Rezension zum Film von Ken Loach Kes - ungeheure emotionale Ausdruckskraft
Kultur
Kenneth Loachs mit dokumentarischer Ehrlichkeit gefilmtes Drama Kes versinnbildlicht soziale Ungerechtigkeiten in der Beziehung zwischen einem Jungen und einem Falken.


Ken Loach am 15. Oktober 2004 in London. Foto: Bryce Edwards (CC BY 2.0 cropped)
Kes ist eine Verfilmung des Romans A Kestrel for a Knave aus der Feder des britischen Schriftstellers und Lehrers Barry Hines‘. Der Titel des Romans beruht wiederum auf einem mittelalterlichen Gedicht aus England, in dem es heisst, dass Knappen am Hofe ausschliesslich Falken (und im Gegensatz zu Königen keine Adler) halten dürfen.
Kenneth Loach, der zusammen mit Barry Hines und Tony Garnett das Drehbuch verfasste, versucht, Kes ein Höchstmass an Authentizität zu verleihen, indem er (fast) ausschliesslich Laiendarsteller, die allesamt einen nur schwer verständlichen Yorkshire- Dialekt sprechen, engagierte, an Originalschauplätzen – völlig alltäglichen Orten – drehte, und auf künstliche Beleuchtung und andere filmtechnische Raffinessen vollends verzichtete. Mit dieser Vorgehensweise knüpft der Regisseur an den italienischen Neorealismus und die tschechische New Wave an, doch darüber hinaus schuf er mit Kes gewissermassen den Inbegriff des poetisch- realistischen Arbeiterkinos.
Obwohl sich Loach bemüht, die „(…) real, real reality“ (Troy Kennedy Martins) abzubilden, und aus diesem Grund zuweilen Nebensächliches hauptsächlich macht, ist Kes in künstlerischer Hinsicht ein ausgesprochen reifer und wohldurchdachter Film: die Dualität von Oben, d.h. die Sehnsucht nach Freiheit und Würde, und Unten, d.h. die Hoffnungslosigkeit durch die Monotonie des tristen Alltagslebens, erhebt Loach zum inszenatorischen Merkmal seines Werkes; Billy liebt es zu klettern, nach oben zu streben, wohingegen sein gebrochener Bruder Jud alltäglich zur Arbeit in die Kohlestollen herunterfährt. Billys Falke erfüllt – allegorisch betrachtet – insoweit die Funktion eines „Mittlers“ zwischen jenen beiden Daseinsformen, Zuversicht und Resignation. In diesem Zusammenhang verdient auch das Ende des Films eine genauere Betrachtung: (SPOILER!) Indem Billy den von Jud ermordeten Falken beerdigt, ihn nach unten in die Erde bettet, begräbt er zugleich seine eigenen Hoffnungen. (SPOILER ENDE)
Doch auch auf visueller Ebene verleiht Kameramann Chris Menges der Diskrepanz von hell und dunkel symbolischen Gehalt, da das Geschehen in der Stadt und in der Schule in düsteren Brauntönen, die an die Omnipräsenz der Industrieschlote gemahnen, gefilmt ist, während Billys Ausflüge in die Natur in strahlendem Grün erscheinen. John Camerons dezent anklingender Score ergänzt das Gezeigte, indem er etwa die Auftritte des grobschlächtigen Sportlehrers, der den untalentierten Fussballer Billy regelrecht schikaniert, mit tumber Marschmusik kommentiert oder Billys Eskapismus in den nahe der Stadt gelegenen Wald mit harmonischen Flöten- Klängen begleitet.
Doch trotz dieser gestalterischen Konsequenz ist anzumerken, dass der Film zu keinem Zeitpunkt stilistisch, geschweige denn dramatisch überhöht wirkt – und gerade darin besteht die ungeheure emotionale Ausdruckskraft von Kes.
Kes
England
1969
-106 min.
Regie: Ken Loach
Drehbuch: Ken Loach, Barry Hines, Tony Garnett
Darsteller: David Bradley, Lynne Perrie, Freddie Fletcher
Produktion: Tony Garnett
Musik: John Cameron
Kamera: Chris Menges
Schnitt: Roy Watts
Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 3.0) Lizenz.
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