Poor Things“ wurde herbeigesehnt und erfüllte am Ende die Erwartungen auch.

Der griechische Filmregisseur Yorgos Lanthimos bei der Präsentation seines Filmes
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Der griechische Filmregisseur Yorgos Lanthimos bei der Präsentation seines Filmes "Poor Things" in London am 14. Oktober 2023. Foto: Raph_PH (CC-BY 2.0 cropped)

10. April 2024
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Yorgos Lanthimos hat mit seiner Science-Fiction-Komödie ein unterhaltsames, mit Hingabe gespieltes Werk geschaffen, das visuell kunstvoll ist, dabei aber auch einiges zu sagen hat. Schade ist lediglich, dass der bizarre Selbstfindungstrip einer jungen Frau diverse philosophische Themen nicht weiter vertieft.

Die Freude ist gross bei Max McCandles (Ramy Youssef), als er eine Assistentenstelle bei Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) erhält, einem ebenso brillanten wie eigensinnigen Wissenschaftler. Dort trifft er auch auf Bella (Emma Stone), eine junge Frau, mit der eindeutig etwas nicht stimmt, die aber sofort eine grosse Faszination auf Max ausübt. Diese wird umso grösser, als er von ihrem Hintergrund erfährt.

So handelt es sich bei ihr um den Körper von Victoria Blessington, die sich zuvor das Leben genommen hat. Das Gehirn stammte hingegen von dem ungeborenen Kind von Victoria, das Baxter in den Körper der Mutter eingesetzt hat. Während Max zunehmend Gefühle für Bella entwickelt und sie später einmal heiraten möchte, wächst in dieser ein Freiheitsdrang. Und so läuft sie mit dem Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) davon, fest entschlossen, die grosse weite Welt kennenzulernen …

Kunstvoll-morbide Rückkehr eines Ausnahme-Regisseurs

Yorgos Lanthimos ist einer dieser Regisseure, bei denen man schon im Vorfeld weiss, dass sein nächster Film etwas Besonderes sein wird, und die deshalb immer sehnsüchtig erwartete werden. Dieses Mal hat es jedoch richtig lang gedauert, bis der Grieche, der seinerzeit mit Dogtooth für Aufruhr sorgte, sich wieder zurückmeldet. Genaugenommen lagen fünf Jahre zwischen The Favourite – Intrigen und Irrsinn und Poor Things, dem achten Langfilm des Filmemachers. Dabei ist das neue Werk die konsequente Fortsetzung seiner umjubelten Historiengroteske, die 2019 immerhin für neun Oscars im Rennen war. Gleichzeitig bedeutet es eine Rückkehr zu seinen früheren Werken, die noch deutlich surrealer waren als der Film, mit dem er endgültig den internationalen Durchbruch schaffte.

So nimmt uns Lanthimos mit in das London des 19. Jahrhunderts. Anstatt dieses aber realistisch zu beschreiben, wie es noch bei der Romanvorlage von Alasdair Gray der Fall war, verwandelt er es in seiner Adaption in eine Steampunk-Variante. Und weil das alles noch zu normal wäre, ist Poor Things geprägt von visuellen Spielereien, sei es im Hinblick auf Perspektiven oder die Farbgebung. Das sieht alles sehr künstlich aus, soll es aber auch. Der Film ähnelt den kunstvoll-theaterhaften Wunderwerken eines Wes Anderson (Asteroid City), nur dass dies hier deutlich morbider ist. Das passt auch zu der Frankenstein-Thematik, wenn der mindestens exzentrische Wissenschaftler munter Körper miteinander kreuzt und dabei Gott spielt.

Sex als Waffe

Der Unterschied: Wo die künstliche Kreatur bei Mary Shelley für Angst und Schrecken sorgte, da ist Bella sehr begehrt. Kein Wunder, handelt es sich doch um eine attraktive junge Frau. Dass sie zunächst sehr kindlich wirkt, man anfangs sogar meint, sie sei geistig zurückgeblieben, hat keinen nennenswerten Einfluss auf die Attraktivität. Vielleicht findet dies sogar Gefallen bei den Männern, die sie auf diese Weise besser zu Objekten reduzieren können. Poor Things handelt dann auch massgeblich davon, wie eine Frau sich in einer von Männern dominierten Welt durchsetzt. Und das tut sie, indem sie deren Waffen einfach gegen sie selbst richtet. Dagegen sind sie letztendlich machtlos, wie das Beispiel Wedderburn zeigt, der ihren Reizen erliegt. Aus dem welterfahrenen Womanizer wird so ein jämmerliches Etwas.

Das ist von Mark Ruffalo sehr unterhaltsam gespielt. So wie sich alle in dem Ensemble auf ihre oft überzeichneten Rollen einlassen. Was etwas schade ist: Das Thema der Identität, welches sich durch die sonderbare Operation geradezu aufdrängt, wird kaum behandelt. Auch an anderen Stellen schneidet Poor Things Philosophisches an, ohne es weiter zu vertiefen, obwohl die Laufzeit von zwei Stunden eigentlich den Raum geboten hätte. Das Ganze sieht aber so grossartig aus und hat derart viele kuriose bis bizarre Einfälle auf Lager, dass man auch so mehr als genug beschäftigt ist. Bei der Weltpremiere in Venedig lag das Publikum zu Füssen, am Ende gab es den Goldenen Löwen. Und auch in der gerade gestarteten Award Season wird diese eigenwillige Science-Fiction-Komödie sicherlich ganz weit oben mitspielen.

Peter Gutting
film-rezensionen.de

Poor Things

Irland

2023

-

141 min.

Regie: Yorgos Lanthimos

Drehbuch: Tony McNamara

Darsteller: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe

Produktion: Ed Guiney, Yorgos Lanthimos

Musik: Jerskin Fendrix

Kamera: Robbie Ryan

Schnitt: Yorgos Mavropsaridis

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 4.0) Lizenz.