Mein Bruder, der Vampir Film is bigger than life

Kultur

„Mein Bruder, der Vampir“ ist eine schrille Tragikomödie mit der Betonung auf Komödie, die leider nur sehr wenige Zuschauer erreichte.

Der deutsche Schauspieler Roman Knižka (hier im Januar 2013 in Stockholm)  spielt in dem Film die Rolle von Josch Klauser.
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Der deutsche Schauspieler Roman Knižka (hier im Januar 2013 in Stockholm) spielt in dem Film die Rolle von Josch Klauser. Foto: Frankie Fouganthin (CC-BY-NC-SA 3.0 unported - cropped)

20. Februar 2023
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Die deutsche Filmszene zeichnet sich Anfang des 20. Jahrhunderts durch einige gute bis sehr überzeugende Filme aus, die man mit dem Begriff „Jugenddrama“ nur unzureichend umschreiben kann. Dazu gehören „Fickende Fische“ und „Herz im Kopf“. Dazu gesellte sich Sven Taddickens Spielfilmdebüt über drei Geschwister, in denen Roman Knižka (zuletzt gerade in dem wenig überzeugenden „Vienna“ von Peter Gersina zu sehen) einen knapp 30jährigen Mann spielt, den man gemeinhin als „Behinderten“ bezeichnet. Es geht um Liebe, Sex, Verantwortung, Umgang mit den eigenen Gefühlen, Pubertät. „Mein Bruder, der Vampir“ ist eine Komödie, aber was für eine.

Drei Geschwister: Nic (Marie Luise Schramm), 14, Zahnspange, etwas mollig, befindet sich im Wartestand – sie ist völlig konzentriert auf ihre erste grosse Liebe, das erste Mal, den ersten Sex. Darauf sind all ihre Pläne und Handlungen ausgerichtet. Ihr Bruder Mike (Hinnerk Schönemann), 25, ist ihr dabei nur im Weg, denn er spielt sich als Ersatzvater der Familie auf; Mutter Marlis (Barbara Stoll) hat sich längst in ihre eigene Welt zurückgezogen. Mike ist gerade dabei, seine Beziehung zur 22jährigen Nadine (Julia Jentsch) auf die Reihe zu bringen. So richtig funktioniert das jedoch nicht. Und im übrigen stört ihn sein Bruder Josch (Roman Knižka) dabei. Der lebt ebenfalls in einer eigenen Welt. Als „Herr der Finsternis“, mit Vampirumhang und -zähnen ausgerüstet, freut er sich nicht nur auf seinen 30. Geburtstag, der demnächst ansteht. Er hat sich zudem in Nadine verliebt. Sein sehnlichster Geburtstagswunsch: Mit Nadine „bumsvögeln“.

Da Josch aufgrund seines Zustandes unbekümmert sagt, was er denkt und empfindet, lässt er auch gegenüber Mike nicht locker. Es ist ihm egal, ob der mit Nadine befreundet ist. Nic ist mit Josch auf das Dach des kleinen Reihenhauses geklettert und zeigt ihrem „Vampir“-Bruder, was „Bumsvögeln“ ist. Durch das Dachfenster beobachten beide heimlich Mike und Nadine beim Sex. Dieser Sex gestaltet sich allerdings nicht gerade so, wie Nic sich das für sich selbst für's erste Mal vorstellt. Mike ist ihrer Meinung nach „zu schnell“ und geht zu wenig auf die Bedürfnisse von Nadine ein.

Mike versucht nun alles, um Josch von seinem Wunsch, mit Nadine zu schlafen, abzubringen. Er zeigt ihm, wie man onaniert, besorgt ihm entsprechende Pornoheftchen, ja, er führt ihn sogar zu einer Prostituierten. Alles umsonst. Josch will Nadine.

Inzwischen hat Nic das Objekt ihrer ersten Begierde gefunden: den Möchtegern-Corleone Manu (Alexander Scheer), der mit ein paar anderen Jugendlichen Mafia spielt und Schüler ausnimmt. Nic setzt alles daran und trifft entsprechende Vorbereitungen, um Manu in die Finger, sprich ins Bett zu bekommen. Aber auch dieses „Projekt“ scheint nicht zu glücken.

Mike hat inzwischen erheblichen Ärger mit Nicole. Die kann nicht verstehen, wie er mit Josch umspringt. Warum sollte sie im übrigen nicht Joschs sehnlichsten Wunsch erfüllen? Es wäre ein Geburtstagsgeschenk und nicht der Anfang einer Beziehung. Aber es kommt letztendlich alles ganz anders, als die drei Geschwister es sich vorstellten ...

„Mein Bruder, der Vampir“ ist in fast jeder Hinsicht ein aussergewöhnliches Projekt. Der Film ist skurril, von einem untergründigen Humor, bizarr und wartet mit einer „Lösung des Falls“ auf, die manchen vielleicht erschrecken wird. Ohne davon etwas zu verraten, liegt diese Lösung jedoch sehr nahe.

Taddicken und seinem Drehbuchautor Matthias Pacht gelang eine Art Tragikomödie der besonderen Art. Die drei Geschwister werden – auf sehr unterschiedliche Art – in ihrem Egoismus gezeigt. In diesem Egoismus sind sie skrupellos. Nic will auf Teufel komm raus und gegen alle Widerstände und Gefühle anderer ihren ersten Sex. Josch will Nadine, Mike interessiert ihn in diesem Zusammenhang nicht die Bohne. Mike lässt nichts unversucht, Josch davon abzuhalten und verschaukelt seinen Bruder nach Strich und Faden. Aber trotz alledem: Alle drei lieben sich, man könnte fast sagen: unendlich. Diese Entwicklung der drei Geschwister zwischen Egoismus und familiärem Altruismus wird nicht durch irgendwelche TV-gewohnten Dialoge oder Bilder dokumentiert, sondern ergibt sich aus der Handlung selbst und wirkt deshalb – trotz oder gerade wegen der Skurrilität des Films – überzeugend und realistisch.

Josch ist ein Mensch, der gemeinhin als „geistig zurückgeblieben“ bezeichnet wird. Er gehört einer Gruppe von „Behinderten“ an und sortiert Werkzeugteile in Kisten. Taddicken und Pacht (letzterer hat selbst einen Bruder mit Down-Syndrom; seine Erfahrungen flossen in das Drehbuch ein) machen diese Tatsache jedoch nicht zu einem besonderen, einzeln zu behandelnden, abgeschotteten Problem, sondern beziehen die Person Josch gleichwertig in die Handlung und in die Konflikte ein. Josch ist so und so wie seine Geschwister so und so sind. Fertig. Josch ist nicht ein Mensch, dem eine „besondere Behandlung“ durch „die Normalen“ zukommen muss. Josch ist ein Mensch, bei dem Gedanken und Gefühle nicht durch ein ausgeprägtes Über-Ich „gefiltert“ werden, sondern schnurgerade und ohne Schnörkel ihren Weg suchen. Diese extreme „Ehrlichkeit“ führt natürlich zu Konflikten.

Roman Knižka spielt diesen Burschen exzellent, und zwar so, dass die Figur dem Beobachter des Geschehens sowohl ans Herz wachsen kann, als auch Distanz zu ihm in einigen Szenen möglich ist. Dieses Wechselspiel ist dramaturgisch so gut umgesetzt, dass Josch eben als „Normaler“ unter „Normalen“ oder eben als „Behinderter“ unter anderen „Behinderten“ erscheint – wie man es will. Nicht nur er ist ein „Sonderling“, Mike und Nic haben auch so ihre Absonderlichkeiten.

Mike liebt Nadine. Aber er hat erhebliche Probleme, sie „richtig“ zu lieben. Er weicht vor seinen eigenen Gefühlen zurück, versucht sie zu kontrollieren, ist also in gewissem Sinn das extreme Gegenstück zu Josch. Hinnerk Schönemann glänzt in dieser Rolle, auch in bezug auf seine Ersatzvater-Rolle, in der er nach und nach lernt, Egoismus und Verantwortung für seine Geschwister in ein rechtes Verhältnis zu bringen – alles (Gott oder wem auch immer sei Dank) ohne die Spur pädagogischer Zeigefinger: das zeichnet den gesamten Film aus.

Nic ist eine pubertierende Göre, die sich auf ihren ersten Sex wie auf eine Prüfung vorbereitet. Sie kauft alle nötigen (oder auch unnötigen) Utensilien, um für das erste Mal gewappnet zu sein, geht auf Nummer sicher – und scheitert kläglich. Josch erzählt sie von ihren Theorien über Sex und von den Problemen des ersten Mals. Hinter ihrer Digitalkamera versteckt sie sich und ihre Gefühle und behandelt das „erste Mal“ als vernunftgesteuerte, zu planende Angelegenheit. Marie Luise Schramm (Jg. 1984) war in etlichen TV-Serien zu sehen (u.a. „Praxis Bülowbogen“, „Traumschiff“, „Unser Charly“). In „Mein Bruder, der Vampir“ beweist sie, dass sie bisher völlig unterfordert wurde.

Alle drei Hauptdarsteller sind grandios, spielen derart natürlich und ungezwungen, dass es eine Freude ist. Roman Knižka, der von seiner Begabung in der Rolle als Ludwig in „Vienna“ nur wenig ausspielen konnte, ist ein köstlicher „Herr der Finsternis.“

Ulrich Behrens

Mein Bruder der Vampir

Deutschland

2001

-

94 min.

Regie: Sven Taddicken

Drehbuch: Matthias Pacht

Darsteller: Roman Knižka, Hinnerk Schönemann, Marie-Luise Schramm

Produktion: Christian Hünemörder, Michael Jungfleisch

Musik: Putte

Kamera: Daniela Knapp

Schnitt: Jens Klüber