Rezension zum Film von Ildiko Enyedi Körper und Seele

Kultur

Der Film beginnt in grosser Stille, in einem Wald. Dort leben eine zierliche Hirschkuh und ein kapitaler Hirsch zusammen, ein Pärchen, sie horchen, trinken, laufen, ungestört und frei, Hufe kratzen, Blätter rauschen.

Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi bei der Pressekonferenz zu Körper und Seele (On Body and Soul) an der Berlinale 2017.
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Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi bei der Pressekonferenz zu Körper und Seele (On Body and Soul) an der Berlinale 2017. Foto: Maximilian Bühn (CC BY-SA 4.0 cropped)

9. Oktober 2017
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5 min.
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Ohne Eile ist der Film bei ihnen, beinahe bekommt man Angst, dass ein Schuss den Frieden zerreisst, es ist zu schön. Aber nichts dergleichen. Dass das ein Traum ist, den nachts zwei Menschen träumen, erfährt man erst viel später.

Zunächst erst mal ein Ortswechsel, wie er kontrastierender nicht sein kann: ein Schlachtbetrieb in einer ungarischen Stadt, hinter Gattern stehen die Rinder und warten auf den Tod. Ihre Gesichter werden halb nah gefilmt, wie bei Menschen, ihre Augen blicken ruhig. Eine subjektive Kamera nimmt ihre Perspektive ein, durchs Fenster erspähen die Rinder die Arbeiter, die redend und rauchend auf dem Hof Pause machen. Später fällt ein totes Rind aus der Tötungsanlage, überall Blut auf gefliestem Boden, Abflussvorrichtungen, Wasserschläuche. Dann wird ein Tier vor laufender Kamera zerteilt, in Kniescheibe, Entrecote, Rumpsteak. Was für ein Schreck. Das fleischessende Publikum wird unvermutet an sein schlechtes Gewissen erinnert, und das vegetarische an seinen Verzicht. Der Schlachthof als Teil unserer Wirklichkeit wird verdrängt aus unserem Bewusstsein. Genau dahin geht der Film.

In eben diesem Schlachthof arbeiten der kurz vor der Rente stehende Endre und die viel jüngere Maria. Die erste Zeit interessieren sie sich nicht besonders füreinander, laufen sich nur ab und zu über den Weg. Sie fürchtet jede Art von körperlicher Berührung, er hat einen gelähmten Arm. Woher diese Beschädigungen bei beiden kommen, wird nicht erzählt, braucht es auch nicht. Maria und Endre haben keine Vergangenheit, nur die Gegenwart: ihren Alltag im Betrieb, wo sie leitende Stellungen haben; sie als Qualitätskontrolleurin, er als Finanzchef – und die Realität ihrer Wohnungen, in denen niemand auf sie wartet, wo sie sich aber sicher fühlen können vor weiteren Verletzungen.

Um den Schutzpanzer ihrer Figuren zu durchbrechen, erfindet die Autorin Enyedi, dass beide in der Nacht immer denselben Traum träumen, ein verwegener poetischer Trick: Maria ist nämlich die Hirschkuh und Endre nämlich der Hirsch in eben jenem Wald, die am Anfang und dann immer wieder zwischendurch zu sehen sind. Seit sie das erfahren haben, gehen sie aufeinander zu, zögerlich, auf Umwegen. Endre versucht noch, das Ganze als freundschaftliches Interesse abzutun, er sagt, er hätte viele Frauen gehabt, „vielleicht ein paar zu viele“, und er sei raus aus dem Spiel. Maria übt einsam zu Hause Gespräche mit Endre. Lang ist ihr Weg zueinander – und der Ausgang ungewiss.

Dieser Plot allein zeichnet den Film noch nicht aus, vielmehr ist es seine starke visuelle und auditive Sprache, zu der die Handlung nur Beiwerk ist. Es ist der Eindruck von den Schatten in einem Wohnzimmer, wenn das Licht ausgeschaltet wird, es ist das Pendeln der Tür zur Kantine, wenn jemand hindurch gegangen ist, es ist die mehrfache Spiegelung eines Gesichts in einer Glastür, es ist das still an der Wand lehnende Schneidwerkzeug im nächtlichen Schlachtraum, es sind die morgendlichen Geräusche einer Stadt, die zu einem allein daliegenden Menschen in seinem Bett dringen, es sind Marias Hände an den Playmobil-Figuren, es ist der lautlos fallende Schnee im Wald, es sind die Bewegungen eines gefangenen Rindes und seine dunklen gefassten Augen.

Es ist die Scherbe, die auf dem Badewannenrand liegt, und es ist das Klingeln eines Telefons, das die Stille eines Zimmers glücklich zerreisst.

Die dunklen Augen der todgeweihten Rinder sind dieselben Augen, die Maria und Endre haben, wenn sie sich als Alter-Ego-Tiere in ihrem Traumwald tummeln. Eine Art Seelenwanderung zwischen Schlachtern und Schlachttieren, zwischen Mensch und Tier? Ein Fluchtort für die entfremdete Psyche der Moderne? Eine Schönheit, die es in der Realität nicht gibt?

„Körper und Seele“ begibt sich in ein komplexes Erzählgeflecht aus Gleichnis, Dokumentation, Lovestory, Science Fiction, Krimi, Komödie und gerade noch verhinderter Tragödie.

Und warum ein Schlachthof als Handlungsort? Der Schlachthof ist nicht nur fiktionaler Arbeitsort der Figuren, sondern auch knallharte Realität. Der Film hat eine bestimmte, ungewöhnliche Haltung zum Schlachten. Auf osteuropäische Weise ungeschönt, direkt, nüchtern, ohne Polemik oder Pathos, zeigt er das Warten der Tiere, das Töten und das Zerteilen – und die Menschen, die diese Arbeit machen. Die Kamera sieht einem Rind direkt in die Augen, kurz bevor es getötet wird. Ildiko Enyedi hält an der Stelle drauf, wo andere wegschneiden. Es ist wie es ist, sagt der Film. Tiere kamen in dem Film zu Schaden, steht ausdrücklich am Ende des Abspanns, in bewusster Abwandlung der üblichen Erklärung. Der dialektische Witz von Brecht: „Ich bestelle ein Steak, und der Unmensch von Schlachter tötet ein Rind.“ findet sich hier wieder. Der Jury der vorigen Berlinale hat der Film gefallen, sie gab ihm den Goldenen Bären.

Ob die Liebe am Ende die Figuren erlöst, bleibt offen – und der jeweiligen Lesart überlassen. Und während des Abspanns läuft dann zum Glück doch noch vollständig das Lied „What He Wrote“ von Laura Marling, das im Film Marias kaputter Player unterbrach.

Angelika Nguyen
telegraph.cc

Körper und Seele

Ungarn

2017

-

116 min.

Regie: Ildiko Enyedi

Drehbuch: Ildiko Enyedi

Darsteller: Alexandra Borbély, Géza Morcsányi, Réka Tenki

Produktion: Monika Mécs, András Muhi, Ernő Mesterházy

Musik: Ádám Balázs

Kamera: Máté Herbai

Schnitt: Károly Szalai

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.